3.10.17

Blind & Hässlich

BRD 2017 Regie: Tom Lass mit Naomi Achternbusch, Tom Lass, Clara Schramm 105 Min. FSK: ab 12

Während in dieser Kinowoche alles vor „Blade Runner 2049" in Deckung geht, traut sich der sensationelle deutsche Film „Blind & Hässlich" einiges: Hollywood verkauft meist „Bigger than life", die wunderbar leichte, echte und ehrliche Tragikomödie ist dagegen „Lifer than life". Hier steckt mehr Leben drin, als in den viel teureren Produktionen, deren Werbeetat allein so ein kleines Wunder wie „Blind & Hässlich" unterbuttern will.

Regisseur Tom Lass spielt selbst den extrem scheuen und seltsamen Ferdi, der meist im Wald haust. Ab und zu kommt er aus dem und auch aus sich raus, um eine Frau, die ihm gefällt, als erstes zu fragen, ob sie seine Freundin sein will. Wenn er nicht dafür festgenommen und zur Therapie in eine Psychiatrie eingewiesen wird, dann für die Mundraube auf Bauernhöfen, wo er aus Schweinetrögen isst und dafür von Bauern blutig zusammengeschlagen wird. Zwischen seinen Therapie-Sitzungen, in denen Ferdi mit einer eigenen Logik überzeugt, trifft er auf Jona (Naomi Achternbusch), die gerade einen „kaputten" Blindenhund zurück bringt. Da die Schulabbrecherin gerade mal blind ist, um in Berlin in einem Blindenheim ein Zimmer zu bekommen, kann der unsichere Ferdi sie an sich ran lassen. Eine wunderschöne Liebesgeschichte beginnt. Mit der süßesten Sexszene seit langem ist das Filmvergnügen allerdings noch lange nicht zu Ende.

Wie frech und raffiniert berechnend die junge Jona bei ihrer Mutter abhaut, Schmuck und das Protzer-Auto klaut, dann den Hausmeister des Blindenheims (Peter Marty) um den Finger wickelt, ist witzig, eindrucksvoll und geht eigentlich gar nicht. Doch um „eigentlich" scheren sich weder Jona noch der Film. So wie im Film verhalten sich echte Polizisten niemals, was schade ist. Und auch Therapeuten werden selbstverständlich nicht authentisch repräsentiert, was nicht verhindert, dass eine Menge Wahrheit und echtes Leben aus diesen echt guten und witzigen Szenen hervorsprudelt. Wenn das die Coen-Brüder machen würden, wäre die Welt in begeistertem Aufruhr.

Bei teilweise frappanter Klarheit der Bilder wird wild geschnitten und enorm kraftvoll erzählt. Hier muss nicht für den letzten begriffsstutzigen Popcorn-Esser alles erklärt werden, es gibt kein unnötiges Gerede. Psychologisieren darf nur des Hausmeisters Fingerpuppe Freud.

Naomi Achternbusch, Tochter des Filmemacher-Unikats Herbert Achternbusch („Das Gespenst"), zeugt in der Hauptrolle von der Wertschätzung, die Regisseur Tom Lass mittlerweile genießt. Mitgemacht hat auch der bekannte Regisseur und Autor Dietrich Brüggemann („Kreuzweg", „Renn, wenn du kannst") in einer kurzen Szene als Tom Lass, und Toms Bruder Jakob Lass (Regisseur von „Tiger Girl" und „Love Steaks") war hinter den Kulissen dabei. Man darf die beiden Anfang der 80er-Jahre Geborenen, die auch als „Lass Bros" firmieren, durchaus als die bemerkenswerteste junge Bewegung im deutschen Film herausleuchten. Mit hauptsächlich improvisierten Szenen erschaffen sie ein einzigartige Frische und Lebendigkeit, die sowohl Film-Märchen als auch echtes Melodram sehenswert beleben. Mittlerweile hebt die Senderbeteiligung von ZDF/Das kleine Fernsehspiel den neuen Lass aus dem bisherigen Bereich des No- und Low-Budget hervor. Das passt zu der Beteiligung des fetten, etablierten Produzenten Constantin Film am genialen „Tiger Girl" seines Bruders Jakob Lass. Doch keine Sorge, auch das zeichnet die tollen Figuren der Lass Bros aus - sie lassen sich von großen Autoritäten nicht unterkriegen und folgen trotzig ihrem herrlich eigenwilligen Weg.