11.10.15

The Tribe

Ukraine, Niederlande 2014 (Plemya) Regie: Miroslav Slaboshpitsky mit Grigoriy Fesenko, Yana Novikova, Rosa Babiy 132 Min. FSK ab 16

Der Debütfilm des ukrainischen Regisseurs Miroslav Slaboshpitsky ist inhaltlich schockierend und stilistisch meisterhaft: In einem Internat für Taubstumme wird der Neuzugang Sergej schnell in die kriminelle Gang aufgenommen, die alles kontrolliert und auch Mitschülerinnen prostituiert.

Aus der Ferne registriert die Kamera eine schwierige Wegbeschreibung an einer befahrenen Straße mit ausgeschlachtetem Auto hinter einer Bushaltestelle. Genauso so heruntergekommen sieht die Schule aus, auf welcher der suchende Junge mit Rucksack und Koffer landet. Sergej (Grigoriy Fesenko) ist ein Neuzugang im Internat für Taubstumme, um den man keine Angst zu haben braucht. So wie er sich im brutalen Schulhofkampf gegen drei andere durchsetzt, verdient er sich direkt Respekt und wird direkt in eine geschmiert laufende Verbrecher-Organisation aufgenommen: Schmuggel, Diebstahl in den regionalen Zügen und auch Prostitution stehen hier auf dem Stundenplan. Dabei ähneln die kargen Räume eher Gefängniszellen als Internats-Zimmern. Trotz der Anzüge der Schüler eine raue Umgebung, in der das Lehrpersonal kaum zu sehen ist.

Das ist in der nüchternen Darstellung packend befremdlich, bis die Schraube von Härte und Gewalt das erste Mal anzieht. Schockierend, wie locker und selbstverständlich sich zwei Mädchen umziehen, um auf einem LKW-Parkplatz auf den Strich zu gehen. Dann prügeln die Jungs jemanden fast tot, um an dessen Einkaufstüten zu kommen und danach auf einem nächtlich verlassenen Kinderspielplatz zu saufen. Sergej betätigt sich bald auch als Zuhälter. Mit dem Problem, dass er sich in eines der Mädchen verliebt. Die Situation eskaliert, als die Mädchen nach Italien vermittelt werden sollen...

„The Tribe" ist inhaltlich und formal ein sensationeller Film. Nicht nur „Uhrwerk Orange" ohne reine Farben oder Chance auf Besserung. Nicht nur vergleichbar mit großen Werken von Haneke und Kieslowski. Das harte Jugend-Drama verläuft komplett in ukrainischer Zeichensprache, ohne Voice Over, ohne Untertitel. Was erstaunlicherweise keine Behinderung ist, es steigert die schon äußerst gespannte Aufmerksamkeit und schärft die Konzentration auf exquisite Filmkunst. Das Schweigen verstärkt zudem die Körperlichkeit der jungen Protagonisten, die unheimlich präsent von gehörlosen Laien gespielt wurden.

Immer wieder wechseln sich fast starre Einstellungen mit intensiven Steady Cam-Szenen ab. Dabei entstehen atemberaubende handwerkliche Leckerbissen. Nie jedoch ist der Stil ein Selbstzweck, er verbindet sich mit der selbstverständlichen Brutalität, der unmenschlichen, sinnlosen Härte im Osten Europas, bei der einem oft die Sprache wegbleibt. Die Abtreibung einer der prostituierten Schülerinnen bei einer Engelmacherin wird quälend in kompletter Länge gezeigt. Und auch das Finale werden viele als unerträglich hart beschreiben. Da drängt sich wieder der Vergleich zu Hanekes „Funny Games" auf. Dazu herrscht eine schmutzige, herbstliche Farbgebung vor, die zusätzlich zur Kälte vom frühen Haneke an Kieslowski erinnert. Alles in allem eine packende und souveräne Bildästhetik einer heftigen, aber glaubhaft inszenierten Geschichte. Ein Spielfilm-Debüt, das begeistern muss. „The Tribe" erhielt 2014 drei Auszeichnungen der Semaine de la Critique in Cannes und den Europäischen Filmpreis als „Europäische Entdeckung 2014".