31.10.16

Eine Geschichte von Liebe und Finsternis

Israel, USA 2015 (A Tale of love and darkness) Regie: Natalie Portman mit Natalie Portman, Gilad Kahana, Amir Tessler 98 Min. FSK: ab 12

Natalie Portman ist nicht nur das hübsche Gesicht der Queen Amidala aus „Star Wars". Seit dem Anfang ihrer Karriere, 1994, in der Lehre des Auftragskillers „Léon", gespielt von Jean Reno, hat sie Rollen angenommen, die sich selbst und die Zuschauer forderten. Als Höhepunkt und Beispiel muss ihr oscarprämierter „Black Swan" gesehen werden. Auch hier spielte sie wieder mit einem Regisseur, der nicht zur populärsten Liga Hollywoods gehört.

Nun verfilmt die Frau, die 1981 in Jerusalem geboren wurde und jung in die USA zog, die in Jerusalem spielende Autobiografie von Amos Oz. Mit der Mutter des Protagonisten als Hauptfigur, gespielt von Natalie Portman. Die Jugend von Fania (Portman) in Polen wird brüsk beendet von einem Massaker der Nazis. Nach der Flucht lebt sie in Jerusalem unter dem Protektorat der britischen Armee. Sie träumt von einem starken, intellektuellen Kibbuz-Bewohner, ist aber mit einem erfolglosen Autor verheiratet. Während ein UN-Beschluss 1947 die Gründung eines israelischen Staates absegnete und in den Jahren darauf ein Krieg mit den arabischen Nachbarn stattfand, verschlechtert sich der psychische Zustand von Fania. Migräne und Depressionen stoppen auch die schönen Geschichten, die sie immer ihrem Sohn Amos (Amir Tessler) erzählte. Während der andauernden Fürsorge für die bald betrogene Mutter entwickelt sich der stille Junge selbst zum Erzähler, der mit selbst erfundenen Abenteuer-Geschichten die prügelnden Mitschüler abwehrt.

„Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" erzählt von der Jugend eines berühmten Autoren, von Jerusalem und Israel. Wie der junge Amos unter dem Tisch die Geschichten der Frauen belauscht, erinnert an Elias Canettis Kindheitserinnerungen. Nur wo dort Liebe war, herrscht hier vor allem Finsternis. Überzeugend verkörpert von Natalie Portman, doch um sie herum fällt ausgerechnet ihr eigener Film stark ab. Zwar gibt es ab und zu gelungene Bilder, auch ein paar eindrucksvolle Szenen vom Sterben im ausbrechenden Nahostkonflikt. Jedoch, ebenso wie der nicht eindrucksvoll gespielte Junge bleibt auch der Film davon seltsam unberührt.

Dass dies teilweise seelenlos wirkt, mag auch an der deutschen Synchronisation liegen. Doch letztendlich ist das mit Ironie und Melancholie erzählte Drama in dieser Form das Leiden nicht so sehr am Holocaust sondern an der Entwurzelung einer verwöhnten polnischen Bürgertochter in Jerusalem. Die wenigen Off-Texte aus den Memoiren von Amos Oz machen vor allem neugierig darauf, wie viel mehr und besser das Buch wohl erzählt. So beeindruckt ein sehr treffender Satz über den Kern des Nahost-Konflikts mehr als die keineswegs einseitig zusammengerafften historischen Details: Oz wundert sich darüber, dass wieder zwei Verfolgte gegeneinander kämpfen, statt sich vielleicht sogar vereint gegen die eigentlich unterdrückenden Nationen zu wenden. Im Verständnis für beide Seiten gewinnt der Film Natalie Portmans einige Sympathien. Schon in „Free Zone" (2005) von Amos Gitai überschritt sie als Schauspielerin ganz offen die Grenzen zu den besetzten palästinensischen Gebieten. Filmische Grenzüberschreitungen lässt „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" allerdings vermissen. Es ist eine Literatur-Verfilmung, deren Länge man lieber lesend verbracht hätte.

26.10.16

Doctor Strange (2016)

USA 2016 (Dr. Strange) Regie: Scott Derrickson mit Benedict Cumberbatch, Chiwetel Ejiofor, Rachel McAdams,
Michael Stuhlbarg, Mads Mikkelsen, Tilda Swinton 115 Min. FSK: ab 12

Mitnichten noch ein Superhelden-Film zaubert Marvel diese Woche auf die Leinwand. Mit „Doctor Strange" werden die Gesetze von Zeit, Raum und Superhelden-Erzählroutine außer Kraft gesetzt. Sensationelle Visionen, die „Inception" mit Escher potenzieren, sowie dank Benedict Cumberbatch, Tilda Swinton und Mads Mikkelsen Schauspiel-Zwischenspiele vom Feinsten. „Doctor Strange" ist eine sehenswerte Superhelden-Episode auch für Cineasten, die ansonsten richtige Filme lieben.

Dieser Doctor Strange wirkt seltsam im Superhelden-Einerlei unseres Jahrzehnts. Nicht nur, weil er sich an seinen Hippokratischen Eid hält und lieber verzaubert als meuchelt. Der Film „Doctor Strange" erzählt, wie aus dem sehr guten und sehr arroganten Chirurgen Dr. Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) zuerst dank Handy am Steuer ein gebrochener Mann mit noch mehr gebrochenen Fingern wird. Der Mann, der Welt in seinen Händen und in der Luxus-Wohnung auch zu seinen Füßen hatte, sucht nachdem die westliche Medizin ihn nicht weiter bringt, Rettung in Asien. Die Älteste (Tilda Swinton), Leiterin einer geheimnisvollen Schule, macht ihn zum Schüler einer eindrucksvollen Magie.

Was die besonderen Mönche mit ihren Händen können, zeigte schon der sagenhafte Prolog bei einem Kampf der Ältesten gegen Kaecilius (Mads Mikkelsen), einem ehemaligen Schüler, der ein dunkles Paralleluniversum die Erde verspeisen lassen will. Da falten sich ganze Häuserzeilen zusammen, aus Giebeln werden tödliche Zahnräder und Wohnblöcke walzen gefährlich heran, während oben, unten, rechts und links dauernd wechseln. Auswege gibt es nur über flugs gezauberte Portale an andere Orte.

So entfalten sich gleichzeitig mit den Städten und Sphären in atemberaubender Tricktechnik auch neue Welten in Sachen Superhelden-Film. Das Marvel-Studio faselt zwar dauernd irgendwas von Phasen, die letztendlich wohl zur Weltherrschaft des Medien-Konzerns führen sollen, aber ein wirklich großer Schritt für die Menschheit ist erst der Einsatz von echten Schauspielkalibern wie Benedict Cumberbatch und Mads Mikkelsen. Die können zwar nicht besser rennen als die Action-Hansels, aber zwischendurch sorgen sie immer wieder für großartige Momente. Selbst wenn Mikkelsens etwas eindimensional bleibt, haut er doch astrale Sätze raus wie einst Rutger Hauer in „Blade Runner".

Unglaubliche Welten gesehen hat auch der Zuschauer dieses absolut außergewöhnlichen Marvel-Films. Zudem noch eine echt gute, tragische Geschichte. Allerdings wird der seltsame Doktor immer mehr zum Komiker, weil seine Scherze nicht richtig ankommen, was wiederum witzig ist. So macht ein Kampf der Astralkörper, während Stranges echter Körper wiederbelebt wird - doppelt Spaß. Bei allem erzählerischen und optischen Hokuspokus, gibt es als Bonus noch einige tiefgehende asiatische Weisheiten. Ob auch dies der Entstehungszeit der erstmals 1963 erschienenen „Doctor Strange"-Comics geschuldet ist? Die atemberaubenden digitalen Visionen unserer Zeit setzen auf jeden Fall die Augen- und LSD-Trips der Sechziger fort, die sich angeblich angesichts der visionären Strange-Bilder ergänzten. Jetzt sind sie ein gefundenes Fressen für 3D. Ein echter Kinotrip, ähnlich wie „Avatar", wenn auch im Trick weniger organisch. Sehenswert ist „Doctor Strange" auf jeden Fall, niemand sollte sich vom Superhelden-Label abschrecken lassen.

25.10.16

Störche - Abenteuer im Anflug

USA 2016 (Storks) Regie: Nicholas Stoller, Doug Sweetland 87 Min. FSK: ab 0

„Störche" ist einer dieser vielen (Zeichentrick-) Filme mit AHDS. Es vergehen keine fünf Minuten, bevor irgendetwas durch die Gegend rast, in die Luft fliegt oder einfach mal rumzappelt. Das geht selbstverständlich einher mit viel Geschrei und Kreischen. Unweigerlich werden auch die Scherze in diesem Affentempo abgefeuert. Dabei sind Geschichte und Ideen sehr reizvoll: Störche bringen keine Babys mehr, viel lukrativer sind sie als Paketzusteller im Stile von Amazon, UPS und Co. Storch Junior hofft auf die Firmenleitung, muss allerdings ein großes Problem für die Firmenbilanz beseitigen. Das Mädchen Tulip, einst wegen fehlender Adress-Angabe nicht ausgeliefert worden, sabotiert tollpatschig den gefiederten Laden. Nun wirft sie sogar die alte Babymaschine wieder an. Auf einer gemeinsamen Odyssee müssen Junior und Tulip ein Baby ausliefern und vor ziemlich flexiblen Wölfen retten. Was vor allem bei Tulip und ihrem Sprechdurchfall eher nervig ausfällt. Gleichzeitig entdecken die Empfänger - ein Workaholic-Pärchen mit Einzelkind - wieder das gemeinsame Familienleben. Dergestalt entwickelt sich der immer wieder komische aber inhaltlich erzkonservative Kinderfilm „Störche" mit ein paar Popsongs ein penetrantes Propaganda-Video fürs Eltern-Glück.

Kubo - Der tapfere Samurai

USA 2016 (Kubo and the two Strings) Regie: Travis Knight 102 Min. FSK: ab 6

Der ganz besondere Zeichentrickfilm „Kubo - Der tapfere Samurai" erzählt endlich mal eine originelle Geschichte mit ungewöhnlicher und sehr reizvoller Ästhetik: Der Junge Kubo lebt im historischen Japan und kümmert sich um seine Mutter, seit sein Vater verstorben ist. Schon Kubos Alltag ist fantastisch, wenn der einäugige Junge auf dem Markt aus lauter Papierstücken Origami-Figuren zaubert und mit seiner japanischen Shamisen-Laute zu mythischen Geschichten animiert. Hinter seiner Augenklappe verbirgt sich ein Geheimnis und der Mythos von Kubos Großvater, dem Mond, der ihm ein Auge raubte und auch noch hinter dem zweiten her ist. Auf der Flucht vor grausamen Tanten und auf der Suche nach seiner wahren Bestimmung trifft der kleine Held mit den sagenhaften Fähigkeiten auf eine strenge Affen-Frau, die für Buddy-Momente sorgt. Geführt werden sie bei der Reise durch Wüste und übers Meer von einer winzigen Papier-Nachbildung seines Vaters in Ritterrüstung. Die Gesellschaft komplettiert der wie ein Käfer gepanzerte Samurai, der tatsächlich Schwierigkeiten hat, aufzustehen, wenn er auf dem Rücken landet.

Das ist im Wechsel witzig und sehr magisch. Kubo baut mit der Kraft seiner Fantasie ein großes Boot aus Laub-Blättern. Bald streiten sich Affe und Käfer wie Eltern, nebenbei macht ein unzerstörbares Schwert leckeres Sashimi. Wenn eine 3D-Erzählung faszinierend in Origami eingefaltet daherkommt, gibt es sogar wundersame Action, bei der kein Blut spritzt - hier fliegen nur rote Papierfetzen. Raffiniert und ausgefeilt wie die schöne Familien-Geschichte sind auch Figuren und Charaktere. Ein seltener Genuss für Augen, der auch noch den Blick erweitert. „Kubo - Der tapfere Samurai" stammt vom Animationsstudio Laika, das bereits für „Coraline" und „Die Boxtrolls" realisierte.

Die Wildente (2015)

Australien 2015 (The Daughter) Regie: Simon Stone mit Sam Neill, Miranda Otto, Geoffrey Rush, Paul Schneider, Odessa Young und Ewen Leslie 96 Min.

Eine neue Verfilmung von Henrik Ibsens Theaterstück „Die Wildente" führt den Stoff in die Gegenwart und in eine packende Erzählung, unterstützt von einigen der besten australischen Schauspieler: Zur Hochzeit seines Vaters Henry (Geoffrey Rush) mit der sehr viel jüngeren Anna (Anna Tory), seiner ehemaligen Haushälterin, kehrt Christian (Paul Schneider) in seine Heimatstadt zurück. Gerade hat der wohlhabende Henry sein Sägewerk geschlossen, unter den vielen Arbeitslosen ist auch Oliver (Ewen Leslie), ein alter Freund Christians. Während Olivers Leben mit Frau Charlotte (Miranda Otto) und der aufgeweckten Teenager-Tochter Hedvig (Odessa Young) trotz drohender Finanzprobleme herzlich und harmonisch erscheint, leidet Christian. Seine Frau hat ihn verlassen, auch wegen seines Alkoholismus. Jetzt ist er seit ein paar Wochen trocken und hofft auf eine Rückkehr.

Der kleine Ort ist durchzogen von einem Netz intensiver persönlicher Beziehungen. Christian gibt dem Vater und sich immer Schuld am Tod seiner Mutter. Hedvig möchte das erste Mal mit ihrem Freund schlafen. Ihr Großvater Walter (Sam Neill) schweigt auch über eine alte Schuld von Henry, für die er ins Gefängnis ging. Nur Christian will nicht mehr schweigen, als er erfährt, dass sein Vater schon mal mit einer Haushälterin ein Verhältnis hatte, nämlich mit der Frau seines Freundes Oliver. Seine eigene Frustration und Verzweiflung glorifiziert der heimgekehrte und bei der Generalprobe zur Hochzeit wieder betrunkene Sohn als Wahrheit. Eine Wahrheit, die das Netz der Beziehungen brutal zerreißt.

„Die Wildente" weist als Film keine Spuren von Theater oder Bühne mehr auf, erlaubt sich Auslassungen auch im Text, die das Drama verstärken. Die furchtbaren Wahrheiten müssen so exakt inszeniert gar nicht mehr ausgesprochen werden. Überhaupt ist das Spielfilmdebüt von Simon Stone, der das Stück auch auf der Bühne aufführte, tatsächlich nur „nach Motiven von Henrik Ibsens Theaterstück „Die Wildente". Im sozialen Umfeld einer durch Entlassungen verlassenen Stadt ist das Werk von 1885 ganz gegenwärtig und aktuell. Besonders frei und offen fällt das tragische Ende aus.

Der Dachboden mit den zahmen Tieren, auf dem die alten Freunde im Theater „auf Jagd gehen", also das Motiv einer negativen Illusion, wandelt sich im Film zum paradiesischen Schutzraum für bedrohte Tiere. Ganz wunderbar die Szene, in der Aussprache zwischen Tochter Hedvig und Mutter Charlotte ausgerechnet in der Vertretungs-Klasse Geschichte stattfindet, welche die Lehrerin Charlotte übernommen hat. Großartig gespielt von Miranda Otto als Olivers Frau Charlotte und Odessa Young als seine Tochter Hedvig. Auch die australischen Schauspiel-Größen Sam Neill, Geoffrey Rush, Paul Schneider und Ewen Leslie nutzen die Gelegenheit des guten Stoffes und der großartigen Inszenierung, um zu zeigen, wie gut sie tatsächlich sind.

Nicht nur losgelöst von der Akt-Dramaturgie, ganz eigenständig begeistert „Die Wildente" im Filmischen: Kamera (Andrew Commis), Montage (Veronika Jenet) und Soundtrack (Mark Bradshaw) ergeben eine starke Präsenz der sozialen und persönlichen Dramen. So frei und genial erschüttert, berührt und begeistert Theater auch im Kino.

24.10.16

Girl on the Train

USA 2016 (The Girl on the Train) Regie: Tate Taylor mit Emily Blunt, Haley Bennett, Rebecca Ferguson, Justin Theroux, Luke Evans 113 Min. FSK: ab 16

Rachel (Emily Blunt) pendelt täglich aus einem Vorort nach New York. Genau vor der Villen-Reihe am Ufer, dort wo sie einst lebte hält, der Zug. Und noch mehr als vom kurzen Blick in fremde Leben ist Rachel fasziniert von einer ehemaligen Nachbarin und ihrem anscheinend sehr aktiven Liebesleben. Bis die blonde Frau auf dem Balkon einen Fremden umarmt und küsst. Rachel steigt am Abend aufgeregt in der alten Nachbarschaft aus und am Tag danach ist das Objekt ihrer Neugierde verschwunden.

Ist Rachel die Mörderin von Megan (Haley Bennett als Jennifer Lawrence-Double)? Nun sind die Eindrücke aus der Perspektive der verlassenen Ehefrau Rachel mit Vorsicht zu genießen. Sie ist Alkoholikerin und zumindest auf der Rückfahrt immer betrunken. Nach der Trennung von ihrem Ehemann Tom (Justin Theroux) hat sie sich nie wieder gefangen und steht zu oft vor dem ehemaligen Heim, in dem Tom nun mit Anna (Rebecca Ferguson) und dem gemeinsamen Kind lebt. Zudem war Megan auch Kindermädchen bei Tom und Anna...

Von einer verspielten Fantasie zum das Leben in fremden Wohnungen entwickelt sich der komplexe und raffinierte Thriller „The Girl on the Train" über das Psychogramm einer verlassenen Frau zur gefährlichen Suche nach einer Verschwundenen. Denn als Rachel mit Hilfe einer ihrer vielen Lügen Scott (Luke Evans), den Freund von Megan, kennenlernt, kann sie mit dieser detektivischen Beschäftigungs-Therapie zeitweise das Trinken aufgeben. Leider ist Rachel für alle Beteiligten und auch für die Polizei höchst unglaubwürdig und sehr verdächtig. Sie selbst erinnert sich nur schemenhaft daran, was sie betrunken am Abend des Verschwindens erlebt hat.

Diese im eigenen Leben heftig entgleiste Rachel ist keine schöne Rolle für Emily Blunt. Die Schauspielerin war bekannt aus „The Huntsman & The Ice Queen", „Edge Of Tomorrow", als leicht durchgedrehte Frau des Bäckers aus der Märchen-Komödie „Into the Woods" und vor allem als zukünftige Herrscherin im Historiendrama „Young Victoria". Nun berührt sie direkt mit ihren Monologen. erschreckt mit den Anzeichen des Verfalls und ist vor allem nie „schön". Auf eingeschränkte Anteilnahme setzt der Film nach Paula Hawkins' gleichnamigen Roman: Gesichter in Großaufnahme sprechen in die Kamera, doch Zweifel untergraben die subjektive Perspektive.

Das Besondere an diesem Film, der erst zum Ende hin ganz Thriller wird, zeigt sich in der zwar verwirrenden, aber stark anziehenden Komplexität der Porträts dreier Frauen: Der Kampf mit sich und der Vergangenheit bei Rachel, die schamlose Verzweiflung einer Verlassenen bis hin zu Gewaltfantasien. Die Zerrissenheit im bürgerlichen Setting an der Seite eines rauen Machos bei der Verführerin Megan, deren Sitzungen bei einem Psychologen wir miterleben. Und irgendwie auch die zickige Ehefrau und Mutter Anne, der man durchaus auch einen Mord aus Eifersucht zutrauen könnte.

Man könnte fast Hitchcock mit einem „Fenster zum Bahnhof" herbeizitieren, denn ganz klassisch führt die Suche nach einem Mörder die gebrochene Heldin letztlich zu sich selbst. Und dass sie sich selbst nicht trauen kann, war schon immer ein starkes Moment der besseren Exemplare in diesem Genre. Aber vor allem das Drumherum von Zeichnung der Figuren bis zum exzellenten Spiel vor allem bei Emily Blunt machen „The Girl on the Train" von Tate Taylor („Get On Up", „The Help") so sehenswert.

18.10.16

Hinter den Wolken

Belgien 2016 (Achter de Wolken) Regie: Cecilia Verheyden mit Chris Lomme, Jo De Meyere, Katelijne Verbeke 109 Min. FSK: ab 0

Der reife Liebesfilm „Hinter den Wolken" beweist, dass Flandern nicht nur Dimitri Verhulsts „Beschissenheit der Dinge" oder „Das wahre Sexualleben der Belgier" zu bieten hat. Kurz nach dem Tod ihres Mannes erhält Emma (Chris Lomme) eine Nachricht auf Facebook: „will dich sehen". Der Autor, der früher wunderbare Liebebriefe schrieb, ist Gerard (Jo De Meiere), eine alte Liebe von vor 50 Jahren. Er verzichtet damals für seinen Freund auf Emma. Jetzt steht er wieder mit Rosen unter ihrem Fenster und wirft Steinchen. Emma zögert, fühlt sich bedrängt, doch sie ist laut eigener Aussage „eine Frau, nicht nur eine Witwe". So wird aus dem gemeinsamen Reden und Ausessen eine erste gemeinsame Nacht.

Im Gegensatz zu Andreas Dresens „Wolke 9" entfernt sich die Kamera nach einem humorvollen körperlichen „Realismus Check" und vor dem Sex. Die Annäherung ist sehr rührend. Nach der Vorlage von Michael De Cocks Theaterstück „Achter de wolken" suchen Frauen dreier Generationen nach der echten Liebe. Dabei ist „Hinter den Wolken"- bis auf eine kunstvolle Szene am Ende - ein unaufgeregter, undramatischer Liebesfilm. Um es positiv zu sagen. Die Offenheit der beiden erfahrenen Menschen ist erfreulich. Die Situationen sind realistisch. Dabei stellt sich die Frage, ob ein so wenig verdichtetes Leben ins Kino locken kann. Die Brüder Dardenne, die mit ihrer Lütticher Produktionsfirma „Les Films du Fleuve" das Spielfilmdebüt förderten, stehen für solche einen Realismus. Dass man im Alter nicht aufhören sollte zu träumen, schlägt dann zum Glück noch das Ende vor.

Das kalte Herz (2016)

BRD 2016 Regie: Johannes Naber mit Frederick Lau, Henriette Confurius, Moritz Bleibtreu, Milan Peschel 119 Min. FSK: ab 12

Wenn ein Heimatfilm zur Fantasy-Geschichte wird, wenn ein deutsches Märchen aussieht wie eine Reise zu anderen Kontinenten, dann ist ein Film schon mal sehr interessant. Johannes Naber („Zeit der Kannibalen") macht aus Wilhelm Hauffs oft verfilmtem Märchen „Das kalte Herz" eine hoch spannende Sache - in der Handlung, in der Ästhetik und im mehrfach großartigen Schauspiel.

Wir erleben den armen Köhler-Sohn Peter Munk (Frederick Lau) zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur wegen seines Berufs aus der feinen Dorfgesellschaft des Schwarzwaldes ausgegrenzt. Die Köhler als Bewahrer einer natürlichen Kreislaufwirtschaft sehen sich auch einem brutalen Kahlschlag gegenüber, mit dem die Holzfäller dank internationalen Handels reich werden. Peters Liebe zu Lisbeth (Henriette Confurius), der Tochter des Glasmachers, überhaupt Peters Wunsch selbst Glas machen zu können, bringen ihm zu einem Pakt mit dem teuflischen Holländer-Michel (Moritz Bleibtreu). So wie dieser einst sein Herz für den Handel opferte, so raubt er Peter nun das Herz. Der reist darauf durch Europa und kehrt als reicher Mann zurück. Die Rache an der verlogenen, korrupten Gesellschaft gelingt, aber Lisbeth zerbricht am kalten Herz ihrer einstigen Liebe.

Frauen mit abstrakten Tattoos im Gesicht. Schuhplattler beim Volksfest, die in ihrer aggressiven Rhythmik eher bei den Maori als im Schwarzwald angesiedelt scheinen. Diese historische deutsche Provinz ist in „Das kalte Herz" ein großer, eigener Wurf, der völlig fremdartig vor einem steht und doch in den Inhalten und Aussagen verblüffend klar und aktuell ist. Gefangen in seiner schaurigen Höhle unter reihenweise geraubten Herzen, könnte der von Moritz Bleibtreu bedrohlich gespielte Holländer-Michel auch eine Figur aus „Game of Thrones" sein. „Glasmännchen" Milan Peschel hingegen ist im flimmernden Licht ganz romantische Märchengestalt, die sich tragisch für das Gute im Menschen opfert.

Wie „Das finstere Tal" ein exzellenter Alpen-Western war, macht „Das kalte Herz" aus Märchen einen Schwarzwald- Fantasyfilm. Das mag albern klingen und zugegeben manchmal bei den Glasmännchen auch so aussehen. Doch die ganze Geschichte bietet mit der sozialen Anklage, mit den historischen Einsichten, mit der stimmig respektlosen Interpretation vom Volkstümlichen so viel Packendes, das sich Nabers Verfilmung alter Literatur als einer der innovativsten Werke des Jahres einbrennt.

Frederick Lau, der Haupt-Jugendliche aus „Victoria", legt wieder eine klasse Facette seines Talents vor. Die 25-jährige Henriette Confurius („Die geliebten Schwestern"), die schon seit zehn Jahren vor der Kamera steht, macht mit ihrem Auftritt als ungebrochene Liebe Peters neugierig auf weitere Filme mit ihr. Aber vor allem muss man Regisseur und Autor Johannes Naber bewundern, der sowohl für das sterile Hotel-Kammerspiel „Zeit der Kannibalen" als auch für diesen eigentlich durchgehend festgelegten Märchenstoff eine ganz eigene, eindrucksvolle Filmsprache fand. Dass dabei aktuelle soziale, politische oder ökologische Themen deutlich aber nicht plakativ angesprochen werden, macht dieses sehr sehenswerte Kunststück komplett.

Bridget Jones' Baby

Großbritannien, USA, Frankreich, Irland 2016 (Bridget Jones's Baby) mit Renée Zellweger, Colin Firth, Patrick Dempsey 123 Min. FSK: ab 0

Wie zum Teufel bin ich hier wieder gelandet - fragt sich Bridget Jones (Renée Zellweger) allein besoffen im Bett. Und fragt sich der Kritiker, für den zwischen Zellwegger sehen und Horrorfilm nicht viel Unterschied liegt. Bridget Jones ist auch 15 Jahre nach dem zweiten Film auf Basis von Helen Fieldings Vorlage immer noch Tollpatsch, vor allem verbal. Dabei flüstert sie beruflich mittlerweile arriviert als TV-Produzentin mit Verstand der hübschen Sprechpuppe vor der Kamera die klugen Sätze ein. Allerdings auch ein paar Privatgespräche, was zu lustiger Irritation im Live-Programm sorgt.

Das Thema ist diesmal die Biologische Uhr - es drängen sich die Kerzen auf Bridges Torte - und immer wieder die Suche nach dem Richtigen. Der von Hugh Grant gespielte Schönling Daniel ist aus dem Rennen, er wird direkt am Anfang begraben und „die osteuropäische Model-Szene trauert". Aber Mr. Darcy (Colin Firth) ist noch da und nur scheinbar vergeben. Damit ein Film draus wird, rettet mit dem Millionär Jack (Patrick Dempsey) ein neuer Märchenprinz Bridget Jones aus dem nächsten Schlamassel. Wortwörtlich, da Bridget mit hohen Hacken im Schlamm eines Musik-Festivals steckt. Abgelaufene ökologische Delphin-Kondome sind dann wohl nur für die Natur gut. Denn das ganz große Schlamassel ist, dass die bald schwangere Bridget nicht weiß, wer von den beiden Männern der Vater ist. Bei recht übersichtlicher Handlung und mäßig komplexen Figuren muss der Film etwas dadurch gestreckt werden, dass die zukünftige Mutter beiden Liebhabern erzählt, sie seien der Vater.

Am Konzept „Bridget Jones" wirkt nur die Gesichtshaut von Renée Zellweger seltsam frisch, trotzdem ist diese filmische Midlife-Crisis immer mal wieder richtig witzig: In der News-Show, die unser geliebter Tollpatsch zum Einsammeln von DNA-Proben benutzt, droht die Hitler-Katze aus dem Internet die Herrschaft über ernste Themen zu übernehmen. Als trotzdem die Witze ausgehen, sollen die Konkurrenten Jack und Mark bei der Schwangeren-Gymnastik als schwules Pärchen durchgehen, für das Bridget ein Baby austrägt. Eine Intrige und ein Missverständnis später steht Bridget wieder völlig hilflos im Regen. Letztendlich siegt die Romantik, wobei der verstockte Mark als wahrer Gefühlsmensch die heimliche Hauptfigur ist. Was sicherlich am überragenden Schauspiel-Vermögen von Colin Firth liegt. Wenn sein Mark Darcy, von blank ziehenden Klientinnen sichtlich irritiert, trotzdem perfekt Pussy Riot vor Gericht vertritt, wenn er nach dem Einsetzen der Wehen sich zu Fuß durch das verregnete London und eine Emanzipations-Demo schlägt, ist der Slapstick fast gelungen. Tatsächlich bleibt die Emanzipation bei „Bridget Jones" nur eine Randerscheinung. Darcy letztendlich rumzukriegen, bleibt in Tradition von Jane Austen das Wichtigste – und zunehmend unbeschwerte Unterhaltung.

Ab in den Dschungel

Frankreich 2015 (Babysitting 2) Regie: Nicolas Benamou, Philippe Lacheau mit Philippe Lacheau, Alice David, Christian Clavier 93 Min. FSK: ab 12

Ein Film wie ein unbeschwerter Urlaub im Katalog der Freizeit-Ressorts. Ein großer, bunter Spaß, wenn man nicht hinter die Kulissen schaut oder sich zuviel Gedanken macht. So etwas erwarten Sonia (Alice David) und Franck (Philippe Lacheau), die mit ihren Freunden zu einem ökologischen Luxushotel in Brasilien fliegen. Das betreibt Sonias Vater (Christian Clavier), der direkt auf bösen Schwiegerpapa macht, aber auch gerade einen Tester für ein Öko-Siegel in der Hütte hat. Um dem allen zu entkommen, machen sich die großen Jungs mit neuen Freundinnen und Sonias Oma als Ballast zu einer Dschungel- und Höhlen-Tour auf. Im chaotischen Verlauf wird erst der Führer und Pilot versenkt, dann ein Flieger abgeschossen und ein Indio-Dorf abgefackelt. Dieser französische Humor könnte ein Fundstück aus den 60ger sein, etwas Nacktheit und ein paar Paarungsfotos sind ebenfalls noch kleinkindgerecht. Manchmal ist tatsächlich was Lustiges in dem komödiantischen Durchfall, aber es überwiegt die Frage, wer heutzutage solche Kommödchen aus dem TV-Nachmittag ins Kino bringt.

12.10.16

Affenkönig

BRD, Schweiz 2016 Regie: Oliver Rihs mit Hans-Jochen Wagner, Samuel Finzi, Oliver Korittke, Marc Hosemann 98 Min. FSK: ab 16

Der alte Kumpel Wolfi (Hans-Jochen Wagner) lädt zu seinem 45. Geburtstag die ehemaligen Freunde in die Provence ein: Viktor (Samuel Finzi), Ralph (Oliver Korittke) und Martin (Marc Hosemann) bringen ihre Frauen (Jule Böwe, Jytte-Merle Böhrnsen) und Kinder mit. Doch von echter Freundschaft ist nicht mehr viel übrig, einige offene Rechnungen dagegen schon. Vor allem Wolfi hält ihnen den Verrat alter Ideale vor. Und die gescheiterten Existenzen, die sie dafür eingetauscht haben. Aber erst einmal wird wild gefeiert, der Staats-Sekretär Viktor entdeckt Crystal Meth, die vier fahren den Mont Ventoux in Reizwäsche hoch, es folgen wie erwartet kreuzweise Seitensprünge und Gemeinheiten in alle Richtungen.

Ein deutscher „Hangover" in der Provence? Diese gescheiterte Wieder-Verbrüderung, die gewollte Konstruktion mit bekannten Zutaten, ist letztendlich provinziell - und unglaublich schlecht gemacht. Hier sind nicht nur Freundschaften und Beziehungen im Eimer, hier ist alles unten durch. Das Gegeneinander von „Spießer-Leben" und altem Rebellen zündet nicht, weil alle diese Entwürfe unglaubwürdig vor sich hin spielen. Ein erbärmliches Filmchen, so schlecht gespielt, dass selbst der Vorabend-Fernseher abschalten würde. Dazu gesellt sich Desinteresse an einer besonders hohen Zahl von Figuren.

11.10.16

Saint Amour

Frankreich, Belgien 2016 Regie: Benoît Delépine, Gustave Kervern mit Gérard Depardieu, Benoît Poelvoorde, Vincent Lacoste, Céline Sallette 102 Min. FSK: ab 12

Diesmal füllt nicht Depardieu allein das Bild und den Film. Ein Zuchtbulle auf der Landwirtschaftsschau ist noch massiver als der französisch-russische Star. Und der komische und wilde Belgier Benoît Poelvoorde („Das brandneue Testament", „3 Herzen") nimmt als Filmsohn Depardieus die Hauptrolle ein. Während Jean (Depardieu) auf eine weitere Auszeichnung für sein mächtiges Vieh hofft, trinkt sich Bruno (Poelvoorde) säuisch durch die Weinregionen, bis er eine Hostess grob und gewalttätig angeht. Nun ist Bruno auch nüchtern nicht besonders helle und das Verhältnis von Vater und Sohn seit dem Tod der Mutter kompliziert bis nicht existent. Um das zu ändern, mietet Jean spontan Leihwagen und Fahrer (Vincent Lacoste) für einen Kurz-Trip in die realen Weinregionen Frankreichs.

So ein Road-Movie verlorener Gestalten ist eine Spezialität des Regio-Duos Benoît Delépine und Gustave Kervern. In „Mammuth" schickten sie Depardieu als Rentner mit seinem Motorrad auf eine Reise in die Vergangenheit. In „Der Tag wird kommen" lebte Poelvoorde als alter Punk direkt auf der Straße und zog mit seinem spießigen Bruder aufs Land. Das ländliche Frankreich ist nun in „Saint Amour" Kulisse für abstruse Szenen und Begegnungen dreier frustrierter Männer im Taxi.

Zuerst gibt ausgerechnet der menschenfeindliche Autor Michel Houellebecq den freundlichen Wirt einer Familienpension. Vielleicht sah er ein, dass er in Sachen Demontage erbärmlicher Figuren nicht mit Delépine / Kervern mithalten kann. In der rauen Realität dieser teils weinerlichen und in den Begegnungen mit Frauen surrealen Weinreise finden sich noch weitere prominente Perlen wie Chiara Mastroianni als Frittenbuden-Betreiberin, bei der Wein aus dem Plastikbecher getrunken wird. Die seit „Das große Fressen" legendäre Andréa Ferreol darf Depardieu in einem Motel verführen und eine lesbische Maklerin benutzt Poelvoorde bei einer deplatzierten Wohnungsbesichtigung zur Rache an ihrer Freundin.

Wer jetzt wieder einen ziemlich netten, oberflächlichen Unterhaltungsfilm aus Frankreich erwartet, wird nach dieser rauen Hochprozenter mit kräftigem Kater aus dem Kino kommen. Ein witziger Alkoholiker? Das wäre ja auch ziemlich widerlich. So gnadenlos wie Bruno die zehn Schritte ins Delirium aufzählt, zeichnet „Saint Amour" die Sauferei und ihren Nährboden mit drastischer Offenheit und trotzdem mit viel zarter Liebe für die erbärmlichen Figuren.

Das seltsam paradiesische Finale ist ein verkehrter Männerwitz: Die rothaarige depressive Gutsbesitzerin (Céline Sallette) schläft mit allen dreien, die sich dabei als peinliche Lachnummer erweisen. Aber die hilf- und haltlosen Männer auf der Suche nach einem Lebenssinn finden ausgerechnet hier ihren Platz ... als Samenspender. Das ist ebenso wenig schlüssig wie glaubwürdig. Doch die Kunst von Delépine / Kervern, drastisch wie schamlos Menschen in all ihrer Hässlichkeit vorzuführen, und ihnen dabei einen Rest Würde zu lassen, funktioniert auch in „Saint Amour". Mit unangepasstem Humor und schauspielerischen Glanzleistungen.

10.10.16

Welcome to Norway

Norwegen 2016 Regie: Rune Denstad Langlo mit Anders Baasmo Christiansen, Olivier Mukuta, Slimane Dazi, Henriette Steenstrup 95 Min. FSK: ab 6

Flüchtlinge sind eine Win-Win-Situation - meint der nord-norwegische Hotelmanager Primus (Anders Baasmo Christiansen). Also baut er sein gescheitertes Hotel zum Flüchtlingslager um. Das Motiv des Rassisten ist rein finanziell. Sein Plan, er lässt die Flüchtlinge arbeiten und kassiert die Prämien. Schon bei der Ankunft gibt es einen bunten Mix von Vorurteilen gegenüber den Flüchtlingen und unter ihnen. Bei der Zimmerverteilung bekommt Primus Christen, Muslims, Sunniten und Schiiten nicht konfliktfrei unter. Nur Abedi (Olivier Mukuta) springt Englisch, Norwegisch und Arabisch, arbeitet bald also als Übersetzer und persönlicher Assistent. Man rauft sich zusammen und spannt auch die anderen ein, für eine verschworene Gemeinschaft im Organisieren von Ersatzteilen und Isolieren der Zimmer. Bis zum nächsten Kontrolltermin der Aufsichtsbehörde muss die Baustelle sicher werden. Doch statt Geld kommt eine Bibliothek von der Gemeinde und Primus muss für einen Privatkredit mit der naiven und einsamen Mitarbeiterin der Stadt ins Bett.

Allen Zutaten einer wohlmeinenden Flüchtlings-Komödie werden in „Welcome to Norway" freundlich aufgenommen, die gewalttätigen Rechten, die ungerechten Abschiebungen, die strengen Staats-Vertreter und die netten Wandlungen zum Positiven. So wird der eine oder andere Flüchtling vor der Abschiebung gerettet, eine Ehe kommt auch wieder auf die gute Spur und die (Kino-) Welt ist halbwegs wieder in Ordnung. Das Erwartete wurde anständig umgesetzt und kann mäßig unterhalten.

Swiss Army Man

USA 2016 Regie: Dan Kwan (als Daniels), Daniel Scheinert (als Daniels) mit Paul Dano, Daniel Radcliffe 97 Min. FSK: ab 12

Gestrandet auf einer einsamen Insel, da kann nur ein Wunder helfen. Gerade als Hank (Paul Dano) seinem Elend ein Ende mit dem Strick machen will, schwemmt ihm das Schicksal das Wunder an. Es sieht aus wie Harry Potter und ist ziemlich leblos. Bis auf die dauernden und kräftigen Fürze in Folge seiner Verwesung. Die ausführlichste und verrückteste Furz-Szene der Filmgeschichte ist der Auftakt einer ebenso skurrilen, schönen wie berührenden Geschichte um ziemlich beste und enge Freunde.

Ja, tatsächlich, Hank düst mit dem Manny (Daniel Radcliffe) genannten Strandgut dank dessen Flatulenzen wie auf Jet-Ski durch die Brandung zu neuen Ufern. Und fortan hilft der Tote wie ein Schweizer Messer - daher der Filmtitel - auf verrückt geniale Weise beim Überleben. Hank nutzt ihn als Wasserflasche oder Anzünder und bringt ihm sogar das Sprechen bei. Und dann wird auch noch Mannys Penis lebendiger als er selbst. Aber selbst dieser besonders unfassbare Moment unter allen unglaublichen Momenten zielt auf etwas Ernsthaftes. In den Zwiegesprächen mit seinem neuen, toten Freund kommt man Hanks Leben ganz nahe, erfährt wie er in der Schule als Sonderling gehänselt wurde, welche Probleme er mit seinem Vater hat.

Dazu will der Tote vor allem eines wissen: Was ist Leben? Die Antworten werden mit in der Wildnis vorgefundenen Abfällen wie im Comic inszeniert oder wie auf der Laien-Puppenbühne gebastelt, sehr ähnlich einigen Filmen von Michel Gondry („Science of Sleep - Anleitung zum Träumen"). Bei aller Poesie und Verrücktheit solcher Szenen rühren sie doch, sogar mehr als die im Vergleich recht professionelle Strandung von Tom Hanks in „Cast Away – Verschollen". Hank ist nicht nur bewegender als Hanks, er ist auch origineller und - trotz mitgeschlepptem Toten - filmisch viel lebendiger. Die Themen, welche uns von den Filmemachern Dan Kwan und Daniel Scheinert (unter dem Psyeudonym „Daniels") präsentiert werden, gehen tiefer und weiter.

Wie viel Wahnsinn im Erlebnis des definitiv seltsamen Schiffbrüchigen Hank liegt, bleibt offen. Klar ist, dass Ex-Harry Potter Daniel Radcliffe an einer Filmographie bastelt, die ihresgleichen sucht. Einen Film lang in der Nebenrolle tot und furzend zu agieren, das wird ihm keiner nachmachen. Doch im Gegensatz zu sonstigen filmischen Flatulenzen hat „Swiss Army Man" so viel Substanz und Seele, dass Radcliffe sowohl für einen Oscar als auch für die Goldenen Himbeeren nominiert werden könnte.

4.10.16

Sausage Party

USA 2016 Regie: Greg Tiernan, Conrad Vernon 89 Min. FSK: ab 16

Zeichentrick- ist kein Kinder-Film. Was die Kritik seit Jahrzehnten vermitteln will - und dabei unter anderem von vielen japanischen Meisterwerken unterstützt wird, kommt jetzt mit unflätiger Deutlichkeit auf die Kinoleinwand. „Sausage Party" wird als „erster Computeranimationsfilm, der in den USA mit einem "R-Rating" (für Kinder und Jugendliche nicht geeignet) versehen wurde" verkauft. Abgesehen davon, dass auch „Fritz the Cat" damals kein Vormittagsprogramm war, schon die ersten Minuten drehen sich im Supermarkt darum, dass Würstchen Frank unbedingt zwischen die „Backen" des Brötchens Brenda will. Das hört sich im englischen Original tatsächlich deftig an, dort spricht auch Star Seth Rogen den Frank derart, dass man den geilen Geifer aus seinem Mund fließen lässt. Doch genug der Provokation, „Sausage Party" ist mehr: Angefangen von den Musical-Nummern bis zur Aufklärung von religiösem Aberglauben wie das bessere Jenseits gibt es hier bei pubertärem Sex-Gesprächen und –Gebärden ziemlich viele erwachsene Themen. Dazu ist die Animation äußerst groß, ja sogar großartig.

Der Kunde ist König ... sogar Gott in der ersten flotten Musical-Nummer der äußerst schräg gelungen Animation „Sausage Party". Der Rest ist Gotteslästerung und sogar Konsumkritik. Wie vor allem von Pixar gewohnt, haben hier ungewöhnlichste Gegenstände, besser: Nahrungsmittel, nicht nur Ärmchen und Beine, sie wurden so animiert, also „beseelt", dass die dramatische Handlung im Stile von „Toy Story" unter die Wurstpelle geht und sogar fortan die Nahrungsaufnahme verändern könnte. Zuerst wollen Frank und Brenda vom Konsumenten erlöst und zur großen Grill-Party ins Paradies getragen werden. Dann erkennen sie nach einer sehr, sehr verrückten Odyssee das hässliche Gesicht des Konsums. Ein frecher bis anarchischer Animationsspaß mit überraschendem Tiefgang und Kult-Potential.

Auf einmal

BRD, Niederlande, Frankreich 2016 Regie: Asli Özge mit Sebastian Hülk, Julia Jentsch, Hanns Zischler, Luise Heyer 113 Min. FSK: ab 12

Noch zwei sind übrig nach der Party in Karstens Wohnung und es scheint zwischen ihnen zu knistern. Doch dann liegt Anna tot am Boden und Karsten rennt panisch zu einer Ambulanz in der Nähe, anstatt den Rettungsdienst anzurufen. Der Bankangestellte sieht sich bald immer mehr Fragen und Vorwürfen ausgesetzt. Dazu wird der Fall immer mysteriöser, denn niemand auf der Party kannte das Opfer. Aber es gibt eine ausgezogene Strumpfhose und ein kompromittierendes Video. Karsten selbst hat anscheinend nicht alles gesagt. Seine Freundin Judith zieht aus, der Chef versetzt ihn in den Keller. Der Vater unterstützt ihn mehr als ihm lieb ist. Der Verlassene steht vor den Trümmern des eigenen Lebens, das er allerdings nun auch mit anderen Augen sieht.

Im dritten und ersten deutschsprachigen Spielfilm der in Istanbul geborenen und seit 2000 in Berlin lebenden Regisseurin Aslı Özge („The Bridge", „Lifelong") bleibt die Spannung um eine eigentlich klare Situation durchgehend erhalten. Mehrmals wechselt der Eindruck, den Karsten auf das Publikum macht, radikal. Und auch der interessante Film an sich ist nicht einfach einzuordnen: Es geht nicht nur um Vorverurteilung, auch nicht um Schuld oder Verantwortung. Aber es dreht sich um die Psyche eines Mannes, der fasziniert. Mit verschiedenen Facetten oder in verschieden Phasen, in die ihn die Ereignisse drängen. Der bislang nicht sehr bekannte Sebastian Hülk beeindruckt in der Hauptrolle als erst unscheinbare, dann undurchsichtige und schließlich erschreckende Figur.

3.10.16

Die Insel der besonderen Kinder

USA, Belgien, Großbritannien 2016 (Miss Peregrine's Home for peculiar children) Regie: Tim Burton mit Eva Green, Asa Butterfield, Samuel L. Jackson, Terence Stamp, Ella Purnell 127 Min. FSK: ab 12

Der neue Film von Tim Burton („Alice im Wunderland", „Edward mit den Scherenhänden", „ Planet der Affen", „Sleepy Hollow") bringt in seiner Geschichte für Jugendliche und Erwachsene fantasievolle, bessere „X-Men" in eine Zeitschleife in der Art von „Und täglich grüßt das Murmeltier...". Ransom Riggs' gleichnamiger Roman, dem Fotos von ungewöhnlichen Gestalten und Außenseitern zugrunde liegen sollen, erfährt eine herrlich skurrile und sympathische Verfilmung.

Jake (Asa Butterfield) gehört zu den jungen Menschen, die spüren, dass jenseits ihres Alltags noch eine andere Welt existieren muss. Wie Harry Potter oder Joey Harker in Neil Gaimans „InterWorld" öffnet sich während der Pubertät ein Portal in eine abenteuerliche Dimension. Für Jake nimmt sein Leben eine dramatische Wendung, als sein Großvater Abe (Terence Stamp) in Florida gewaltsam ums Leben kommt. Vorher gab der alte Mann, der anscheinend an Wahnverstellungen litt, ihm noch die Reiseempfehlung, sich auf einer walisischen Insel das Waisenhaus der Miss Peregrine anzusehen.

Schon im unerträglich sonnigen Florida Tim Burtons verstecken sich Monstergestalten, die man von frühen Zeichnungen des Regisseurs und Animateurs kennt. Auf der walisischen Insel wird es dann richtig schaurig, wenn Jake im von Deutschen zerbombten Kinderheim auf all die Fantasiegestalten trifft, von denen sein Großvater immer erzählte. Das verfallene Gebäude ist ein Portal ins Jahr 1943, zum 3. September, dem Tag, an dem die Figuren und Freunde des Großvaters in einer täglichen, sekundengenauen Routine gefangen sind.

Einer dieser Kinder mit besonderen Fähigkeiten projiziert allabendlich mit einem Auge seine Träume auf die Wand, ein Mädchen isst mit ihrem Nacken, ein Junge hat Bienen im Mund, ein Unsichtbarer ist ebenso dabei wie das Mädchen mit psychokinetischen Fähigkeiten. Vor allem macht die immer noch jugendliche ehemalige Liebe seines Großvaters Eindruck auf Jake: Sie ist ein Wesen der Luft, das nur von Bleischuhen am Boden gehalten wird.

Doch dieses schön spielerisch schaurige Waisenhaus des Gothic-Horrors greifen richtige Monster an, die nur Jake sehen kann. Die „Hollows" essen die Augen besonderer Kinder, um wieder ihre alte Menschengestalt zu erlangen. Als Versteck vor ihnen erzeugte Miss Peregrine die Zeitschleife.

Tim Burtons „Insel der besonderen Kinder" ist eine Art „X-Men" für echte Jugendliche - nur viel fantasievoller und weniger martialisch. Der tolle Fantasy-Film für Jugendliche und Erwachsene unterhält mit schaurigen, verrückten und schönen Einfällen. Die mehrfache Erwähnung deutscher Kriegsverbrechen wird dabei irgendwann ebenso unwichtig wie Jakes Eltern. Im Finale langweilt nicht der übliche Overkill an Action, es gibt eine fantasiereiche Schlacht zwischen Skeletten und den Hollows, fast so spaßig wie die Gemetzel aus „Mars Attacs". Eva Green gibt als strenge Heimleiterin Miss Peregrin einen großartigen Ersatz für diese üblicherweise von Helena Bonham-Carter verkörperten Rollen. Samuel L. Jackson kann man in einer neuen, beängstigenden Rolle als Anführer der Hollows mit schlohweißen Haaren, blinden Augen und Monsterzähnen genießen. „Die Insel der besonderen Kinder" ist jetzt zwar kein richtig schöner, düsterer echter Tim Burton, aber ein in jeder Hinsicht gelungener Fantasy-Film mit exzellenter Ausstattung und tollen Animationen.

Meine Zeit mit Cézanne

Frankreich 2016 (Cézanne et moi) Regie: Danièle Thompson mit Guillaume Gallienne, Guillaume Canet, Alice Pol, Déborah François 113 Min. FSK: ab 0

Der Schriftsteller Émile Zola (1840-1902) und der Maler Paul Cézanne (1839 - 1906) gehören zu den Berühmtheiten der französischen Kulturgeschichte. Seit ihrer gemeinsamen Kindheit in Aix-en-Provence verband sie eine tiefe Freundschaft – und die Liebe zu der gleichen Frau. Die sehr erfolgreiche Komödien-Autorin Danièle Thompson („Wer mich liebt, nimmt den Zug", „Die Bartholomäusnacht", „La Boum - Die Fete") betrachtet die besondere Künstler-Freundschaft im Wechsel von frei atmenden Außenszenen, großartigen Provence-Panoramen und intensiven Kammerspiel-Zwiegesprächen.

Sehr schöne Bilder fassen den Verlauf der Jugend vom armen italienischen Einwanderer-Kind und Halbwaisen Zola sowie dem Bankierssohn Cézanne in der Provence zusammen. Es gibt ja noch viel zu erzählen bis zum Bruch der Freundschaft im Jahr 1886 und drüber hinaus. Die jungen Wilden von damals feierten ihr jeweiliges Scheitern an den etablierten Akademien mit der Pariser Boheme. Während der aus armen Verhältnissen stammende Zola jedoch bald mit seinem Naturalismus als Erfolgsautor ein wohlhabendes Leben beginnt, macht mangelnde Anerkennung aus dem oft hungernden Maler einen bitteren Menschen. Erst als sein Vater 1886 stirbt und Zola finanziell unabhängig wird, wird sein heute so bewunderter Impressionismus berühmt.

Diesen biografischen Rahmen von „Meine Zeit mit Cézanne" füllt Regisseurin Thompson mit Bootsausflügen, die symbolisch für das neue Prinzip, im Freien zu malen, stehen. Wie Zola hingegen gemeinsame Momente und das Leben vom Freund in seinen Büchern verarbeitet, wird bei einem der immer seltener werdenden Besuche als fiktive Buchbesprechung unter Freunden erregt diskutiert. Im Protagonisten von „Das Werk" (L'Œuvre 1886) erkannte sich Cézanne verärgert wieder, was er tatsächlich in einem wütenden Brief äußerte, bevor der Kontakt beendet wurde. Sie portraitieren sich gegenseitig und sind beide nicht glücklich mit ihrem Spiegelbild - gelinde gesagt. Es ist eine raffinierte Konstruktion, die zwei Leben auf mehrfache Weise spiegelt.

Wobei dieser wenig mitreißende Bilderreigen für Vorgebildete nicht als Einführung für den Schulunterricht taugt. Die vielen Bekannten der Pariser Boheme, die wechselhaften Phasen der französischen Politik, der deutsch-französische Krieg von 1870 – das und viel mehr blitzt am Rande in manchmal nur einer Bemerkung auf. Bei gekonnter Inszenierung und schönen Bildern herrscht lange eine skizzenhafte Leblosigkeit vor. Tatsächlich ist „Meine Zeit mit Cézanne" mit Mimik hinter dicken Bärten und einer deutschen Synchronisation mit typischem Garagenklang nur am Ende bewegend. Am traurigen Ende eine „ewigen Freundschaft", mit der tragischen Gestalt Cézannes, der sich im Selbsthass und Menschenfeindlichkeit zerfleischt. Diese und andere Krisen kreativer Menschen werden immer wieder besprochen. Man kann sie wahrnehmen und feststellen, miterleben kann man sie in diesem Film nur begrenzt.

Antboy 3

Dänemark 2016 Regie: Ask Hasselbalch mit: Oscar Dietz, Samuel Ting Graf, Amalie Kruse Jensen, Nicolas Bro, Paprika Stehen 88 Min. FSK: ab 6

Zum Abschluss der „Antboy"-Trilogie wird der bisher originelle dänische Superheld für Kinder ein Opfer des eigenen Erfolges und verfällt in serielle Routine. Noch vor den Vorlagen von Kenneth Bøgh Andersens Kinderbüchern gingen die guten Ideen aus.

Pelle (Oscar Dietz), der sich einst durch einen Ameisenbiss in den Superhelden Antboy verwandelte, wird langsam erwachsen. Also langweilt ihn das Superhelden-Dasein und er überlegt, was er Vernünftiges mit seinem Leben anfangen soll. Doch trotzdem genießt er den Ruhm im kleinen Städtchen Middellund und ist beleidigt, als seine Statue ziemlich albern aussieht. Zudem zieht sich sein bester Freund Wilhelm zurück und gleichzeitig taucht neuer Superheld auf. Auch „der Floh" (Nicolas Bro) kommt aus dem Gefängnis frei, so dass die zurückhaltend auf kleinem Budget inszenierte Jugend-Action routiniert ablaufen kann. Als bekanntes Gesicht ist nun auch Paprika Steen („Das Fest", „Adams Äpfel", „Love is all you need") dabei, allerdings macht ihr Verrückte mit Welteroberungs-Fantasien nicht besonders viel Eindruck.

Das Motto von „Antboy 3" lautet, jeder kann ein Superheld werden, selbst mit dicken Brillengläsern. Die Mischung von Welten-Rettung und Erhalt der Freundschaften erzählt eine Geschichte, die mit Gotham statt Middellund und Batman statt Antboy schon oft durchgespielt wurde. Zwar behält „Antboy" auch in diesem weiteren Aufguss etwas vom Charme des Alltagslebens in einer Kleinstadt, doch die originellen Ideen, die ein kleiner Etat notwendig machte, fehlen nun vollständig. Alles wird glatt und austauschbar, dazu für eine weltweite Verwertung wesentlich harmloser. Wie die lächerliche Statue, die man errichtet hat, ist „Antboy 3" nur eine Karikatur der vorherigen Filme.