11.6.12

Alpen

Griechenland 2011 (Alpis) Regie: Yorgos Lanthimos mit Aggeliki Papoulia, Aris Servetalis, Johnny Vekris, Ariane Labed 93 Min.

Ein rätselhafter und ungemein starker Auftakt: Die Turnerin absolviert zu Orffs Carmina Burana eindrucksvoll ihre Kür mit dem Band. Das Gespräch mit dem lange außerhalb des Bildes bleibendem Trainer dreht sich um den Wunsch der jungen Sportlerin, „mal Pop zu machen". Bis der ältere Mann den Dialog mit einer erschreckend brutalen Drohung beendet.

Jetzt erwartet man klassisch eine Vertiefung dieser ungleichen Beziehung, etwas Lebensgeschichte von beiden Beteiligten. Doch ein harter Cut in einen Krankenwagen führt zu einer neuen, nicht auf Anhieb verständlichen Szene: Eine Krankenschwester bespricht mit einem Rettungssanitäter den kritischen Zustand der Patienten. Kritisch, oder besser noch tot, scheint gut zu sein. Dann spricht die Krankenschwester den Eltern einer verstorbenen Tennisspielerin Trost zu, um sanft ein unglaubliches Angebot zu machen: Sie würde gerne stundenweise den Platz der Toten einnehmen und so den Schmerz der Angehörigen zu lindern.

Das also wäre verkürzt der Plot von „Alpen", Yorgos Lanthimos' Nachfolger seines artverwandten „Dogtooth": Eine Krankenschwester, ein Rettungssanitäter, eine Turnerin und ihr Trainer nehmen gegen Bezahlung die Rollen von Verstorbenen ein. Im Seitenraum einer Turnhalle befindet sich diese Agentur für persönliche Ersatzmenschen und in einer der vielen skurillen Szenen breitet der Rettungssanitäter, der den Anführer gibt, seine großartige Idee aus, sich als Decknamen Alpengipfel auszuwählen. So weit, so faszinierend absurd. Doch richtig schräg sind erst die Einsätze der Truppe. Nach strengen Übungen und Anweisungen, die von Freunden, Kollegen oder Angehörigen der Toten geliefert werden, vollziehen sich bei einer blinden Frau, bei den trauernden Eltern und dem verlassenen Lampenverkäufer Szenen schlimmsten Laientheaters. Die Peinlichkeit dieser Momente schwankt zwischen Fremdschämen und Mitleiden an der Einsamkeit, die schreckliche Formen annimmt.

Die strengen Regeln der „Alpen" verlangen dabei, dass es keine emotionalen Bindungen oder intime Kontakte mit den Hinterbliebenen gibt. Die Krankenschwester hält sich jedoch nicht daran. Will sie etwas hinzuverdienen? Überhaupt entwickelt die Monte Rosa genannte in all diesen, eigentlich tieftraurigen Handlungen eine eigene Tragik. Zu alt für die Teenager-Rolle, die Klamotten, das Jugendzimmer und den hinzu geladenen Freund, kann sie die Eltern doch zu Tränen rühren. Und da ist noch diese andere Rolle mit einem Vater, oder ist es wirklich ihrer? Um sie zur Zufriedenheit zu spielen, engagiert sie wiederum einen Freund, mit dem sie eine erste Liebe inszeniert.

Als ihre Nebenjobs herauskommen, reagiert Boss Mont Blanc extrem brutal, wie er auch schon vorher Fehler abstrafte. „Alpen" zeigt sich hier formal als Gangstergeschichte mit ganz ungewöhnlichen Verbrecher-Typen und verquerer „Kriminalität". Mittels dieses sehr seltsamen aber auch äußerst reizvollen Ansatzes lotet der Grieche Yorgos Lanthimos zwischenmenschliche Beziehungen aus. Er beschäftigt sich mit vereinsamten Individuen, die eher statische Kameraarbeit konzentriert sich auf das Zwischenmenschliche, das nur in Form von Surrogaten vorhanden ist. Viele bizarre Situationen des zwischen Gangster-Geschichte und schwarzer Komödie angesiedelten Films zwingen zum Nachdenken über das Abwesende. Ein außergewöhnliches und sehr sehenswertes Werk des neuen europäischen Kinos, das in Venedig mehr als den Drehbuch-Trostpreis verdient hätte.