31.1.18

Der seidene Faden

USA 2017 (Phantom Thread) Regie: Paul Thomas Anderson mit Daniel Day-Lewis, Lesley Manville, Vicky Krieps 131 Min. FSK: ab 6

Zwei geniale Künstler, die sich rar machen, spinnen an einer ungewöhnlichen Geschichte: Daniel Day-Lewis will sich nach dieser Rolle gar von der Schauspielerei zurückziehen. Und „The Master" Paul Thomas Anderson („There Will Be Blood", „Punch-Drunk Love") lässt sich immer ein paar Jahre Zeit zwischen seinen Meisterwerken. In dem Kunststück „Der seidene Faden" führen beide einen edlen, selbstverliebten Modemacher vor, den die Liebe zu einer einfachen Kellnerin komplett umstülpt.

Reynolds Woodcock (Daniel Day-Lewis) ist ein berühmter und begehrter Mode-und Schneiderkünstler im London der 50er-Jahre. In seinen Kleidern fühlen sie sich vollkommen, die Frauen der Königshäuser und der High Society. „Vielleicht gibt es niemanden, der mehr fordert", sagt seine Schwester Cyril (Lesley Manville) über ihn. Und er fordert auch von sich selbst, wie man bei der Morgentoilette und dem Ankleiden erkennt. Hoch zur Sonne, ins Licht kommen seine Näherinnen und die Kundinnen beim Eintritt in Atelier und Wohnung. Die Schwester verwaltet dort Gefühle und Beziehungen. Gerade hat sie die langweilig gewordene Frau rauskomplimentiert und der Künstler fühlt sich etwas komisch. Da hilft eine neue, junge Frau beim Kurzurlaub an der Küste. Dass Alma (Vicky Krieps) als Bedienung arbeitet, ist perfekte Voraussetzung. Beim ersten Date modelliert er sie um, Woodcocks Vorstellung von Romantik ist, ein Kleid anprobieren, die Neue rundherum ausmessen. Die Schwester ist schon wie selbstverständlich dabei.

Das ist Vertigo hoch zwei und ein faszinierender wie abstoßender Prozess. Alma verfolgt erstaunt und keck amüsiert wie schamlos die Geschwister in der Selbstverständlichkeit dieses unglaublichen Vorgangs sind. Doch die gleiche Masche bleibt es nicht. Bald bewegt sich die Neue beim Frühstück zu viel und zu laut, das verwöhnte, empfindliche Kind Woodcock zickt rum. Wie Alma es schafft, dass der eitle Künstler schließlich ganz von der Rolle ist, überrascht in dieser gedeckten, gediegenen Inszenierung. „Der seidene Faden" scheint mittendrin zum Psycho-Thriller abzudriften, wird aber mit dem Finale eines sehr ungewöhnlichen Liebesfilms fein versäumt.

Ja, Daniel Day-Lewis ist ein großartiger Schauspieler, wird hier aber irgendwie vom Drehbuch auf dem linken Fuß erwischt: Sein sensibler Egozentriker ist ein unangenehmer, unausstehlicher Typ. Aber kein großartiges Kino-Ekel. Bemerkenswerter dabei ist der Auftritt der Luxemburgerin Vicky Krieps („Der junge Karl Marx", „Das Zimmermädchen Lynn"). Schön, sie in einem ganz großen Film zu sehen. Mit mitspielen kann sie in der Rolle der Muse und lebendigen Seele Alma locker. Krieps hat sich selbst in Deutsch nachsynchronisiert, dadurch bleibt ihr ganz eigener, eigentümlich langsamer und kantiger Sprachduktus erhalten.

Ja, der sehr gradlinige, einfache Handlungsfaden gewährt Zeit und Aufmerksamkeit für die Feinheiten der Inszenierung, für die Psyche der Figuren. Das ist nicht wie beim Neo-Western „There will be blood", in dem Day-Lewis ebenfalls für Anderson spielte. Man hätte den seidenen Faden kunstvoller verflechten können, die Handlungen wenden und ausstaffieren. Aber von den letzten Minuten her, vom Blick auf eine schließlich faszinierend offene Beziehung zeigt sich das Meisterwerk in Vollendung als sehr sehenswerter Film.

30.1.18

Wir töten Stella

Österreich 2017 Regie: Julian Pölsler mit Martina Gedeck, Matthias Brandt, Mala Emde, Julius Hagg 98 Min.

Stella, die für ein paar Monate überlassene Tochter von Bekannten, ist tot. Nicht erfroren in der schicken Eiseskälte der Familie von Anna (Martina Gedeck), sondern unschön vors Auto gekommen. Anlass für eine sehr bittere Bestandsaufnahme von Anna, einer frustrierten Frau mit horrenden Albträumen und der Überzeugung, dass sie diese Ehe schon lang nicht mehr verlassen kann. Die anvertraute junge Stella (Mala Emde) wurde zuerst von Ehemann Richard (Matthias Brandt) verführt und dann fallengelassen. Anna war dieser Ablauf klar, aber sie blieb untätig. Ihre Niederschrift der Mitschuld ist größtenteils ein Gedeck-Solo. Das muss man mögen, das muss man ertragen können. Wobei Matthias Brandt mit der aalglatten, extrem oberflächlichen Liebenswürdigkeit seiner Figur auch gut in dieser Monstergalerie mitspielt. Denn die bürgerliche Kulisse zeigt eine zerstörte Familie, bei der man sich fragt, was an ihr jemals in Ordnung war. Das ist eiskalt, das könnte von Haneke sein, wäre dann aber etwas vielschichtiger.

„Wir töten Stella" von Julian Roman ist eine Art Fortsetzung von „Die Wand", ebenfalls mit Buch und Regie Pölslers.

Das Leben ist ein Fest

Frankreich, Kanada, Belgien 2017 (Le Sens de la fête) Regie: Eric Toledano, Olivier Nakache mit Jean-Pierre Bacri, Gilles Lellouche, Jean-Paul Rouve, Vincent Macaigne, Alban Ivanov, Benjamin Lavernhe 116 Min. FSK: ab 0

Nach einer ausführlichen Vorstellung seines Berufsethos' gibt es keine Zweifel: Max Angély (Jean-Pierre Bacri) ist ein Hochzeitsplaner mit viel Stil. Und einigen Problemen: Der Filmbeginn komprimiert das Chaos im Leben von Max mit Beziehungsärger, ohne Führerschein und immer auf Kriegsfuß mit der Korrekturfunktion seines Handy. Er hat zwei Frauen und einen Geburtstag, von dem niemand was wissen soll. Sein Hochzeits-Team besteht aus lauter Primadonnen: Ein unfähiger Fotograf, der vor allem auf das Buffet fokussiert ist, die falsche Band, Kellner, Verzeihung: Oberkellner, die sich wichtiger wähnen als alle anderen.

Dieser Abend einer großen Hochzeit im Schlossgarten auf dem Lande läuft chaotisch an und steigert sich enorm. Einer der Trottel im Team zieht einen falschen Stecker, die folgende Lebensmittelvergiftung durch verdorbenes Lamm verlangt Improvisationsvermögen in der Küche und den alten „Teigtaschen mit Sardellen-Trick". Dabei sollte es die letzte Hochzeit von Max sein, nach 30 Jahren hat er genug und will sein Unternehmen verkaufen - was noch niemand weiß.

So geht alles seinen möglichst falschen Gang: Der kapriziöse Fotograf mit einer Allergie gegenüber den Smartphones der Gäste rastet aus. Ein Hilfskellner und depressiver Schwager von Max entdeckt eine alte Liebe - in der Braut. Assistentin Adele streitet sich dauernd mit dem Sänger, bis eine erzwungene Umarmung eine wundersame Änderung hervorruft. Ein vermeintlicher Zollbeamter sorgt dafür, dass sich fast die ganze - illegal beschäftigte - Belegschaft zu fortgerückter Stunde in Zivil unter die Gäste mischt. Gastgeber und Bräutigam Pierre ist ein unsympathisches, egozentrisches und großkotziges Ekel. Man hält kaum die Vorfreude auf das große Feuerwerk aus, weil auch dieses sicher in die völlig falsche Richtung losgehen wird.

Ja, die Regisseure und Drehbuchautoren Olivier Nakache und Eric Toledano („Ziemlich beste Freunde") haben sich in ihrem neuen Film eine große Veranstaltung mit vielköpfiger Besetzung vorgenommen. Doch erstaunlicherweise sorgen gute Darsteller für ein Ensemble interessanter Figuren, die alle ihre Rolle spielen dürfen, fast durchgehend abstürzen, aber nie untergehen. Und ausgerechnet Nakache und Toledano, die Trendsetter ziemlich grober Komödien-Importe, liefern ein feines, bei aller Aufregung auch stilles Ensemble-Stück ab.

„Nach der Hochzeit", „Das Hochzeitsbankett" oder „Monsoon Wedding" - die chaotische Hochzeit ist ein beliebtes kleines Subgenre, gerne als Clash zweier Familien und Kulturen angelegt. Nakache und Toledano blicken hingegen hinter die Kulissen, schauen im brechtschen Sinne, auf die, die solchem Popanz erst möglich machen. Und gibt es tatsächlich genug Geschichten und Charaktere, um so einen Abend sehr unterhaltsam zu gestalten. Die Balance zwischen Humor und Respekt vor den Figuren stimmt immer, gekrönt wird dieses Zusammenspiel von einem gleichzeitig ungemein romantischen und komischen Moment. Unter Jazz-Klängen entgleitet der gelungene Abend völlig ungeplant in allgemeiner Freude.

29.1.18

Die kleine Hexe (2017)

BRD, Schweiz 2017 Regie: Michael Schaerer mit Karoline Herfurth, Suzanne von Borsody, Axel Prahl 103 Min. FSK: ab 0

60 Jahre hat „Die kleine Hexe" auf dem Buckel, also die Geschichte von Otfried Preußler. Das Buch wurde in 47 Sprachen übersetzt und weltweit über fünf Millionen Mal verkauft. Ganz entgegen dem Trend altbackener deutscher Kinderfilme kommt die erste Realverfilmung des Kinderbuchklassikers wunderbar frisch, lebendig und gegenwärtig daher. Karoline Herfurth („SMS für Dich", „Fack Ju Göhte") zeigt den Traditionen eine lange Nase und erweist sich als Traumbesetzung für einen Kinder- und Erwachsenen-Spaß, der jetzt schon als Klassiker verbucht werden kann.

Erst 127 Jahre ist die kleine Hexe (Karoline Herfurth) alt und man merkt, wie ausgelassen sie in der wirklich wilden Walpurgisnacht mit den uralten Hexen auf dem Blocksberg tanzt. Doch sie wird von der bösen Hexe Rumpumpel (Suzanne von Borsody) erwischt. Das geht ja gar nicht! Die kleine Hexe ist viel zu dünn und duftet auch noch! Zur Bewährungs-Strafe soll sie bis zur nächsten Walpurgisnacht alle 7892 Zaubersprüche aus dem dicken Hexenbuch auswendig lernen. Frohgemüt geht die muntere Hexe, die auch in ihrer chaotischen Hütte sehr an Pippi Langstrumpf erinnert, ans Werk. Hilfreich ist ihr besserwisserischer Rabe Abraxas (mit der Stimme von Tatort-Kommissar Axel Prahl). Dabei vergisst sie nicht, auch immer eine gute Hexe zu sein. Sie rettet arme Holzsammlerinnen vor dem gnadenlosen Förster und fährt mit einem Spielsüchtigen Schlitten, damit der mit seinem Sohn mal wieder Schlitten fährt. Ganz wunderbar lässt sie die Blumen eines Mädchens auf dem Markt duften, damit die ein Verkaufsschlager werden.

Doch die heimliche Kontrolle der sehr entfernt verwandten Tante Rumpumpel lässt das zentrale moralisches Dilemma erahnen: Die kleine Hexe erfährt in der Walpurgisnacht, dass sie eine schlechte Hexe sein soll, weil sie immer nur Gutes gehext hat! Aber die Alten haben nicht mit dem guten Herzen und dem frechen Mut der kleinen Hexe gerechnet...

Wie bin ich ein guter Mensch - auch wenn es mal Spaß macht, böse und gemein zu sein? Besonders gegenüber den üblen Kerlen! Das ist ein Dilemma, das vom kleinen Robin Hood bis zum großen Superhelden viele beschäftigt. So spaßig und frisch wurde der Appell, seinem Herzen zu folgen, jedoch selten dargebracht. „Die kleine Hexe" begeistert mit praller Ausstattung, die mal nicht falsch oder künstlich wirkt. Auch ist die Walpurgisnacht ungewöhnlich dunkel für deutschen Kinderfilm. Zwischendurch reitet die Nachwuchs-Hexe rasant auf ihrem Besen, es gibt auch Slapstick und viele, viele tolle sowie lustige Ideen. Die Tricks wirken altmodisch undigital, Abraxas könnte sicher perfekter animiert werden und dabei viel Charme verlieren. Aber vor allem, wie Karoline Herfurth diese jugendliche Rolle belebt, macht „Die kleine Hexe" zu einem großen Vergnügen.

Criminal Squad

USA 2018 (Den of thieves) Regie: Christian Gudegast mit Gerard Butler, Curtis „50 Cent" Jackson, Pablo Schreiber 140 Min.

Der Einstieg ist laut und krachend: Mit so einem „Hauptsache Geballer"-Geballer ohne Sinn und Verstand vor und hinter der Kamera. Die routinierte Gangster-Bande des Ex-Sträflings Ray Merrimen (Pablo Schreiber) raubt einen Geldtransporter. Dass dieser leer ist, gehört zu einem raffinierten Plan. Dass die verpulverte Munition sicher über dem Kaufpreis des Transporters liegt, gehört zur Hirnrissigkeit dieser blöden Action. Als „Big Bad Lieutenant" gibt der raue Cop Nick Flanagan (Gerard Butler) den Gegenspieler. Wobei nur Dienst-Plakette und Gehaltszettel Räuber und Gendarm unterscheiden. Tattoo-Vollverkleidung, Sauferei, die Prostituieren und die Gewalt sind auf beiden Seiten gleich. Die Momente zwischen dem Geballer wollen ein Duell aufbauen, wie es einst Michael Man mit „Heat" meisterte. 1995 lieferten sich Robert den Niro und Al Pacino auch atemberaubende Rede-Duelle. Nun muss man nur Robert den Niro und Al Pacino Gerard Butler entgegenhalten, um den Unterschied klar zu machen. Butler ist beim Ballern und Boxen besser aufgehoben als beim avanciertem Schauspiel. Das Regie-Debüt von Action-Autor Christian Gudegast („London Has Fallen") kann so ganz gut störende Stille übertönen, was an den protzigen Kalibern der Waffen liegt. Gute Action ist das nicht. Nur die Raubzüge bei Beginn und Ende gerieten wirklich raffiniert, und am Ende überrascht tatsächlich ein Keyser Söze-Moment.

The Disaster Artist

USA 2017 Regie: James Franco mit James Franco, Dave Franco, Seth Rogen, Alison Brie 104 Min. FSK: ab 12

James Franco drehte mit „The Disaster Artist" den angeblich schlechtesten Film aller Zeiten nach und sein „künstlerischer" Ansatz entspricht dem, mit einem sehr langweiligen Film, Langeweile auszudrücken. Ein unglaublich schlechter Film über das Entstehen eines legendär unglaublich schlechten Films. 2003 kam „The Room" von Tommy Wiseau in ein (!) Kino und hatte weniger Zuschauer als ein ambitionierter deutscher Autorenfilm der Berliner Schule. Da sich der „Room"-Schrott über die Jahre zum bescheidenen Kult wandelte, schrieb Nebendarsteller und Wiseau-Freund Greg Sesteros ein Buch über die chaotischen Dreharbeiten, die er selbst miterlebte. Hollywood Anti-Star James Franco verfilmt nun dieses Drumherum sowie einzelne Szenen eins zu eins. Und das Gezeigte ist ebenso unfassbar wie das Zeigen: In einer Schauspielschule lernt der mäßig begabte Greg Sestero (Dave Franco) den exaltierten Sonderling Tommy Wiseau (James Franco) kennen. Zusammen ziehen sie nach Hollywood. Greg bekommt Agenten und Jobs, Tommy mit seiner völlig unverständlichen Aussprache und einem verstörend lächerlichen Gehabe nur Verachtung ab. Aus Frust beginnt der nicht sehr intelligente Spinner mit seinen scheinbar unerschöpflichen Mitteln und maßloser Selbstüberschätzung, selbst einen Film zu schreiben, zu inszenieren, zu spielen und zu schneiden. Es wird eine Katastrophe - da hilft auch eingekauftes Knowhow nicht weiter. Bei der Premiere wandelt sich das entsetze Schweigen nach einer Weile in schallendes Lachen über dieses furchtbare Stück Film.

Und genau dieses Entsetzen hat James Franco (Dave Franco („Bad Neighbors", „Die Unfassbaren – Now You See Me") mit seinem Film über einen Film kongenial wieder erzeugt. „The Disaster Artist" ist „Ed Wood" in völlig uninteressant. Ein paar Seitenhiebe auf Hollywood, wenn Wiseau mit seinem Set genau den Hof zwei Meter weiter nachbaut, machen die nur peinliche Figur Wiseau mit ihrem bescheuerten Dialekt nicht erträglicher. Eine doppelte Film-Katastrophe.

Maze Runner - Die Auserwählten in der Todeszone

USA 2018 (Maze Runner: The Death Cure) Regie: Wes Ball mit Dylan O'Brien, Kaya Scodelario, Thomas Brodie-Sangster, Ki Hong Lee 142 Min. FSK: ab 12

Es begann vielversprechend anders - für ein paar Minuten: Im ersten Teil von „Maze Runner" landete der Auserwählte Thomas (Dylan O'Brien) ohne Erinnerung auf einem Stückchen Grün zwischen hohen Wänden, die mit schwerer Mechanik tagsüber ein Tor zum dahinterliegenden Labyrinth freigeben. In der Nacht schließt sich das Tor, denn dahinter toben sich irgendwelche Monster lautstark aus. Ein Gruppe Jugendlicher versucht zu überleben und zu fliehen. Nun, zum Abschluss einer Trilogie, die man sich komplett hätte sparen sollen, sind die nicht mehr so ganz jungen Helden wieder von hohen Wänden eingeschlossen. Eine selbsternannte Elite, welche die Weltbevölkerung mit künstlicher Pest reduzieren wollte, muss sich vor den selbst erzeugten Zombie-Horden schützen. Immer noch experimentiert die WCKD-Organisation mit immunen Kindern, die Handlung hat die Freunde des ersten Teils in die verfeindeten Lager verteilt. Auch die alte Liebesgeschichte zwischen Thomas und Teresa (Kaya Scodelario) geriet zwischen die Fronten.

Statt des wenigstens anfangs reizvollen Experiments gibt es nun von Anfang an Action pur. In die Filmgeschichte wird „Maze Runner" dabei als Film eingehen, der sich selbst konstant doppelt erzählt. Mit Sätzen für ganz Blöde! Bevor die Zombie Horde zugreift, darf jeder noch mal sagen „Wir müssen weg!", „Wir müssen rennen!" und „Los jetzt!". Die post-apokalyptische Welt mit einer extremen Schere zwischen arm und reich glitzert effektheischend. Doch während die andere Jugendserie „Bestimmung" seine Geschichte entwickelt, reitet „Maze" Idee und Figuren tot. Der Mix aus Zombie-Film, Science Fiction und Polit-Parabel hat starke Darsteller nur auf der Seite der Gegner und macht so wenig Eindruck, dass man zwischen den Fortsetzungen alles schon wieder vergessen hat. Diese Figuren sind tatsächlich im Besitz eines bösen Konzerns - der heißt nicht WCKD, sondern Hollywood Action. So fällt die ganze Trilogie völlig in sich zusammen und liefert den Beweis, dass drei mal eins weniger als eins sein kann.

23.1.18

Three Billboards outside Ebbing, Missouri

GB, USA 2017 Regie: Martin McDonagh mit Frances McDormand, Woody Harrelson, Sam Rockwell, Abbie Cornish, Peter Dinklage 116 Min. FSK: ab 12

Der große Oscar-Favorit und Abräumer der bisherigen Preissaison wird nun auch unsere Kinosäle erschüttern: „Three Billboards outside Ebbing, Missouri" ist eine äußerst unkonventionell bewegende Geschichte um Schuld, Wut, Rache, Sühne und dem furchtbaren Übermaß von alledem. Frances McDormand spielt die Hauptrolle, aber „Three Billboards outside Ebbing, Missouri" ist auch so ein großartiger Film, weil er eine ganze Gruppe von Menschen mit ihren vielschichtigen Leben zu fassen bekommt.

Mildred Hayes (Frances McDormand) bucht drei Plakatwände an einer abgelegenen Durchgangsstraße vor ihrem Haus. In großen Lettern beschuldigt die Mutter den lokalen Polizeichef William Willoughby (Woody Harrelson) der Untätigkeit. Denn es sind bereits sieben Monate vergangen, seit ihre Tochter vergewaltigt und ermordet wurde, ohne dass die Polizei auch nur eine Spur gefunden hat. Doch jetzt werden sie alle aktiv, die Sheriffs von William Willoughby. Sie schüchtern den Plakatvermieter ein und verhaften ihr Angestellte anlasslos. Besonders der stellvertretende Officer Dixon (Sam Rockwell), Söhnchen einer extrem rassistischen Mutter, schlägt nun noch härter zu. Dabei ist er schon berüchtigt dafür, Schwarze in den Gefängniszellen zu foltern. Auch der Priester tanzt selbstverständlich an, um die Rebellin zu befrieden und die allgegenwärtige Seilschaft aus Justiz, Macht und Kirche zu schützen. Er bekommt von Mildred als Antwort einen deutlichen Hinweis auf die Kindes-Vergewaltigungen in seiner Kirche.

Denn Mildred weiß sich zu wehren: Dem Zahnarzt, der eine „Marathon Man"-Nummer an ihr durchziehen will, stößt sie den eigenen Bohrer tief in den Fingernagel. Und auch ansonsten wird das Rechtsempfinden in dieser Tragödie, die lange vorspiegelt, als Komödie durchzukommen, gehörig durcheinander gerüttelt. Ob rassistischer, sexistischer Vollidiot oder geschlagene Mutter - letztlich sind hier alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Regisseur und Autor Martin McDonagh („Brügge sehen... und sterben?", „7 Psychos") zeichnet nicht schwarz-weiß.

Frances McDormand („Fargo") zeigt auf faszinierende Weise eine Frau mit tiefer Verletzung, mit stiller Wut, erstaunlichem Durchhaltewillen und großem Mut. Denn Mildred Hayes wurde und wird noch von ihrem Ex-Mann - vormals auch ein Polizist - geschlagen. Woody Harrelson („Larry Flynt", „The Messenger") steht für eine in Filmen ungewöhnliche Vielschichtigkeit aller Figuren: Sein Polizeichef ist ein vernünftiger, ein guter Kerl. Allerdings lässt er es durchgehen, dass seine Polizisten und sich ohne Recht und Gesetz durchprügeln. Und auch nach seinem Abgang gibt er der Geschichte noch herrlich humorige Wendungen.

Ja, es ist auch komisch, wenn der schwer verbrannte Rassist ausgerechnet mit seinem letzten, brutalst verprügeltem Opfer im gleichen Krankenzimmer landet. Und es ist nicht nur rührend, sondern auch kräftig das Menschenbild bewegend, sogar ein kleines Wunder, dass ausgerechnet dieser Dümmste von allen durch die Hoffnung eines Freundes unerwartet die Wende zum besseren Menschen schafft. Und ausgerechnet das Dummchen des Films, die 19-jährige neue Freundin des Ex-Mannes, darf den Kernsatz des Filmes sagen: Wut erzeugt nur größere Wut.

Anne Clark - I'll walk out into tomorrow

BRD 2017 Regie: Claus Withopf mit Anne Clark 81 Min. FSK: ab 0

Anne Clarks Hits waren einmalig im New Wave-Zeit der 80 Jahre, gerade wegen ihrer Stimme und dem Stakkato der poetisch aggressiven Texte. Nach ihren Erfolgen mit „Sleeper in Metropolis", „Our Darkness" und „Echoes Remain Forever" machte ein betrügerischer Manager und eine brutale Plattenfirma Anne Clark fast zu einem One Hit-Wonder. Sie ließ sich nicht knebeln, stieg aus, hörte aber auch nicht auf, ihre Musik zu machen. Nach einschneidenden Konfrontationen mit ihrer Plattenfirma verschwand sie von der musikalischen Bildfläche und erfand sich in der stillen Einsamkeit Norwegens neu. Bekannt wurde die 1960 in Südlondon geborene Musikerin mit ihrem Mix aus lyrischem Sprechgesang und innovativem Elektroniksound. Unabhängig von Trends und Marketingstrategien der Musikbranche entfaltet Anne Clark seit vielen Jahren ihren eigenen, unverwechselbaren Stil mit einer Fusion tanzbarer elektronischer Sounds, intelligenten Arrangements und sehr persönlichen Texten.

Die britische Poetin wird als „Grand Dame des Dark Waves" bezeichnet und zeigt sich in diesem Dokumentarfilm doch als äußerst bodenständig. Die Pionierin der Spoken Word-Kunst wirkt völlig unprätentiös, sympathisch bescheiden. Regisseur Claus Withopf begleitete Anne Clark fast ein Jahrzehnt lang und porträtiert eine so gesellschaftskritische wie überwältigende Ausnahmekünstlerin – eine musikalische Rebellin, die sich jenseits des kommerziellen Mainstreams auf ihrer eigenen Tonspur bewegt. Mittlerweile tourt Anne Clark wieder, ihre Lieder und Texte sind neu, ihr Stil bleibt erkennbar. Eine Dokumentation für Fans und solche, die es werden könnten.

22.1.18

Nur Gott kann mich richten

BRD 2017 Regie: Özgür Yildirim mit Moritz Bleibtreu, Edin Hasanovic, Kida Khodr Ramadan, Birgit Minichmayr, Peter Simonischek 99 Min.

Bleibtreu, Minichmayr, Simonischek - da tummeln sich die ganz großen Kaliber des deutschsprachigen Films (und ein paar populäre Gesichter wie Alexandra Maria Lara) in einem knalligen, harten und dreckigen Action-Werk, dessen mangelnde Raffinesse darin sichtbar wird, dass alle, wirklich alle Fluchtfahrzeuge in der falschen Richtung geparkt werden! Und so kann „Nur Gott kann mich richten" immer wieder beeindrucken, nur um im nächsten Schuß(-Gegenschuß)-Wechsel unangenehm aufzufallen. Ein spannend zerrissener Film vom spannenden Regietalent Özgür Yildirim („Chiko").

Am Anfang geht gleich alles schief: Der Raubzug beim bulligen russischen Auto-Gangster verläuft kläglich. Nur die Ballereien sind richtig - richtig laut und brutal. Am Ende der ersten Szene muss Ricky (Moritz Bleibtreu) für
fünf Jahren in den Knast. Sein kleiner, angeschossener Bruder Rafael (Edin Hasanovic), den er retten wollte, kam glimpflicher davon, will aber nichts mehr von Ricky wissen. Und dessen Kumpel Latif (Kida Khodr Ramadan), dem Ricky auch zur unerkannten Flucht verhalf, hat eine Shisha-Bar, die immer leer ist. Also nix mit der Idee Rickys, zusammen mit dem dementen Vater (Peter Simonischek) und dem Bruder am Mittelmeer eine neue Existenz aufzumachen. Außer ... man würde noch einmal einen Raubzug machen. Latif hätte da ein todsicheres Angebot von ein paar freundlichen albanischen Gangstern.

Die selbstverständlich sehr humor- und gnadenlos reagieren, als die ganze, eigentlich abgekartete Sache grandios schief läuft. Der Fluchtwagen steht wie immer falschrum, aber es ist sein kaputtes Rücklicht, das die Polizistin Diana (Birgit Minichmayr) auf die Spur von Ricky und Rafael bringt. Da ihre Tochter dringend ein neues Herz braucht, versucht die brave Beamtin tatsächlich äußert unfähig, drei Kilo Koks für einen lächerlichen Preis zu verkaufen. Das alles muss an allen Fronten furchtbar gegen die Wand fahren. So wie es sich für ein dreckiges und blutiges Gangsterdrama gehört.

Ja, tatsächlich: Dieses türkische Gangster-Milieu mit seinem Slang und dem gefährlich bis albernen Macho-Gehabe ist schon sehr „abgedreht". Aus der Serie „4 Blocks" wurde gleich Kida Khodr Ramadan übernommen und Regisseur Özgür Yildirim versuchte sich schon vor Jahren mit „Chiko" daran. Für ein paar Giganten des deutschen Films ist das eine kleine Übung. Bleibtreu beeindruckt, wirkt aber nicht wirklich gefordert. Minichmayr kann nicht wirklich gut rennen, aber selbst eine Rolle gut spielen, die vor Dummheit schreien müsste.

Dabei gibt es mächtig viel Stoff, nicht nur als Diebesgut, sondern auch im Drehbuch: Eine herzkranke Tochter, die Ärztin die in Organhandel macht, die bedrohte Liebe beim kleinen Bruder auf Bewährung, der ungeliebte Sohn und seine Opfer für den undankbaren Vater. Ein wenig zu zufällig stecken alle in Problemen und finanzieller Not. Doch beim Spiel von Räuber und Polizei zählt vor allem der dreckige Stil und die deftige Action. Das hat Regisseur Özgür Yildirim drauf. Er sollte nur mal den Drehbuchschreiber Özgür Yildirim feuern und jemand richtigen dafür einstellen. Dann käme die Sache mit dem Falschparken der Fluchtautos vielleicht auch in Ordnung.

Wunder

USA, Hongkong 2017 (Wonder) Regie: Stephen Chbosky mit Jacob Tremblay, Julia Roberts, Owen Wilson, Izabela Vidovic 114 Min. FSK ab 0

Dem zehnjährigen August „Auggie" Pullman (Jacob Tremblay) sieht man eine Deformation des Kopfes und viele, viele Operationen direkt an. Was für die Super-Eltern (Julia Roberts und Owen Wilson) und die tolle große Schwester Via (Izabela Vidovic) kein Problem ist. Doch raus traut sich Auggie nur mit seinem Raumfahrerhelm. Nun soll er diesen Schutz für seine ersten Tage in der Schule abnehmen - nach jahrelangem Unterricht zuhause mit seiner Mutter. Und das richtige Leben im sozialen Umfeld erweist sich als erwartet grausam. Auggie wird von Mitschülern als „Freak" bezeichnet und als Aussätziger behandelt. Bis einer aus der Bully-Clique sich zu ihm setzt und zu ihm steht. Doch der Verrat folgt in schlichter Drehbuch-Eintönigkeit. Auch die meist vernachlässigte Schwester wurde von der besten Freundin verlassen, darf sich aber verlieben. Und dann erkrankt auch noch der Familien–Straßenvollscheißer und muss eingeschläfert werden. Zeit für Papa, auch ein paar Tränchen zu verdrücken.

Ja, die Gefühlsachterbahn ist bestens geschmiert in dieser Verfilmung von R.J. Palacios Debütroman. Selbstverständlich verläuft die Geschichte auch immer wieder mal witzig, etwa wenn Auggie bemerkt, wie sehr er sich auf Halloween und das freie Rumlaufen unter einer Maske freut. Man muss gar nicht das herzzerreißende Leiden von Lynchs „Elefantenmensch" erinnern, um zu erkennen, wie falsch und oberflächlich hier mit einem tatsächlichen Problem unserer visuell fixierten Gesellschaft umgegangen wird. Wenn Superstar Julia Roberts als Mutter ihre Falten anführt, um Auggie zu zeigen, dass wir alle nicht perfekt sind, dann ist das albern bis zynisch für ein kleines, arg vernarbtes Gesicht. Auch das Wort Toleranz, in vielen Ankündigungen zu diesem Film hervorgehoben, führt auf den Holzweg: Nur weil Auggie - für Hollywood-Verhältnisse - anders aussieht, muss man ihn nicht „tolerieren". Dieser Junge sollte gefälligst wie jedes andere Kind behandelt werden, auch wenn der erste Anblick irritiert, verblüfft oder gar erschreckt. Dieses wundersame Filmchen macht ihn aber mit allen Tricks „besonders". Besonders klug, besonders einfühlsam, besonders gutmütig.

Leider ist das verwunderliche Rührstück nicht nur verlogen, es ist auch noch schlecht gemacht. Aus verschiedenen Perspektiven dürfen die Schwester oder der zeitweilige Freund Jake erzählen. Das könnte eine Konstruktion sein, um Verständnis zu erzeugen. Aber sie verstärkt nur den Eindruck von zusammengeschusterten Episoden. Nett nur die Raumfahrtmetapher, die sich durch den ganzen Film hüpft: Mal schwebt Auggie befreit wie auf dem Mond, mal schleppt sich er unter dem Überdruck des Leids durch die Schulgänge. Allein in seinen besten Momenten gibt „Wunder" seinen Figuren die Chance, mehr als eindimensionale Rädchen der Handlung zu sein und sich als tatsächliches Wunder zu wandeln. Da ist es dann schade, dass diese Momente in einem Meer an süßlicher Rührung untergehen

17.1.18

Der andere Liebhaber

Frankreich, Belgien 2017 (L'amant double) Regie: François Ozon Marine Vacth, Jérémie Renier, Jacqueline Bisset 108 Min. FSK: ab 16

Ein radikaler Haarschnitt, ein tiefer Blick in die Kamera zeigen, hier will jemand nicht mehr Modell sein. Noch ein radikaler Schnitt von einer Vagina auf Augen mit der gleichen Form, drücken vor allem provokanten Stilwillen aus, was den Reiz und die Krux des interessanten neuen Films von François Ozon („Frantz", „Swimming Pool") kennmerkt.

Nicht nur die Preisgabe der Persönlichkeit von Chloé (Marine Vacth) in wenigen Sätzen, auch die Bildkompositionen der Gespräche beim Psychiater Paul (Jérémie Renier) sind äußerst spannend, ebenso die Bilder und Installationen ihrer Arbeitsstätte, einem Museum. Doch Chloés psychosomatische Probleme scheinen schon vor Heimat mit Paul gelöst. Bis sie ihren Mann, der eigentlich woanders sein sollte, mit einer anderen Frau sieht. Der Doppelgänger erweist sich als verschwiegener Zwillingsbruder und ebenfalls Therapeut. Ist der eine verständnisvoll zurückhaltend, tritt der andere unverschämt deutlich auf und beginnt eine sexuell heftige Affäre mit der Schwägerin. Viele Spiegelungen Chloés weisen früh auf Schizophrenie hin ... nur bei wem?

François Ozon spielt in seiner schön gefilmten Cronenberg-Variation eifrig mit den Elementen von Psycho- und
Erotik-Thriller. Es geht um erwünschte Kinder, unerwünschte Zwillinge. Der Haarschnitt ist wie bei „Rosmaries Baby" und auch die Nachbarin wirkt seltsam. Doch Ozon löst falsche Spuren bald auf - man darf und soll sich darauf konzentrieren, wie er den Wahn inszeniert. So wie Chloé eingerahmt von faszinierender Kunst als Museumswärterin Besucher beobachtet, bestaunen wir menschliche Irrungen in feinster Inszenierung. Mitreißend ist die Form, die Figuren lassen eher kalt.

16.1.18

Die dunkelste Stunde

GB 2017 (The Darkest Hour) Regie: Joe Wright mit Gary Oldman, Stephen Dillane, John Hurt, Lily James, Ben Mendelsohn, Kristin Scott Thomas 128 Min. FSK: ab 6

Nach Christopher Nolans „Dunkirk" und dem von Brian Cox verkörpertem „Churchill" nun der dritte Film über den legendären britischen Kriegs-Premier in nur zwölf Monaten. Was will uns Winston Churchill heute so dringend sagen? Ist es eine Suche nach dem starken Führer in heutigen, im Gegensatz zu damals geradezu dekadent guten und sicheren Zeiten? Der eindrucksvolle Film von Joe Wright („Abbitte", „Hanna", „Stolz und Vorurteil", „Anna Karenina") glänzt nicht nur mit Gary Oldman unter der speckigen Maske Churchills, er thematisiert die Suche nach dem richtigen Auftreten gegen Unrechtsherrschaft.

„We shall never surrender - wir werden uns niemals ergeben!" Kennt man vielleicht von Supertramps „Fools Overture" (1977), der Satz stammt aber von Winston Churchill (1874 - 1965). Es war der Schluss einer Parlamentsrede, welche die Entscheidung des Premierministers gegen Waffenstillstandsverhandlungen mit Hitlers Deutschland verkündete. Im Nachhinein, nach fünf Jahren Weltkrieg mit Millionen Toten, eine Entscheidung gegen Terror-Herrschaft und Faschismus, eine für die Freiheit. Wie es dazu kam, erzählt dieser Film ausgehend von vernichtenden Niederlagen französischer und englischer Truppen auf dem Festland und begleitet vom politischen Geplänkel seiner Partei, die den allgemein ungeliebten Alt-Politiker Churchill im Mai 1940 zum Premierminister macht.

Und obwohl es diesmal wirklich mal um das Schicksal der Welt und das von hunderten Millionen Menschen geht, läuft das immer wieder komisch ab. So lehnt der berüchtigt nuschelnde Politiker beim traditionellen Antrittsbesuch den Termin-Vorschlag des stotternden Königs George VI. für ihr wöchentliches Treffen ab - er halte Mittagsschlaf um 16 Uhr! „Die dunkelste Stunde" zeigt eine große politische Entscheidung und einen sehr empfindsamen Menschen hinter dickem Panzer. Wir nähern uns Churchill über eine neue Sekretärin, die zuerst wie alle anderen vom rabiaten Säufer und Kettenraucher unverschämt zusammengestaucht wird. Später zerdrückt er auch bei ihr einige seiner häufigen Tränen. Den Kopf gewaschen bekommt er in sehr netten Szenen gehörig, geistreich und mit spitzer Zunge auch von seiner Ehefrau Clementine, eine Rolle, in der diesmal Kristin Scott Thomas brilliert.

Der überall gepriesene Gary Oldman legt allerdings nicht wirklich eine der besten der handgestoppten bisherigen 35 Film- und 28 TV-Churchills hin. Zu oft blitzen aus dem massigen Babyface die scharfen Züge des Schurke aus dem „Fünften Element" oder des Lt. James Gordon aus „Batman" hervor. Aber letztlich überzeugt er im ganzen Gewicht eines relevanten Films. Auch wenn der es sich mit der Entscheidung über Krieg oder Friedensverhandlung zu einfach macht. Denn Churchill war mit seinem, aus dem Wissen als Historiker gewonnenen Misstrauen gegenüber Hitler zuerst allein. Ein England, das sehr deutlich noch die Grauen des letzten, des „großen Krieges" erinnerte, wollte keinen neuen Waffengang. Im Film bestärkt Churchill, als er zum großen Erstaunen der Passagiere zum ersten Mal im Leben die Metro benutzt, das „einfache Volk" in seiner Entscheidung. Dieses Bild des „Volkes" erscheint allerdings sehr einfach bis einfältig und - entgegen den schweren Zweifeln Churchills selber - übel kriegstreiberisch. Doch wie in der wahren Historie hilft auch im Film letztlich eine große Rede über diese Schwäche hinweg: „We shall never surrender..."

Downsizing

USA 2017 Regie: Alexander Payne mit Matt Damon, Christoph Waltz, Hong Chau, Kristen Wiig 135 Min. FSK: o.A.

Filmisches Klein-Klein

Von einer Vervielfachung des Besitzes träumen nicht nur Börsen-Zocker, auch die Mittelständler Paul Safranek (Matt Damon) und seine Frau Audrey (Kristen Wiig) wollen sich vergrößern, indem sie kleiner werden. Eine norwegische Entwicklung lässt Menschen auf ein paar Zentimeter schrumpfen. Die Werbung verspricht ein Luxusleben im Miniaturland. Dieser „Neustart im Leben" schont selbstverständlich nur vordergründig die Ressourcen der Erde, es geht vor allem darum, eine neue, bessere Lebensperspektive für sich selbst zu gewinnen. Die muss Paul auch finden, denn Audrey macht im letzten Moment einen Rückzieher. So bleibt dem Pfleger in Beruf und Privatem die unübersehbare Unzufriedenheit mit seinem Leben auch auf kleinem Fuße erhalten.

Schließlich gibt es auch Ärger mit dem Nachbarn: Der zwielichtige Dusan Mirkovic (Christoph Waltz) und sein Partner (Udo Kier) feiern rauschende Feste und hatten sicher auch im großen Leben viel Spaß. Nachher macht die vietnamesische Putzfrau sauber und Paul erkennt in ihr die legendäre Dissidentin, die von ihrer Regierung zwangsweise geschrumpft wurde. Beim „Abschieben" in die USA in einem Karton mit Export-Fernseher starben alle anderen „Karton-People". Ngoc Lan Tran (Hong Chau) musste „nur" ein Bein amputiert werden. Selbstverständlich will sich Kümmerer Paul nun auch um die furchtbar schlechte Prothese kümmern und wird so zum Helfer der noch hilfsbereiteren Frau. Dabei entdeckt er auch, dass außerhalb der Miniatur-Traumstädte genauso Elendsviertel für die Putzfrauen und sonstigen modernen Sklaven existieren, wie in der großen Welt.

Es wirkt witzig, wie der Zwerg Paul die Scheidungs-Papiere möglichst groß unterschreiben soll, aber viele andere Scherze zünden nicht, weil sie - wie das angekündigte zu heiße Wasser in der Dusche - vorhersehbar sind. So entwickelt sich die Handlung bei „Hilfe, ich habe ein geschrumpfte Filmidee" sehr, sehr langsam. Man staunt etwas, aber besondere satirische oder komische Effekte stellen sich nicht ein. Die ganze Verkleinerungsaktion wirkt recht bescheiden und für so eine einfache gesellschaftliche Parabel hätte es die ganze Schrumpferei nicht gebraucht. Ein Blick in die Zeitung genügt da. Doch der Film hängt noch zwei Schlenker dran, die ihn nicht überzeugender machen...

Alexander Payne gelang es bisher trefflich, ziemlich normale Figuren aus ihrem ganz normalen Leben fallen zu lassen: Mit Jack Nicholsons Witwer-Degeneration in „About Schmidt", mit Paul Giamattis gepflegtem Weinproben-Zerfall in „Sideways" und Georg Clooneys Selbstfindung als Hawaiianer in „The Descendants". Nun ist die Grundannahme Science Fiction und lässt der in Wichtigkeit geschrumpften Hauptfigur wenig Raum zur Entfaltung. So ist letztlich der irritierend seltsame Handlungsverlauf dieser wundersamen Wege eines hilfsbereiten Trottels bestimmender als die Grundidee des Films.

Hilfe, ich habe meine Eltern geschrumpft

BRD Österreich 2017 Regie: Tim Trageser mit Oskar Keymer, Anja Kling, Axel Stein, Julia Hartmann, Andrea Sawatzki 99 Min. FSK: ab 0

Ein Riss geht durchs Gebäude der alten Schule. Einer? Es rieselt und knirscht überall im uralten Humor-Konstrukt des populären deutschen Kinderfilms. Denn wenn die Kinder feststellen „Der Riss war gestern noch nicht da", muss man ergänzen: Und der Frisbee liegt auch nicht mehr, wo er noch vor Sekunden hingeworfen wurde. Hier paaren sich schlampiges Handwerk mit baufälligen Ideen, und nur der Werbeetat sorgt dafür, dass alle wieder rein rennen.

Im zweiten Film der Serie „Hilfe, ich habe den Anspruch geschrumpft" werden wieder die Lehrerin und auch die Eltern durch Zauberei kleingemacht. Das ist ein klitzeklein wenig witzig, wenn sich der Sohn Felix (Oskar Keymer) nun um die Kleinen (Eltern) kümmern, sie waschen und füttern muss. Dabei hat er selbst Eifersuchtsprobleme. Weshalb sich die Eltern auch kindisch verhalten, ist völlig unerklärlich. Aber wenigstens lustig für die Kleinen, also die im Kino. Denn dieser Hilfe-Ruf des Kinderkinos ist ein Teenager-Film für alle, die noch lange keine Teenager sind.

Die Handlung, die Suche nach magischer Kugel und Wiederbelebung des Schulgeistes Otto, bleibt mehr als übersichtlich, quasi winzig. Wie jetzt, Otto? Otto Walkes? Für alle unter 50 Lebensjahren: Otto war mal lustig und populär wie Julian Bam nur ein totaler Exot, weil aus Ostfriesland. Genauso gestrig und klapprig wie die Mumie der ehemaligen Direktorin Hulda Stechbarth (schräg: Andrea Sawatzki) kommen alle Themen daher. Stichworte wie G8 findet man halt nicht im recycelten Altpapier der Drehbuchschule. Symptomatisch, denn diese deutschen Kinderfilme sind faulige Wiedergänger der Pauker-Filme aus den 60ern. Das Trick-Potential der Verkleinerung wirkt ebenfalls, als hätte es die letzten digitalen Jahre und Hollywoods Vorbilder nie gegeben.

9.1.18

Julian Schnabel - A Private Portrait

Italien, USA 2017 Regie: Pappi Corsicato 84 Min. FSK: ab 0

Der Künstler Julian Schnabel ist ein Unikat, ein Gigant, ein Riesen-Ego. Diese unfassbare Erscheinung in ein filmisches Porträt zu pressen, wirkt sehr mutig vom Regisseur Pappi Corsicato, ist aber in einigen Aspekten gut gelungen. Vordergründig erscheint der 1951 geborene, us-amerikanische Maler und Filmemacher als exzentrische Figur, schon bei seinem Auftritt, bevorzugt im Pyjama oder Bademantel. Mit seinen nicht nur von den riesigen Formaten her wahnsinnigen Kunstwerken sorgte er seit Ende der 70er Jahre für Aufsehen, wobei in dieser Doku des Schnabel-Freundes Corsicato nur die positiven Reaktionen aufblitzen. Hymnisch äußern sich viele Prominente, darunter Al Pacino und Willem Dafoe. Das Brillen-Modell Bono betont die Großzügigkeit des großen Kindes Schnabel. In prominenten Kreisen bewegt er sich auch mit seinen Filmen: „Basquiat" über den New Yorker Graffiti-Künstler Jean-Michael Basquiat. „Before Night Falls" über den kubanischen Schriftsteller Reinaldo Arenas und der wunderbare „Schmetterling und Taucherglocke" über Jean-Dominique Bauby, den gelähmten ehemaligen Herausgeber der Zeitschrift „Elle". Vor dem umstrittenen Spielfilm „Miral" machte „Lou Reed's Berlin" aus einer Live-Hommage des Albums einen poetischen Musik-Clip.

Dieser Versuch, eine umfassende Übersicht aller Aktivitäten der gigantischen Persönlichkeit Schnabel zu geben, kann keine intensive Beschäftigung mit einzelnen Werken leisten. Ein Picasso-Biograph erledigt dafür die Wertschätzung des Malers. Über die Hintergründe seiner wunderbaren Filme gibt es mehr zu hören. Die Anekdoten der Familie sind für Außenstehende sehr witzig, wenn Schnabel beispielsweise mal kurz das Wohnhaus renoviert, was im Stile einer venezianischen Villa ein paar Jahre dauert. Es gibt Gespräche mit den Kindern, die einerseits in Sachen Vater zu kurz gekommen sind, aber auch mit außergewöhnlichen Erfahrungen beschenkt wurden. Das ist alles wenig kritisch und bleibt oberflächlich, doch gerade weil Julian Schnabel Julian Schnabel ist, auch recht unterhaltsam.

Your Name

Japan 2016 (Kimi No Na Wa) Regie: Makoto Shinkai 111 Min. FSK: ab 6

Ein neues Meisterwerk und ein Riesen-Erfolg japanischer Animations-Kunst ist vor dem DVD-Start ganz kurz im Kino zu erleben: Der mythische und romantische Science Fiction „Your Name" erzählt von zwei ganz gewöhnlichen Jugendlichen, die eine Weile lange jeden Morgen im Körper des anderen aufwachen. Selbstverständlich sind sie mit Mitsuha, die mit ihrer kleinen Schwester bei ihrer Großmutter auf dem Lande lebt, und Taki, der in Tokio aufwächst, auch gender-gegensätzlich besetzt. Es ist allerdings nur kurz platt komisch, wenn beim Wechsel der falsche Taki mit seiner femininen Seite plötzlich bei einer Kollegin punktet und der echte im Körper von Mitsuha morgens erstaunt ihre Brüste befühlt. Beide sind gehörig desorientiert, kommunizieren dann irgendwann über ihre Smartphones mit Tagebücher, Fotos und Regeln. Denn auch die Umgebung staunt über die täglichen Veränderungen. Dem Versuch, sie endlich mal live zu erleben, steht ein düsteres Schicksal entgegen.

Das gab es für Erwachsene schon mal altmodischer mit Keanu Reeves und Sandra Bullock in Alejandro Agrestis schönem „Das Haus am See"; das erinnert ebenso an Philosophisches aus „Sophies Welt" wie an Märchenhaftes von Michael Ende. Dabei ist „Your Name" bis zum spannenden Ende a la „Made in Heaven" von Alan Rudolph ungeheuer reizvoll und raffiniert, mit flotten Montagen und ungewöhnliche Perspektiven exzellent inszeniert und bei den Landschaften vom ländlichen Herbst oder dem emsigen Tokyo sehr schön gezeichnet. Ein rituell geflochtenes Band repräsentiert den Fluss der Zeit, in dem sich Fäden verlieren und wieder zusammenfinden. Die Schicksalsfäden des nordischen Nornen sind da nicht weit.

„Your Name" basiert auf dem gleichnamigen Roman von Makoto Shinkai und war der erfolgreichste japanische Filmrelease seit „Chihiros Reise ins Zauberland". Die verdrehte, bittersüße Liebesgeschichte mit einem heftigen Einschlag des Schicksals und auch traurigen Momenten hat das Zeug zum Klassiker.

8.1.18

Tad Stones und das Geheimnis von Köng Midas

Spanien 2017 (Tad Jones and the Secret of King Midas) Regie: David Alonso, Enrique Gato 94 Min.

Indiana Jones als Zeichentrick fehlte eigentlich noch in der Verwertungskette dieser populären Kino-Figur. Spanien war da schneller als Hollywood und ersetzte das faltige Gesicht von Harrison Ford mit der glatten Plastikfigur, die nicht nur Bauarbeiter ist, sondern auch aussieht wie Bob der Baumeister. Für entsprechend junges Publikum geht Tad Jones wieder auf Schnitzeljagd mit archäologischen Relikten und muss dabei auch noch seine Freundin, die Archäologin Sara Lavroff retten. Dem deutschen Verleih ist diese billige Kopie anscheinend so peinlich, dass er aus Tad Jones einen „Tad Stones" macht!

Diesmal müssen drei Teile einer Halskette von König Midas bei einer Reise nach Spanien gefunden werden. Midas verwandelte bekannterweise in der griechischen Mythologie alles was er berührte zu Gold. Diesen Fluch nimmt der schurkige Millionär Jack Rackham gerne in Kauf, seine Schergen sorgen für Verfolgungsjagden und kindgerechte Mini-Action. Dass Tad die ganze Zeit eine Liebeserklärung an Sara loswerden will und dessen Assistentin Tiffany eifersüchtige Ränke ausführt, ist für dieses Genre viel zu altbacken. Zum Glück ist auf die Sidekicks Verlass, und das gleich doppelt: Ein tollpatschige Mumie macht als Flamenco-Tänzerin oder als Elvis-Double tatsächlich mal Spaß und das zerstrittene Duo aus Hund und Papagei sorgt sicher für Lacher bei den Kleinen. Ansonsten erweist sich Tad Jones als billige Kopie einer Kino-Reliquie.

Wonder Wheel

USA 2017 Regie: Woody Allen mit Kate Winslet, Jim Belushi, Justin Timberlake,
Juno Temple 102 Min. FSK: ab 12

Ein Strand-Boulevard der zerbrochenen Träume ist die New Yorker Vergnügungs-Meile Coney Island für vier Menschen: Ginny (Kate Winslet), Ex-Schauspielerin, Mutter und Frau in zweiter Ehe, arbeitet in einem unpersönlichen Krabben-Imbiss. Ihr grober Mann Humpty (Jim Belushi) betreibt ein klapperiges Karussell und auch privat läuft es nicht rund. Seine einst verstoßene Tochter Carolina (Juno Temple) kommt mittellos angekrochen und muss sich vor der Gangsterbande ihres Mannes verstecken. Nur der junge Rettungsschwimmer Mickey (Justin Timberlake) strahlt und träumt noch von einer Karriere als Bühnenautor.

Wenn Popstar Justin Timberlake als Bademeister mit Leidenschaft fürs Melodram eine Geschichte erzählt, klingt das sehr nach Woody Allens verschmitztem Blick auf Leben und Kunst. Doch der gut gebaute und literarisch unterfütterte Lebensretter am Strand von Coney Island bleibt letztlich eine lächerliche Randfigur im großen Drama um die von Kate Winslet atemberaubend gut gespielte tragische Heldin.

Ginny erzählt gerne, dass sie einst ein Star war - fast. Nun träumt die 40-Jährige von verpassten Chancen und spielt dabei angeblich nur die Kellnerin im Fischrestaurant. Dass der 14 Jahre jüngere Bademeister ein Verhältnis mit ihr beginnt und vielleicht sogar ein Stück für sie schreiben würde, ist Lichtblick im trüben Leben zwischen den Jahrmarkts-Attraktionen. Wie in Allens „Radio Days" ist die historische Zeitstimmung ein Genuss. Die 50er-Jahre im Vergnügungspark auf Coney Island zeigen sich aber nie als leichter Spaß. Miese Jobs im Schnellrestaurant, der Lärm der Schießbude, selbst die Flucht des zündelnden Juniors ins Kino gewährt keine Erleichterung heiler Welten.

Und so bekommt Ginnys kleines Glück direkt Schattenseiten, weil Humpty nicht nur Zeit und Energie für die verloren geglaubte Tochter aufbringt. Die Prinzessin braucht zuhause nichts zu tun und ihr Geld vom Kellnerjob darf sie behalten, während Ginnys Sohn aus erste Ehe teure Therapie-Stunden hat, denn er zündet alles mögliche an. Und nun interessiert sich Mickey auch für Ginnys Stieftochter Carolina.

Bis zur atemberaubenden, finalen Bette Davies-Szene ist diese Ginny von Kate Winslet ein zutiefst zerrissener Charakter - auf faszinierende und verstörende Weise. Das aufopferungsvolle Leben dieser Frau, die erkennbar in jungen Jahren ganz anders strahlte, berührt und erschüttert. Die Behandlung durch den groben Klotz Humpty wirkt skandalös, doch Ginny betonnt, dass er sie einst rettete, während sie ihn vom Alkohol fernhält. Eine traurige Symbiose, selbst ein Hauch von Liebe bei ihm schmerzt nur. Allerdings scheint in den Träumen einer besseren Zeit auch ein selbstüberschätztes Starlet durch und vielleicht war die junge Ginny ja eine ziemlich unerträgliche Zicke.

Woody Allen inszeniert für diese Amazon-Produktion mit kleinerem Etat und Ensemble, wobei „Wonder Wheel" auch dank Winslet Woodys bester Film seit langem ist. Das ganz große Melodram wählt bewusst das kleine Set einer Wohnung über der Schießbude. Durchsichtig wie ein Aquarium menschlicher Kuriositäten bietet diese Bühne mit künstlichem, überdramatischem Licht (Kamera: Vittorio Storaro) Szenen, die größer als das Leben sind. Vielleicht kann diese reife Winslet, zerrissen zwischen Leiden und Schuld, tatsächlich ihr Bild als Titanic-Gallionsfigur aus dem Kino-Gedächtnis verdrängen.

1.1.18

Greatest Showman

USA 2017 Regie: Michael Gracey mit Hugh Jackman, Michelle Williams, Zac Efron, Zendaya 105 Min. FSK: ab 6

Die ganz großen Träume, Unterhaltung für die Herzen der Menschen und Meister im Marketing. Überdeutlich erzählt „Greatest Showman" nicht nur die Geschichte der Zirkus-Größe Phineas Taylor Barnum (1810-1891), sondern auch vom Selbstverständnis des Hollywood-Films. Allerdings zeigt ausgerechnet dieses Musical, wie viele andere Hollywood-Produktionen, dass das meiste Show ohne Substanz ist. Also nur „fake", falscher Schein, was dem größten Show-Mann Barnum selbst ein Leben lang vorgeworfen wurde. Ironischerweise „faken" bei diesem Film vor allem Leute Mittelmaß, die durchgehend mehr könnten.

Nach einer großen Shownummer direkt zu Anfang geht „Greatest Showman" biografisch zurück in die Jugend von P.T. Barnum, Sohnes eines armen Zimmermanns. Mit der nächsten Gesangsnummer ist Barnums Liebe zur schwer reichen Jugendfreundin Charity besiegelt und auch gleich eine Familie gegründet. Der arme und arbeitslose Barnum (Hugh Jackman) erweist sich in New York als Geschichtenerzähler und Visionär. Eine ganze Reihe von „Freaks", ein Zwerg, ein Riese, die Frau mit Bart, Menschen mit dunkler oder albino-blasser Haut, kann er überzeugen, dass sie als seine Attraktionen nicht bloßgestellt werden. Die Show wird ein Erfolg beim Publikum und vom freudlosen Kritiker verrissen.

In dem Film, der jedes Problem in nur einem Liedchen löst, folgen noch zwei richtige Dramen um den Erfolgsmann Barnum, der sich selbst in die Rolle des Emporkömmlings bringt, die er mir all seinem Tun eigentlich loswerden will. Und um eine gemischt farbige Liebe, die auch ein Duett erstmal nicht zusammen bringen kann.

„Greatest Showman" ist genau das nicht, was Zirkus sein will: Atemberaubend ohne Netz und doppelten Boden. Es ist eine Show und ein Investment, die jede Lebensversicherung oder Kreissparkasse finanzieren würden. Nicht zu vergleichen mit „La La Land", obwohl die gleichen Komponisten Benj Pasek und Justin Paul am Werk waren, und vor allem nicht mit „Baby Driver". Hier gibt es nur zu eingängige Lieder mit zu vielen zu langgezogenen und zu hohen Tönen. Und dazu tatsächlich nur ein paar bescheidene Momente filmischer Akrobatik, wie den Tanz auf dem Dach von Barnum und Charity (Michelle Williams) synchron zu den wehenden Bettlaken. Hier oben ist „Greatest Showman" am nächsten dran am größten Musical der letzten Jahrzehnte, an Baz Luhrmanns „Moulin Rouge". Um im Rest des Films irgendwo unten rumzudümpeln mit stromlinienförmigem Hollywood-Gejaule für die Hitparaden des mittelmäßigen Geschmacks. Dazu Fernsehballett-Hupfdohlen mit dem Abzappeln einer VHS-Gruppe für irische Folktänze.

Ein zahmer Wolverine Hugh Jackman in der Hauptrolle, ein zahmes „Moulin Rouge" und ein „La La Land" fast ohne filmische Genialität. Das stärkste der Liedchen ist noch „This is me", der Protestsong der Außenseiter, die hier allerdings tatsächlich als Freaks ohne eigene Geschichte auftreten müssen. Jackman als Barnum, der 1986 von Burt Lancaster gespielt wurde, ist singend längst nicht so eindrucksvoll wie als kränkelnder X-Man „Logan". Die Singerei lässt auch Michelle Williams nicht richtig spielen und richtig singen können sie sowieso nicht. Dass ausgerechnet der ausgezeichnete Autor und Regisseur Bill Condon („Chicago", 2002, „Dreamgirls", 2006), der 1998 mit seinem „Gods and Monsters" Freaks wie Frankensteins Monster und dessen filmischen Schöpfer James Whale verteidigte, hier mitgeschrieben haben soll, komplettiert die ärgerlich bescheidenen Leistungen in den wichtigsten Ressorts. Nur von Michael Gracey, bislang Regisseur von Werbefilmen und Musikclips, hat man bei seinem Spielfilmdebüt nichts erwarten können. Und das hat er hinbekommen.