29.6.16

Ma Ma

Spanien, Frankreich 2015 Regie: Julio Medem mit Penélope Cruz, Luis Tosar, Asier Etxeandia, Teo Planell 123 Min. FSK: ab 12

Magda (Penélope Cruz) erkennt bei der Vorsorgeuntersuchung an den Blicken des Arztes, dass sie zu spät gekommen ist. Detailliert zeigt „Ma Ma" die Schritte von Diagnose und eiligen Behandlungen. Die gesprächige Frau offenbart zwischendurch ihre schwierige Situation mit baldiger Arbeitslosigkeit und Partner, der sich mit der Geliebten in die Ferien verabschiedet hat. Magda trifft mit der niederschmetternden Diagnose den Fußball-Scout Arturo (Luis Tosar), ausgerechnet als diesen ein schwerer Schicksalsschlag ereilt. Und der behandelnde Arzt, der wunderbar singende Gynäkologe Julian, mit Wunsch, ein Mädchen aus Sibirien zu adoptieren, wird zum Freund. Ganz alleine stellt Magda sich in den Sommerferien der Chemotherapie und Brust-OP. Die Heilung gelingt, der erste Teil hat ein Happy End, im zweiten Teil erweist sich Magda als großartige Kämpferin.

„Ma Ma", ist ein großartiger, wunderbarer Film über eine unglaublich starke Frau. Ein Krankheitsfilm voller Poesie, ohne klebriges Sentiment. Die überragende Penélope Cruz trägt diese harte Frauen-Rolle mutig und produzierte auch den Film mit. Regisseur Julio Medem hatte sich früh mit „Vacas", „Die Liebenden des Polarkreises" und „Lucia und der Sex" als unkonventioneller Kinopoet gezeigt. Immer wieder webt er in „Ma Ma" atmosphärische Momente, Tageträume in die Handlung ein. Das Umfeld sind surreal weiß strahlende Krankenhäuser, eine brutale Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Fußball, da Spanien gerade das EM-Finale gegen Italien gewinnt. Da interessiert niemanden, dass lange Wartezeiten in krank gekürzten staatlichen Krankenhäusern schon mal tödliche Folgen haben. Viele Geschichten und Leben verbinden sich zu einem außerordentlichen „Frauen-Film" jenseits aller Klischees. Ein unbedingt sehenswertes Kino-Ereignis.

Paraiso (2013)

Mexiko 2013 Regie: Mariana Chenillo mit Andrés Almeida, Daniela Rincón, Camila Selser, Beatriz Moreno 105 Min.

Carmen (Daniela Rincón) und Alfredo (Andrés Almeida) sind ein glückliches, fröhliches Paar. Gemeinsam ziehen sie nach Mexiko Stadt als Alfredo dort einen guten Job bekommt. Aufgrund der Ängste vor der großen Stadt schleppen sie sogar einen Tresor mit. Doch die wahre Bedrohung des Glücks kommt von woanders: Auf der Betriebsfeier hört Carmen zufällig mit, wie Kolleginnen des Mannes das Paar mit einem Botero-Bild vergleichen. Sie, verletzt und plötzlich unsicher, beginnt darauf eine Diät, doch er ist dabei wesentlich erfolgreicher. Statt zur Fitness geht sie zu Kochkursen mit Frauen voll guter Laune. Immer noch nennt sie ihn „gordo", aber als dick kann man ihn längst nicht mehr bezeichnen. Letztlich hat er 46 Kilo abgenommen und seine Frau verloren, die zurück zu ihren Eltern zieht.

„Paraiso" ist ein sehr starkes, berührendes Argument gegen den Schlankheitswahn. Es macht traurig, wie die Diktatur der Magerhaken das schöne Glück zerstört. Es ist rührend, wie Carmen still leidet, ihre kleine Freuden auslebt und sich selbst treu bleibt. Die schöne, einfache Geschichte wird getragen von tollen Darstellern, bei denen Andrés Almeida eine körperliche Tour de Force mitmacht.

27.6.16

Nur wir drei gemeinsam

Frankreich 2015 (Nous trous ou rien) Regie: Kheiron mit Kheiron, Leïla Bekhti, Gérard Darmon, Zabou Breitman 102 Min. FSK: ab 12

Der französische Schauspieler und Komiker Kheiron präsentiert seine autobiographische Geschichte „Nur wir drei gemeinsam" mit Tragik und Witz: Hibat (Kheiron) wächst im Iran der Fünfziger Jahre als eines von zwölf Kindern auf, lernt früh etwas übers Teilen aber auch über strategisches Denken beim kargen Abendessen. So wird aus ihm Anwalt und linker Widerstandskämpfer gegen das Regime des Schahs. Verurteilt zu zehn Jahre Haft wird der junge Mann zur Legende, weil er sich weigert, zum Geburtstag des Schahs Kuchen zu essen. Monatelange Isolationshaft und Folter sind die Folge, während draußen das Regime zusammenbricht. Er und seine Freunde halfen mit, den Schah zu stürzen, um mit Chomeini einen neuen Diktator zu erleben.

Wieder landet Hibat auf der Fahndungsliste, nun aber resolut unterstützt von seiner Frau Fereshteh (Leïla Bekhti). Eine wunderbare Montage verbindet zu einer Klaviermelodie die Geburt ihres Sohnes mit den stummen Bildern von Verhaftungen und Hinrichtungen der Freunde. Das wirkt authentisch, erschütternd und berührend. Und gleich danach herzlich komisch, wenn ein neuer Bekannter feststellt, dass „dieser Typ, der den Kuchen vom Schah nicht gegessen hat", jedoch sehr viel Schiss vor der eigenen Frau hat. Auf der Flucht der jungen Familie sind die Soldaten kurz davor, belastende Dokumente in der Windel des Kindes zu finden. Bis es sich auf die Uniform übergibt und den Häschern die Kontrolle zu sehr stinkt.

Selbst der traurige Abschied von einem Land, das Hibat und Fereshteh nie wieder sehen werden, erfährt direkte Konterkarierung, wenn das Paar nach der Flucht auf Pferden über die Berge mit O-Beinen und wunden Hintern wegschleicht. Nach einem Jahr im Untergrund in Istanbul geht es nach Paris. Das neue Leben dort überwindet Schwierigkeiten, der Optimismus von Hibat bringt sogar ein verwahrlostes Wohnviertel zu neuer, gemeinschaftlich organisierter Blüte, ein Glücksfall vielfältiger Integration.

Die iranischen Verhältnisse in zwei Diktaturen und die schwierige Integration in Frankreich erzählt „Nur wir drei gemeinsam" episodenhaft wie die Animation „Persepolis". Regisseur, Autor und Hauptdarsteller Kheiron erweist sich in dieser Lebensgeschichte seiner Eltern als Ausnahmetalent. Endlich mal ein Bühnen-Komiker, der wirklich Schauspielen kann. Und Drehbücher schreiben, und Inszenieren. Sowohl sehr schöne Landschafts-Aufnahmen voller Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, als auch melancholische Historienbilder. Sowohl in pointierten Szenen vom Leben in den französischen Brennpunkten, als auch in den kurzen Momenten, welche die vielen lebendigen und authentisch wirkenden Figuren prägnant charakterisieren. Ein ungemein liebenswerter, optimistischer und sympathischer Film, der beweist, dass es in Frankreich ohne „ziemlich" bessere Tragikomödien und Filme gibt.

High-Rise

Großbritannien, Belgien 2015 Regie: Ben Wheatley mit Tom Hiddleston, Jeremy Irons, Sienna Miller, Luke Evans 119 Min. FSK: ab 16

Oben und unten. Hell oder stickig. So ein Muster-Haus war schon immer Modell für gesellschaftlichen Auf- und Abstieg. J.G. Ballards Roman „High-Rise" ist ein Muster dieser Metaphern für den Zustand der westlichen Staaten Mitte der 70er-Jahre. Also keine Banker-Krisen, kein Populisten, keine Neuen Rechten ... ein paradiesischer Zustand? Keine Sorge, J.G. Ballard (1930-2009), den man vor allem von seinem autobiografischen, 1984 von Steven Spielberg verfilmten Roman „Das Reich der Sonne" kennt, war auch Autor von David Cronenbergs „Crash". Was die düstere Stimmung seiner dystopischen Entwürfe sehr gut charakterisiert.

Der „High-Rise", das Hochhaus, ist das erste in einem Ensemble mutiger architektonischer und gesellschaftlicher Entwürfe. Hoch über London reckt sich dieses steinerne Ausrufezeichen empor. Der 30-jährige Arzt Dr. Robert Laing (Tom Hiddleston) ist froh, hier nach seiner Scheidung eine Wohnung im 25. Stock zu bekommen. Die Etagen-Höhe beschert nicht nur einen immer besseren Ausblick, sie markiert auch die gesellschaftliche Stellung. Die Oberklasse hat die höchsten der vierzig Stockwerke für sich reserviert, während Familien sich mit den Untergeschossen zufrieden geben müssen. Anthony Royal (Jeremy Irons), Architekt und Schöpfer einer Hand aus Hochhäusern, die nach der Zukunft greift, residiert ganz oben.

In der Mittelschicht wohnt auch die mysteriöse Mutter Charlotte (Sienna Miller), die Laing direkt sexuell kennenlernen will. Der Fernsehjournalist Richard Wilder (Luke Evans) haust mit seinen vielen Kindern dagegen im zweiten Stock, während der Nachrichtensprecher und die ehemalige Film-Diva zur High Society gehören. Zwischen oben und unten entwickelt sich zuerst ein Wettstreit um die wilderen Partys, der Kampf um die Pool-Nutzung kommt hinzu, Stromausfälle machen alle aggressiv. Dieser Klassenkampf verläuft keineswegs zimperlich: Hier werden Frauen entführt, Gegner brutal zusammengeschlagen, Laing unter Gewalt nach oben gebeten. Ein Bild macht die immanente Menschenverachtung noch vor der ersten Begegnung mit Anthony Royal deutlich: Die Putzfrau muss die Hunde-Scheiße auf Knie aus dem Teppich wischen.

Dass Dachwohnungen oder das Penthouse beliebter als die am Straßenrand sind, ist ebenso banal wie der wenig verklausulierende Name Anthony Royal für den neuen König. So weit, so schematisch und wenig originell. Der Reiz von „High-Rise" liegt darin, wie Regisseur Ben Wheatley („A Field in England", „Sightseers", „Kill List") mit hervorragenden Darstellern den zunehmenden Wahnsinn ausspielt. Man sollte sich vom sozialen oder soziologischen Unter- und Überbau lösen, vom Geist der 70er-Jahre ebenso, und die zeitlose Zoologie menschlicher Obsessionen und Mechanismen genießen. Dies wohl nur punktuell. Leser berichten, der Film nähme nur Stücke der Entwicklung vom Musterhaus zur anarchischen Bruchbude aus Dekadenz und Bürgerkrieg auf. Das Gesamtbild aus Verrohung, Chaos, Gewalt und Wahnsinn kommt allerdings rüber.

Ben Wheatleys hippe Retro-Parabel spielt nicht nur in den 70ern und ergötzt sich an den entsprechenden Möbeln- und Tapeten-Designs, sie arbeitet auch mit den Stilen dieser Film-Epoche. Der architektonische Entwurf erinnert an Gilliams „Brazil" oder an Tatis „Playtime". Mit leicht unkonventioneller Montage, schrägen Bildern, Winkeln und Details, einem kontrapunktischen Musikeinsatz (ABBAs „SOS" von Portishead) packt die Umsetzung mehr als die eigentliche Geschichte. Der Niedergang dieser Menschen bis hin zu animalischen Zuständen schockiert trotzdem. Selbstverständlich wird der Journalist Wilder zum blutverschmierten, wilden Tier, versucht aber auch mit einer Dokumentation über die Zustände die Medien der Oberklasse zu entnehmen. Das alles ist alter Kram, in Themen und gesellschaftlicher Analyse überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Nur Wheatleys Inszenierung ist auf der Höhe der Zeit, Oberklasse des internationalen Kinos.

22.6.16

The Neon Demon

Frankreich, USA, Dänemark 2016 Regie: Nicolas Winding Refn mit Elle Fanning, Karl Glusman, Jena Malone, Bella Heathcote 117 Min. FSK: ab 16

Der neue sensationelle Schocker von Niklas Winding Refn nach „Drive" (2011) und „Only God Forgives" (2013) sowie und der frühen „Pusher"-Trilogie (1996-2005). „The Neon Demon" ist allerdings ein Refn-Film ohne Ryan Gosling. Dafür mit Keanu Reeves in einer Mini-Rolle als Motel-Chef in der Tradition von Norman Bates. Hier "Psycho" herbeizuzitieren, ist nicht zu gewagt, denn „The Neon Demon" brennt sich nicht nur in Netzhaut und Gehirnwindungen, er wird zukünftig in den klugen Bücher über Psychologie und Film ein Kapitel einnehmen.

„The Neon Demon" ist die Geschichte eines jungen Dings aus der Provinz, dass in Hollywood als Model Karriere machen will. Die 16-jährige Jesse (Elle Fanning) wirkt naiv, aber sie weiß, sie ist schön. Und Schönheit ist die härteste Währung: „Schönheit ist nicht alles, es ist das Einzige!" Schnell lässt Jesse ihren selbstlosen Freund hinter sich, ein harter, pulsierender Soundtrack (Musik: Cliff Martinez) treibt sie in die Kunstwelten der Models und Designer. Eine sehr freundliche aber auch geheimnisvolle Maskenbildnerin macht sie mit „älteren" Super-Models bekannt, eine Party mit diesen eiskalten blonden Schönen wirkt fast wie eine Horrorshow.

Bei Jesses rasantem Aufstieg zum Star des Laufstegs bleiben die aber neidvoll zurück. Während sich genial klare Reflektionen über das unverschämte und rücksichtslose Wesen von Schönheit sehr kunstvoll ausbreiten, wächst der Neid der „alten" Kolleginnen, die sich mit 21 gefälligst aus dem Geschäft verabschieden sollen. In einem großartigen Splatterfest der Supermodels in den Hollywood Hills schließt sich der Kreis zum inszenierten Kunstblut der ersten Szene. Die wahre Bedrohung für die Frauen stellen nicht die penetranten Männer in der Branche dar, es sind die Frauen selbst, die zu Vampiren des eigenen Geschlechts wurden.

Selbstverständlich ist auch dieser Refn voller Gewalt, diesmal ist es aber eine latente, systemimmanente und dann selbstzerstörerische. Die dauernden Geschichten von heftigen Schönheitsreparaturen sind ebenso unappetitlich wie die Casting genannten Szenen der Fleischbeschau. Refn hängt an einen genialen, umwerfenden Film noch einen Epilog an, in dem das wunderbar Klare noch mal im Horror-Stil durchgekaut und hochgewürgt wird. Dabei ist das Verspeisen eines Auges doch nur die konsequenteste Darstellung vom „Augenschmaus", den uns das Kino vor allem bei Refn fortwährend serviert. Allerdings in dem Sinne, das hier das überwältigende Kino den Beobachter über das Auge verschlingt.

21.6.16

Kill Billy

Norwegen, Schweden 2014 (Her er Harold) Regie: Gunnar Vikene mit Bjørn Sundquist, Björn Granath, Fanny Ketter 88 Min. FSK: ab 6

Seit mehr als 40 Jahren leitet Harold Lunde gemeinsam mit seiner Frau Marny das Möbelgeschäft „Lunde Furniture" und versorgt den kleinen norwegischen Ort mit Möbeln. Doch durch die Fenster des alteingesessenen Hauses leuchtet nun das Ikea-Logo und bald gehen bei ihm die Lichter aus. Harolds Auto wird gepfändet, ebenso die handgefertigten Stühle mit Stoffen aus Italien. Nur äußerlich gefasst bringt er seine demente Frau Marny, um die er sich bislang gekümmert hat, in ein Heim und fackelt den Laden ab. Nach einem alkoholisierten Zwischenstopp bei seinem arbeitslosen Sohn, der komplett in Ikea eingerichtet ist, entschließt sich Harold, Ingvar Kamprad, den Chef von Ikea, zu entführen. Eine 16-jährige Tramperin macht begeistert mit und trotz aller Amateurhaftigkeit des Unterfangens gelingt der nicht vorhandene Plan. Allerdings erweist sich Ingvar Kamprad als sehr eigenwillige und schwierige Geisel.

Harold, der mit Pistole ausgerüstet schon mal als Bodyguard durchgeht, lacht so gut wie nie. Er hat ja auch nichts zu lachen so bankrott, frisch verwitwet und ohne Lebenssinn. „Lebst du noch oder war's das schon?" steht denn auch in treffender Verhunzung der Ikea-Werbung auf dem Plakat der Verfilmung von Frode Gryttens Roman „Saganatt/Ein ehrliches Angebot". Doch die wirklich traurige Gestalt dieses keine Sekunde lang weinerlichen und letztendlich fröhlichen Films ist Ingvar Kamprad. Nur auf Medienpräsenz versessen, hat er längst alles Gute aus seinem Leben verbannt.

Klasse Humor, zwischendurch menschelt es herzergreifend, tolle Bilder, ein ganz starker Soundtrack und super Schauspieler - und das alles nur in 88 Minuten Film. Irgendwie ähnelt dies norwegisch-schwedische Filmpaket an einem Ikea-Angebot, das man nicht ignorieren kann. Berührend, wie er mit viel Herz Menschen zeigt, über sie lächeln lässt und ihre Gefühle ernst nimmt.

20.6.16

Café Belgica

Belgien, Frankreich 2015 (Belgica) Regie: Felix Van Groeningen mit Stef Aerts, Tom Vermeir, Hélène Devos 127 Min. FSK: ab 12

„Belgica" ist der Nachfolger von „Broken Circle Breakdown", dem herzzerreißenden Liebesfilm und Eltern-Drama, dem besten Film der letzten Jahre, des letzten Jahrzehnts, dieses Jahrhunderts (bislang). Große Erwartungen, die ein sehr schönes, zeitweise ekstatisches Brüder-Drama um eine kleine, dreckige Kneipe und viele großartig erdige Flamen kaum erfüllen kann. So ist „Belgica" von Felix van Groeningen eher ein Nachfolger von „Die Beschissenheit der Dinge".

Als der unstetige Frank (Tom Vermeir) in der Kneipe seines kleinen Bruders Jo (Stef Aerts) auftaucht, will er zuerst nur hinter der Theke aushelfen. Doch der chaotische Wirrkopf träumt von einem coolen Club, lädt einen befreundeten DJ ein, überredet Jo, Wände einzureißen und den Laden um ein Dancefloor mit Bühne zu erweitern. Grandiose Musik hält jetzt Einzug, die Nächte und die Koks-Lines werden länger und länger. Der neue angesagte Club in Gent ist ein riesiger Erfolg, das Leben der Clique um Frank und Jo wird zur ewigen Party.

Der starke Soundtrack von Soulwax mit Einlagen belgischer Blasmusik und Techno, die Aufnahmen im „natürlichen" Club-Licht mitten aus der Menge - das „Café Belgica" vibriert vor Lebenslust, die sich austobt, als ob es kein Morgen gäbe. Doch der kommt sicher mit kräftigem Kater. Franks Frau ist gewohnt, dass der Vater ihres gemeinsamen Kindes morgens wie ein Geist ins bürgerliche Leben zurück stolpert. Irre sind die Aufnahmen, wie er im Morgengrauen durch die Hundezwinger schlurft, die seine Frau betreut.

Jo erwacht aus dem Rausch, als seine Freundin Marieke (Hélène Devos) schwanger wird und entscheidet, bei diesem Leben können man kein Kind gebrauchen. Ohne viele Worte zerreißt es den stillen der beiden Brüder, deren Vater wie Frank ein unzuverlässiger Lebemann war. Das geht einher mit dem finanziellen Niedergang des Clubs und dem völligen Zerfall von Frank, der sich als unkontrollierter Säufer, als brutaler Choleriker und vor allem als kindisch verantwortungslos erweist.

Auch wenn man in besonders bewegenden Momenten schöner Gemeinschaft unter Freunden zusammen mit dem Film ganz still wird, ist „Café Belgica" vor allem in seinem deftigen flämischen Original ungemein echt und ehrlich. Dass die normalen Menschen und der befreundete Türsteher nach Aufstieg und Niedergang draußen bleiben müssen, gibt eine der melancholischen Noten, dieses ebenso euphorischen wie nachdenklichen Films.

„Café Belgica" basiert auf van Groeningens eigenen Erfahrungen: Die Live-Musikkneipe „Charlatan" wurde in Gent von seinem Vater geführt, van Groeningens arbeitete als Jugendlicher selbst dort. Tom Vermeir feiert und wütet als Frank mit der gleichzeitig brutalen und sensiblen Wucht eines flämischen Depardieu in schlank. Stef Aerts legt seinen Jo, der durch eine Krankheit ein Auge geschlossen hat, ebenfalls sehr fesselnd mit stiller Entschlossenheit an. Dieses Brüder-Drama um die Verweigerung einer nächsten Lebensphase ergibt nicht die ganz großen Gefühle aus „Broken Circle Breakdown", aber mit zeitweise atemberaubenden Bildern und Szenen eine ganz Menge Leben und Leiden (-schaft).

Sworn Virgin

Italien, Schweiz, BRD, Albanien, Republik Kosovo 2015 (Vergine giurata) Regie: Laura Bispuri mit Alba Rohrwacher, Flonja Kodheli, Lars Eidinger 88 Min. FSK: ab 0

Orlando in Albanien

Die sensationelle Alba Rohrbacher spielt in Laura Bispuris Drama „Vergine giurata" vor schroffer albanischer Bergwelt und harscher Gesellschaft eine Waise, die im heftigsten Patriarchat überraschend problemlos das Geschlecht wechselt.

Hana Doda (Rohrwacher) wächst in der Berglandschaft Albaniens auf, lebt gerne wie ein Junge und legt nach dem traditionellen Recht des Kanun den Schwur ewiger Jungfräulichkeit ab. Fortan wird sie als Mann behandelt, und als Zeichen ihrer neu gewonnenen Freiheit erhält sie den Namen Mark und ein Gewehr. Schon dies eine atemberaubende Geschichte, erzählt mit intensiven Bildern und einer absoluten Ausnahmeschauspielerin. Hana treibt es allerdings weiter und bricht nach zehn langen Jahren einsamem Leben als Hirtin in einer Steinhütte zu ihrer Cousine Lila nach Mailand auf. Dort ist das Leben als Mann auf andere Weise schwierig, gleichzeitig zeigen sich andere Möglichkeiten für ein freies, selbstbestimmtes Sein als Frau. Ein Wandel zurück von Mark zu Hana beginnt.

Basierend auf dem gleichnamigen Roman der albanischen Schriftstellerin Elvira Dones erzählt Regisseurin Laura Bispuri eine sehr ungewöhnliche Geschichte, in der Archaisches und moderne Welt gar nicht so weit voneinander entfernt liegen. Heftige Formen des Patriarchats, die Situation von Flüchtlingen in Mailand, die Entdeckung des eigenes Körpers, der Riss zwischen ursprünglichem Gebirge und Steinlandschaft der Stadt. „Sworn Virgin", also Jungfrauen-Gelübde, ist vielschichtig faszinierend und in Thema, Darstellung wie Schauspiel ein wunderbar rauer Edelstein im Popcorn des Mainstreams.

Ein ganzes halbes Jahr

USA 2016 (Me before you) Regie: Thea Sharrock mit Emilia Clarke, Sam Claflin, Janet McTeer, Charles Dance 106 Min. FSK: ab 12

„Pretty Woman" mit Rollstuhlfahrer aber ohne Prostitution, dazu ein Schuss „Bridget Jones" – „Ein ganzes halbes Jahr" bietet eine ziemlich bekannte Geschichte und bedient trotz aller möglicher Themen die Nachfrage an belanglos nette Schnulz-Geschichtchen.

Keine Witze über Äußerlichkeiten, aber wir sind beim Mainstream-Film, das ist pure Äußerlichkeit! Also springen einem bei „Ein ganzes halbes Jahr" wortwörtlich diese Augenbrauen von Emilia Clarke („Game of Thrones") dauernd in die Augen. Schwarz und breit wie die von Groucho Marx und als wären sie eine Verkörperung der Marx-Brothers, unentwegt und dramatisch auf und ab hüpfend. So viel zur auffälligsten Charaktereigenschaft von Louisa Clark (Emilia Clarke). Sie bedient liebenswert in einem liebenswerten Kaffee voller netter Leutchen bis zur freundlichen Entlassung. Die 26-Jährige, die noch wie kleines Schulmädchen herumläuft, bekommt nach langer Suche und ohne jede Erfahrung den Pflegejob, den schon viele vor ihr geschmissen haben. Denn der junge, querschnittsgelähmte Ex-Banker Will Traynor (Sam Claflin) ist vor allem verbittert. So trifft in typischer Nanni-Situation das naive Sensibelchen auf den bitteren Zyniker. Louisas schwer erträgliche Fröhlichkeit wird schnell geerdet, ihre kunterbunten Klamotten bleiben länger grell nervtötend.

Louisa grinst im Bridget Jones-Modus dümmlich und ist vor allem peinlich. So kann man Wills Abneigung gut verstehen, später sogar seinen Wunsch, dem allen ein Ende zu machen. Jetzt nicht wegen den neuen Pflegerin, sondern weil er sein schmerzreiches Leben unerträglich findet. Langsam, sehr langsam kommen Gespräche zwischen dem vorbestimmten Liebespaar in Gang. Sein Zynismus wird milder, bleibt aber zum Glück komisch.

Mit Wills selbstgewähltem Lebensende nach einem halben Jahr, das er seinen Eltern noch schenkt, ergibt sich kurz ein anderer Film als das abschreckende Versprechen des klebrigen Kitsch-Trailers. „Ein ganzes halbes Jahr" stellt tatsächlich einige Minuten Wills selbstbestimmtes Ende zur Diskussion - unter exotischem Sternenhimmel: Wer ist hier egoistisch? Der mit dem Sterbewunsch oder die Nahstehenden, die ihn für sich im Leben behalten wollen? Auch die Frage, wie man die letzten Tagen und Stunden mit dem zu Verscheidenden liebevoll aushält, wäre interessant. Doch das kommt nur in anderen Filmen vor, etwa im dänische „Silent Heart", im Schweizer „Und morgen Mittag bin ich tot" oder im israelischen „Am Ende ein Fest". Hier ist es praktisch, dass Louisa nur die Gesellschaftsdame geben muss, denn für alles irgendwie Realistische an der Arbeit mit einem Querschnittsgelähmten gibt es einen richtigen Pfleger.

Bei „Ein ganzes halbes Jahr" rettet der Todgeweihte das Naivchen aus der provinziellen Anspruchslosigkeit, Will lebt ein letztes Mal auf, indem er Louisa beim Leben zusieht. Wobei Mozart, Paris und Luxusressorts für Lebens-Qualität stehen müssen. Der Wandel vom Dummchen mit lustigem, farbenblinden Bekleidungs-Geschmack zum Menschen ist dabei schon alles, was sich entwickelt. Emanzipation kann man es nicht nennen, wenn Louisa nun brav den Reisevorschlägen eines gebildeten Menschen folgt.

Bastille Day

USA, Großbritannien, Frankreich 2016 Regie: James Watkins mit Idris Elba, Richard Madden, Charlotte Le Bon, Kelly Reilly 92 Min. FSK: ab 16

Zum falschen Zeitpunkt kam dieser filmische Terror in Frankreichs Hauptstadt sowohl kurz nach den Pariser Anschlägen als auch zur Fußball-Europameisterschaft: „Bastille Day" erweist sich als unglückliche Panikmache rund um den Eiffelturm zum Nationalfeiertag. Panik ist auch das erste Ziel einiger tariflich unzufriedener Polizisten die, gedeckt durch den Geheimdienst, zuerst Bomben legen und dann eine Bank überfallen. Sie arbeiten mit angeblich islamistischen Terror-Attentaten und mit inszenierter Gewalt rechter Idioten gegen muslimische Mitbürger. In die Quere kommen den unsicheren Sicherheitskräften nur der geniale amerikanische Taschendieb Michael Mason (Richard Madden), der aus Versehen die Tasche mit der Bombe klaut, und der in Ungnade gefallene CIA-Agent Sean Briar (Idris Elba), der alles aufklärt.

Idris Elba („Avengers", „Mandela: Der lange Weg zur Freiheit", „Thor") macht mit dieser Rolle einen Fehler in seiner Karriere-Planung. Sein „Amerikaner in Paris" ist eine Ein-Mann-Armee, um die man sich keinerlei Sorgen macht. Gut und dicht inszenierte Kämpfe oder eine gelungene Verfolgungsjagd über den Dächern von Les Halles wiegen nicht den Ärger über den hanebüchenen und grobschlächtigen Komplott auf, der beispielsweise in "Triple 9" viel packender verpackt wurde. Leider wird auch diese Action-Komödie mit Buddy-Blödsinn zwischen dem Agenten und dem Taschendieb belastet. Begrenzte Mittel, wenig Personal und kleine Sets müssen nicht schaden, hier passt das jedoch nicht zu einer Attentats-Welle gegen alle Symbole der französischen Nation. "Bastille Day" erweist sich als hoffnungslose Resteverwertung in der Saure Gurken-Zeit des Kinos.

15.6.16

Das Talent des Genesis Potini

Neuseeland 2014 (The Dark Horse) Regie: James Napier Robertson mit Cliff Curtis, James Rolleston, Kirk Torrance, Wayne Hapi 124 Min. FSK: ab 12

Der Nachfolger von „Herr der Ringe", was den Drehort Neuseeland betrifft, hat nicht viel mit dem Hobbit-Tourismus zu tun: Sehr real zeigt „The Dark Horse" (so der Originaltitel) das hoffnungslose Leben der Maori. Der manisch-depressive Genesis Potini (Cliff Curtis) wird wieder einmal aus der Klinik entlassen – in die Obhut seines Bruders Ariki (Wayne Kapi), der Mitglied einer kriminellen Biker-Gang ist. Das erwünschte stabile Umfeld erweist sich als raues, brutales Chaos. Doch als Genesis Potini - Spitzname Dark Horse – sich um die jugendlichen Mitglieder eines örtlichen Schachclubs kümmert, kommt das Beste des gutmütigen Riesen zum Vorschein: Er verbindet die Erklärung des Schachspiels sehr schön mit alten Geschichten und Wissen der Maori. Den Kindern, die hier eigentlich nur abgestellt wurden, gibt er über das Spiel der (Maori-) Könige Hoffnung und Selbstrespekt. Sein eigener Neffe, ein sensibler Junge und talentierter Schachspieler, steht kurz davor, mit Aufnahme in die Biker-Gang ein Knochenbrecher zu werden.

Die teils schockierten, teils verächtlichen Blicke der Weißen beim traditionellen Turnier machen die Lage der Ureinwohner im eigenen Land ebenso nachfühlbar wie die frustrierenden Lebensumstände der Protagonisten. Der Hollywood-Star Cliff Curtis („Stirb langsam 4.0", „Fear the walking dead") verkörpert diese intensive Figur mit all ihren Leidenschaften und Abgründen ungemein mitreißend. Der Film basiert auf dem Leben des realen Schachgenies Genesis Potini (1963-2011), dem bereits 2003 die Dokumentation „Dark Horse" gewidmet wurde. In der Tradition von Lee Tamahoris „Die letzte Kriegerin" und Niki Caros „Whale Rider" fesselt „Das Talent des Genesis Potini" gleichzeitig mit der universellen Geschichte von Hoffnung für Ausgegrenzte und dem Einblick in das harte Leben der Maori von heute.

14.6.16

Schau mich nicht so an

BRD, Mongolei 2015 Regie: Uisenma Borchu mit Uisenma Borchu, Catrina Stemmer, Josef Bierbichler, Anne-Marie Weisz 88 Min. FSK: ab 16

Ein modernes Hybrid-Taxi fährt durch eine Hütten-Siedlung mit unbefestigten Straßen, in ihm ein blondes Mädchen unter lauter asiatischen Gesichtern. Wie die aus der Mongolei stammende Hedi (Uisenma Borchu) mit der kleinen Sofia (Anne-Marie Weisz) in die Jurte von Hedis alter Mutter kommt, bleibt lange ein Rätsel. Zuerst führt ein harter Schnitt zurück in eine deutsche Wohnung mit Laminat-Boden und dem gleichen Mädchen: Iva (Catrina Stemmer) hat es ziemlich schwer mit ihrer bockigen Tochter. Die Nachbarin Hedi wickelt das Kind hingegen mit ihrer coolen Art um den Finger. Und auch noch die verhaltene Deutsche Evi, die sich misstrauisch nach der neuen Freundin der Tochter erkundigt.

Was will diese unglaublich selbstsichere, herrische und manipulative Frau? Von Sofia, von Iva und schließlich auch von Ivas entfremdeten Vater? Dass sie mit allen im Bett landet, in einer Szene, die auch im David Lynch-Film nicht weniger irritieren würde, kann man als schockierenden Höhepunkt dieser absolut ungewöhnlichen und in allen Qualitäten sensationellen Filmüberraschung sehen. Was all den anderen so packend gelungenen Szenen unrecht tun würde: „Schau mich nicht so an" steht mit seiner Geschichte scheinbar auf dem Boden bürgerlichen Lebens. Doch diese Hedi – gespielt durch die bemerkenswerte Regisseurin und Autorin selbst – stellt alles auf den Kopf. Mit einer Anziehung, die sehr sexuell funktioniert, aber weit darüber hinaus geht. Sie ist unheimlich wechselhaft in ihrem Aussehen, was der sprunghafte Schnitt noch verstärkt. Großartig auch der Gegensatz der völlig unterschiedlichen Charaktere, der forschen Mongolin und die zurückhaltend verklemmten Deutsche, bei der erst Alkohol Lockerheit erzeugt. Hedi greift sehr manipulativ in die Erziehung und sogar in die Psyche von Evi ein. Doch ihr Motiv bleibt mysteriös, die Anfangs-Szene in der Mongolei sorgt nicht für Klärung, nur für Spannung. Die deutsche Sommersensation ist zudem irre gut gespielt, bis hin zur überzeugend lebendigen Sofia von Anne-Marie Weisz. Dass bis auf den vertraut gewaltig präsenten Josef Bierbichler alle Laien sind, macht dies alles noch erstaunlicher.

13.6.16

7 Göttinnen

Indien, BRD 2015 (Angry Indian Goddesses) Regie: Pan Nalin mit Sarah-Jane Dias, Rajshri Deshpande, Sandhya Mridul 103 Min. FSK: ab 12

Die eklige und dreiste Anmache der Männer, die respektlose Behandlung der Arbeit von Frauen – kurze Impressionen vom harten Frauenleben in Indien kulminieren noch vor dem Vorspann in einer Reihe von kleinen Revolutionen. Das ist interessant, doch trotzdem will man selbst schreiend weglaufen, weil die furchtbare deutsche Synchronisation alles in Sekunden unglaubwürdig macht.

Freida (Sarah-Jane Dias) hat ihre jungen Freundinnen, die sich teilweise vom Studium kennen, zu sich nach Goa eingeladen, um ihre Hochzeit zu feiern. Joanna (Amrit Maghera) ist eine aufstrebende Schauspielerin, die auf Schreien und Kreischen reduziert wird, Mad (Anushka Manchanda) eine erfolglose Musikerin, Pam (Pavleen Gujral) die ehemalige Spitzenstudentin, inzwischen nur noch Hausfrau. Hinzu kommen die toughe Geschäftsfrau und Mutter Suranjana (Sandhya Mridul) sowie Nargis (Tannishtha Chatterjee), eine engagierte Umweltaktivistin.

Der Rahmen des Wiedersehens von Freundinnen mit alten Spannungen und neuen Verschwisterungen ist ein bekanntes Format. In dieser indischen Variante von Regisseur Pan Nalin („Samsara") bietet sich die reizvolle Kulisse von Goa für ausgelassenes Feiern an. Musikalische Einlagen machen aus „7 Göttinnen" zwar noch kein Bollywood, sorgen aber trotzdem ganz erfolgreich für Schwung in der Erzählung. Abwechselnd gibt es Klagen über die schwierige Situation von Frauen in Indien: Möglichst helle Hautfarbe, Zwang zur Idealfigur, Zwangs-Heirat, klassische Rollen-Vorgaben. Manchmal fallen die Merksätze zu Übeln der Gesellschaft recht plakativ aus. Die Parabel geht gar so weit, dass eine Unternehmerin genau auf die politische Aktivistin trifft, die ihr das Geschäft schwer macht. Diese wohlsituierten, schönen und eigentlich sorglosen Frauen sind emanzipiert und sich ihrer Rollen sehr bewusst - um gleich darauf für einen Scherz wieder kreischende Weibchen zu geben.

Doch der nächste heitere Moment beim Junggesellinnen-Abschied lässt nicht lange auf sich warten, die Stimmung in „7 Göttinnen" springt dauernd hin und her. Mal will die Hausangestellte Laxmi (Rajshri Deshpande) den Mörder ihres Bruders verprügeln, dann entdeckt die Geschäftsfrau, wie einsam ihre Tochter ist. Ausgelassen posieren die Frauen als furchterregende Göttin Kali. Alte Geschichten kommen wieder hoch, neues Leid sorgt für rührende Verschwisterung. Das ist vor allem in emotionalen Momenten der bekannte indische Film-Kitsch, für internationale Geschmäcker in einer Light-Version.

„7 Göttinnen" pendelt lange um die sieben Freundinnen und eine Hausangestellte bis die Gewalt der Männer tragisch zuschlägt. Erst eine, aus aktuellen Medienberichten allzu bekannte brutale Vergewaltigung gibt der Handlung eine Richtung. Die vorher aufgereihten Unterdrückungen der Frauen bekommen eine erschütternde Wucht. Das macht „7 Göttinnen" wichtig und sehenswert, selbst wenn die Synchronisation immer wieder verhindert, dass Gefühle und Szenen funktionieren. Schweigend gelingt dem ambitionierten Film jedoch viel mehr - bis zur großen und schönen Solidaritäts-Szene im Finale. Somit spricht vor allem für den Film, das Frauen klug genug sein sollen, dem aktuellen Fußball-Wahnsinn entfliehen zu wollen.

Conjuring 2

USA 2016 (The Conjuring 2) Regie: James Wan mit Vera Farmiga, Patrick Wilson, Franka Potente, David Thewlis 134 Min. FSK: ab 16

Die Fortsetzung des Horror-Films „Conjuring" spendiert der geistlosen, abgedroschenen Formel des Geister-Hauses ein frische Umgebung mit dem London des Jahres 1977: Eine alleinerziehende Mutter schlägt sich mit ihren vier Kindern und Geldmangel durch. Als zwei Mädchen im Spiel Geister rufen, beginnt eine Serie von Albträumen und nächtlichen Erscheinungen. Es folgen viele ausführlich und sorgsam inszenierte Schreckens-Szenen, die allerdings nicht ganz auf die üblichen Schock-Momente verzichten wollen. Auch deshalb verläuft der schreckliche Film recht träge, er kostet jede Horror-Szene ausführlich aus. Die mal gar nicht so haarsträubende Handlung braucht zu viel Zeit, bis die amerikanischen Geisterjäger bei ihrer neuen, Londoner Arbeitsstätte ankommen.

Die durch die Vorgänge um Amityville berühmten Okkultisten-Spezialisten Lorraine und Ed Warren (Vera Farmiga, Patrick Wilson) gehen im kirchlichen Auftrag den unerklärlichen Vorgängen nach. Die Kirche jagt also mal wieder die Geister, die sie selbst rief. „Conjuring 2" bemüht sich, zwischen dem vertraglich garantierten Horror-Anteil tatsächlich eine Geschichte zu erzählen. Kombiniert mit den wenig blutigen und auch sonst zurückhaltenden Schreck-Szenen wirkt der Grusel-Film angenehm altmodisch. Zudem ist er gut besetzt, Franka Potente hat eine kleine Nebenrolle. Die aktuellen Horror-Fans werden vielleicht den modernen Blutrausch des Genres vermissen und im Kino dahinschlummern. Für ihre Albträume von „schlimmeren" Filmen sind sie dann selbst verantwortlich. „Conjuring" wird bis auf eine sichere Fortsetzung keine weitere Folgen haben.

12.6.16

Demolition

USA 2015 Regie: Jean-Marc Vallée mit Jake Gyllenhaal, Naomi Watts, Chris Cooper, Judah Lewis, C.J. Wilson, Polly Draper 101 Min. FSK: ab 12

Jake Gyllenhaal ist die Idealbesetzung für den schwerreichen Risiko-Investor Davis, dessen Leben nach dem Tod seiner Frau auseinanderfällt. Neben Auftritten in vernachlässigbaren Großproduktionen sieht man den Schauspieler immer wieder als Demonteur bürgerlicher Existenzen. Schon in Gyllenhaals erstem großem Erfolg „Donnie Darko" (2000) wurde die traute Familien-Welt von einer Flugzeugturbine zertrümmert. Als Afghanistan-Veteran in „Brothers" kommt er nach einer Gefangennahme nie wieder richtig zuhause an. Selbst als Boxer „Southpaw" demoliert Gyllenhaal nach dem Tod seiner Film-Frau die luxuriöse Wohnung. In „Enemy" von Denis Villeneuve sah man ihn tatsächlich in einer Doppelrolle „neben sich" stehen, leben und lieben. Bis alles in einem großen Knall endete.

Diesmal beginnt das begeisternde und bewegende Drama „Demolition" mit fast dem gleichen Knall: Ein heftiger Autounfall reißt ihm die Ehefrau buchstäblich von der Seite weg. Ironischerweise bringt ausgerechnet dieser Tod den Mann, der auch in der Ehe immer so emotionslos und unbeteiligt war, ins Leben zurück. Ein nichtiger Anlass - der Süßigkeiten-Automat im Krankenhaus verweigert einen Riegel - führt zu einem Beschwerde-Brief, der immer mehr zur sehr persönlichen Lebens-Abrechnung wird.

Bei auch äußerlich heftiger Veränderung wandelt sich Davies radikal. Auf die Frage „Was fühlst du?" zieht er im Zug zur Arbeit die Notbremse. Wie gerade erwacht, sieht er Sachen zum ersten Mal. Und kann nicht mehr ertragen, dass etwas nicht funktioniert. Sein neues Credo: „Wenn man etwas reparieren will, muss man es auseinander nehmen!" Angefangen mit dem tropfenden Kühlschrank, den seine Frau immer beklagte, wird nun alles bis auf die letzte Schraube demontiert. Die quietschende Toilettentür auf der Arbeit, die Lampe bei den Schwiegereltern, und die alte Standuhr im Büro von Schwiegerpapa ist ungeheuer verlockend. Einer von vielen komischen Momenten dieser emotionalen Achterbahnfahrt. Denn nach einer verrückten und euphorischen Phase anarchischer Zerstörung von „allem, was uns kaputt macht", folgt endlich das Anerkennen einiger übersehener Wahrheiten und vor allem der Trauer.

Parallel ruft die Frau vom Automaten-Kundendienst ihn mitten in der Nacht an und stalkt Davies fortan auf kuriose Weise. Diese Karen (Naomi Watts) ist alleinerziehende Mutter, die sich von dem neuen, durchgeknallten (Auf-) Leben des frischen Witwers erst zögerlich, dann sehr gerne mitreißen lässt. Sie ist Kifferin und verrückt, wie der 15-jährige Sohn meint. Der ist von der Schule geflogen und findet in Davies schnell einen guten Kumpel. Was sehr spaßig ist, wenn die beiden lustvoll das Haus von Davies demolieren.

Gyllenhaal trumpft mit seinem traurigen Blick auf - und dann unglaublich cool , wenn er seinem Davis freien Lauf lässt. Naomi Watts beweist erneut ihre Wandlungsfähigkeit. Regisseur Jean-Marc Vallée („Dallas Buyers Club", „Der große Trip – Wild", „Young Victoria") machte international erstmals 2005 mit „C.R.A.Z.Y. - Verrücktes Leben" auf sich aufmerksam, einer grandios tragikomischen Familien-, Schwulen- und Musikgeschichte. Große Gefühle treiben nun auch „Demolition", die neue Geschichte von Vallée an. Es gelingt ihm, sie universell in seinem Universum aus Popmusik, Kindheitserinnerungen und mitreißenden Glücksmomenten zu verankern. Selten hat Trauer so viel Spaß gemacht. Der kanadische Regisseur schafft es erneut, das Außergewöhnliche mit nur dezent vom konventionellen abweichenden Mitteln mitfühlen zu lassen.

7.6.16

Professor Love

USA, Großbritannien 2014 (How to make love like an Englishman) Regie: Tom Vaughan mit Pierce Brosnan, Salma Hayek, Jessica Alba, Malcolm McDowell 99 Min.

Pierce Brosnan gibt einen Cambridge-Professor für Romantische Literatur und dieser Ex-Agent kann alles auf Autopilot spielen. Charmant bekommt sein Richard Haig auch angegraut noch Studentinnen ins Bett. Und gegen alle Überzeugung zieht er mit der schwangeren Kate (Jessica Alba) nach Los Angeles. Als liebender Vater wird er zwar verlassen, lebt trotzdem im luxuriösen Gartenhaus seiner Ex weiter. Bis mit der ebenfalls verlassenen älteren Stiefschwester von Kate, Olivia (Salma Hayek), die Richtige einzieht.

Aus Versatzstücken der Romantischen Komödie wurde „Professor Love" zum mäßigen Unterhaltungsstück zusammengeschustert. Wenn die „Engländer in Amerika"-Scherze aus sind, mixt man noch Tabletten mit Alkohol, um die eigentlich Verliebten doch zusammenzuführen. Salma Hayek gibt wieder das freche und scharfzüngige Weibchen. Malcolm McDowell mit einem schmutzigen und deftigen Kurzauftritt als Vater. Dabei halten nur einige frech unamerikanische Einlagen das Publikum wach. Man kann sich das anschauen, etwas mit dem zum Vater domestizierten Verführer mitleiden. Doch tatsächlich hat Brosnan mal einen Stoff getroffen, den selbst er nicht retten kann. Weshalb der Film als Ladenhüter bei uns erst nach zwei Titeländerungen in der sauersten Gurkenzeit startet.

Himmelskind

USA 2016 (Miracles from Heaven) Regie: Patricia Riggen mit Jennifer Garner, Kylie Rogers, Queen Latifah 109 Min.

Wenn ihr Kind unheilbar erkrankt, schicken sie es auf einen wackligen Ast, lassen sie ein Stoßgebet los und das arme Ding aus reichlicher Höhe auf den Boden fallen. „Himmelskind", diese Kombination einer Schmonzette mit religiösem Humbug, liefert gleich mehrere Elemente, auf die man höchst allergisch reagieren muss. Das einstige Action-Girl Jennifer Garner („Alias") gibt mit unangenehm piepsiger Stimme die Mutter einer überglücklichen Familie, die als Höhepunkt der Lebensfreude jeden Sonntag in die Kirche rennt. Bis Christys (sic!) Tochter Anna (Kylie Rogers) unheilbar erkrankt. Während der Film geradezu pornografisch das Kinderleid ausbreitet, gehen der Familie die Mittel und Christy der Glauben aus. Es gibt eine Light-Version der Theodizee, wenn Christy sich fragt, wieso Gott ihr kleines Mädchen quält. Doch dann der Sturz vom Baum und damit die Wunderheilung.

„Himmelskind" ist ein Film aus einer vergangenen Entwicklungsphase der Menschheit, mit der sich ein modernes Publikum außerhalb der USA nur schwer identifizieren kann. Man könnte auch sagen, ein überlanger, klebriger Werbefilm aus der extremistisch konservativen Hinterwäldler-Region der USA, selbstverständlich „nach einer wahren Geschichte". Ist es ein Trost oder ein Fluch, dass diese hemmungslose und unerträgliche Propaganda zumindest anständig von Patricia Riggen inszeniert wurde, die zuletzt das Bergarbeiter-Drama „69 Tage Hoffnung" mit Antonio Banderas realisierte. Doch wenn so etwas nicht von der deutschen Staatsreligion käme, gebe es einen heftigen Aufschrei.

Sky (2015)

Frankreich, BRD 2015 Regie: Fabienne Berthaud mit Diane Kruger, Norman Reedus, Gilles Lellouche 103 Min. FSK: ab 12

Als das ehemalige Fotomodell Diane Kruger 2004, geborene Heidkrüger aus Niedersachsen, als Helena auf den Mauern von „Troja" rumstand, traute man ihr nicht viel mehr als Gutaussehen zu. Spätestens bei „Barfuß auf Nacktschnecken" (2010) musste man erkennen, dass sie richtig gut Schauspielen kann. Fabienne Berthaud führte Regie bei der Geschichte einer Pariser Karrierefrau, die im Kümmern um ihre kleine Schwester auf dem Land wieder zu sich selbst findet. Nun, in „Sky", dem nächsten Kruger-Film mit Fabienne Berthaud verliert sich Krugers Figur Romy auf einer USA-Reise. Das Bilderbuch-Glück mit Cabrio vor den Wüstenlandschaften Nevadas zerbricht, als ihr Mann Richard (Gilles Lellouche) besoffen seinen Frust rauslässt, Romy erniedrigt und versucht, sie zu vergewaltigen. Nach einem kräftigen Schlag mit der Lampe vor den Kopf bleibt er reglos am Boden zurück.

Panisch flieht die Französin auf den endlosen Wüsten-Highways, bis sie in Las Vegas landet. Surreal posiert sie mit zwei Elvis-Darstellern und einem heruntergekommenen Show-Unikat für Touristen-Selfies in den glitzernden Straßen. Dabei beeindrucken Mut und Entschlossenheit, mit denen Romy in der völlig fremden Umgebung ihr Leben in den Griff bekommen will. Das gelingt ihr, bis sie auf den rauen, einzelgängerischen Cowboy Diego (Norman Reedus aus „The Walking Dead") trifft. Nach einer gemeinsamen Nacht taucht sie vor seiner Farm auf und lässt sich weder von indirekten noch von deutlichen Hinweisen des Einzelgängers vertreiben. Erst als die Frau, die schon viele Fehlgeburten erleben musste, doch schwanger wird, kommt er mit seiner Wahrheit an gleißende Wüsten-Licht.

Fabienne Berthaud und Diane Kruger gelingt eine erstaunliche Selbstfindung in einem lebensfeindlichen und hochgradig künstlichen Umfeld. Die Scheinwelt von Vegas inmitten der Wüste, eine große Liebe inmitten oberflächlicher Beziehungen. Man folgt dieser entschlossenen Selbstfindung auch in dramatischen Momenten mit einem guten Gefühl, weil der Weg dieser Frau so ehrlich und authentisch erscheint. Dabei ist ihre Figur durchaus gebrochen: Für einen Triumphzug der Emanzipation ist Romy viel zu anhänglich und viel zu versessen auf starke Typen. Rau und kantig auch die Umgebung aus Menschen, die im Scheitern Würde oder zumindest Haltung bewahren. Mal ist Romy dabei Beobachterin, dann stürzt sie sich selbst voll in dieses Leben.

„Sky" unterscheidet sich von ähnlichen Geschichten in der durchgehend einfühlsamen und feinen Sorgfalt. Nicht nur das außerordentliche Spiel von Diane Kruger, auch das Buch, das Fabienne Berthaud zusammen mit Pascal Arnold schrieb, und vor allem die betörenden Bilder der Kamera-Frau Nathalie Durand machen diesen sehr ungewöhnlichen, manchmal sogar märchenhaften Weg zu sich selbst so ungemein sehenswert.

Erlösung (2016)

Dänemark, BRD, Schweden, Norwegen 2016 (Flaskepost Fra P) Regie: Hans Petter Moland mit Nikolaj Lie Kaas, Fares Fares, Pål Sverre Hagen 112 Min. FSK: ab 16

Erfolgreiche Krimis aus Schweden und Dänemark als „düster" und „dunkel" zu bezeichnen, greift zu kurz: Die Stoffe von aktuell Jussi Adler-Olsen oder zuletzt Karl Stig-Erland Larssons Millennium-Trilogie blicken mit Schaudern und Faszination in die Abgründe menschlichen Seins. Wobei, im Gegensatz zur Hollywood-Formel, sicher ein Unbehagen hängen bleibt und einen auch außerhalb des Kinos beschäftigt.

„Erlösung" ist nun der dritte Film nach einer Vorlage des Dänen Jussi Adler-Olsen und wieder muss nach Verblendung, Verdammnis, Vergebung, Erbarmen und Schändung so ein nichtssagender Einwort-Titel das Genre kennzeichnen. Bei „Flaschenpost von P" (so der Originaltitel) geht es nicht nur darum, zwei entführte Kinder zu retten, auch der sehr gestörte, depressive und asoziale Ermittler Carl Mørck (Nikolaj Lie Kaas) muss durch kriminalistische Beschäftigungstherapie aus einem besonders tiefen Loch geholt werden. Sein Kollege Assad (Fares Fares) ist mittlerweile Sympathie- und Handlungsträger der Geschichte geworden.

Gerade als Assad im Sonderdezernat Q für nicht aufgeklärte Fälle eine alte Flaschenpost mit Kindeshandschrift entziffert und zu den erstaunlich wenigen verschwundenen Kindern in Dänemark recherchiert, wird eine Kindesentführung gemeldet. Erstaunlicherweise wieder im Umfeld christlicher Extremisten, in das auch die Flaschenpost führte. Die Zuschauer wissen längst, dass der übergriffige norwegische Missionar Johannes (Pål Sverre Hagen) nicht zum ersten Mal ein Geschwisterpaar entführt hat, ohne dass die in Gott vertrauenden Eltern dies der Polizei meldeten. Die wahre Monstrosität seines Motivs zeigt sich erst in weiteren Rückblenden zur Kindheit von Johannes. Und als er auf Mørck trifft, wird die moralische Falle des Mörders in einem Psychospiel mit atemberaubender Gemeinheit deutlich.

Denn als Subtext dieser sogenannten „Erlösung", die tatsächlich nirgendwo stattfindet, läuft die Glaubensfrage durchgehend mit. Verletzend arrogant macht sich des Atheist Mørck über den Glauben des schwedisch-nordafrikanischen Kollegen Assad lustig. Der wird zwar vom rassistischen Vater der Entführten nicht ins Haus gelassen, Angesichts des Todes finden jedoch sogar die Gläubigen unterschiedlicher Geschmacksrichtungen zueinander. Und am Ende kann sogar der völlig traumatisierte Carl Mørck etwas Trost im christlichen Gesang finden.

Die hervorragende Regie von Hans Petter Moland („Einer nach dem anderen", „Ein Mann von Welt"), das bis auf einige Patzer in der Logik gute Buch von Nikolaj Arcel („Erbarmen", „Schändung", „Die Königin und der Leibarzt") und Schauspiel auf hohem Niveau machen „Erlösung" selbst in der Fülle ähnlicher dunkler Krimis aus dem Norden besonders sehenswert. Beklemmend sind die Taten der Menschen, klar der Blick darauf und auf den Wahnsinn von Rassismus oder Religion.

Vor ihren Augen (2015)

USA, Großbritannien, Spanien, Südkorea 2015 (The Secret in their Eyes) Regie: Billy Ray mit Chiwetel Ejiofor, Nicole Kidman, Julia Roberts 112 Min. FSK: ab 12

Wie sehr Hollywood selbst härteste Geschichten „genießbar" abfedert, zeigt dieses sehr freie Remake des exzellenten argentinischen Thrillers „In ihren Augen" von 2009: Dass die Polizistin Jessica Cobb (Julia Roberts) im Dienst die Leiche der eigenen Tochter findet, ist schon knallhart. Wie ihr Kollege Ray Kasten (Chiwetel Ejiofor) daraufhin 13 Jahre dem Mörder nachspürt, grenzt an Wahnsinn. Trotzdem ist „Vor ihren Augen" „nur" ein sehr guter, meist klasse gespielter Thriller mit spannender moralischer Frage. Und nicht tief erschütternd wie beispielsweise die dänische „Erlösung" im Kino nebenan.

In wenigen Szenen lernen wir die Ermittler Jessica und Ray gut kennen, lächeln darüber, wie er der Neuen Claire Sloane (Nicole Kidman) hinterherschwärmt. So funktioniert denn auch der Schock, als Jessicas Tochter ermordet in einem Müllcontainer gefunden wird, so glauben wir Rays Versuchen, die Freundin zu trösten und den Täter zu finden. Was politisch verkompliziert wird. Denn der Mörder ist V-Mann in einer Ermittlung rund um eine Moschee und wird von Vorgesetzten geschützt. Während im Original-Film die Militärherrschaft das Leben terrorisiert, ist es hier die Islamisten-Hatz nach 9/11. So kann der überführte Täter fliehen und erst 13 Jahre später meint Ray, ihn gefunden zu haben. Claire ist mittlerweile äußerst korrekte Staatsanwältin, aber wieder gestaltet sich die Strafverfolgung schwierig und Ray muss einige Regeln brechen...

Wie Ray noch nach 13 Jahren obsessiv den Täter und seine Leidenschaft für Claire verfolgt, wie gleichzeitig die Sicherheitsbehörden völlig skrupellos Recht und Gerechtigkeit verbiegen, und vor allem, was ein grausames Verbrechen mit den Nahestehenden des Opfers macht - all dies in Kombination machte schon das Original zu einem besonderen Film. Nun werden die beiden Zeitenebenen gekonnt miteinander verwoben, allerdings wirkt Nicole Kidman unglaubwürdig und nicht in der Lage, von ihren Manierismen weg zu kommen. Julia Roberts dagegen ist in jeder Gefühlslage ihrer Figur sicher: Verzweiflung, Trauer, Verbitterung verkörpert sie auf eindrucksvolle Weise. Trotzdem stören die Veränderungen im Remake von Regisseur Billy Ray, der bislang als Autor von unter anderem „Captain Phillips", „Flight Plan" oder „Volcano" tätig war, die Balance des Original. „Vor ihren Augen" ist durchaus sehenswert, allerdings trotz starker Elemente nicht sensationell.

Stolz und Vorurteil & Zombies

USA, Großbritannien 2015 (Pride and Prejudice and Zombies) Regie: Burr Steers mit Lily James, Sam Riley, Jack Huston, Charles Dance 108 Min. FSK: ab 16

Die Romantisierung des Zombie-Genres. Oder: die Zombiesierung von Jane Austen! Die Kombination von Jane Austen und Zombie-Genre klingt zunächst ähnlich bescheuert wie „Batman vs Superman". Doch hier funktioniert das Mashup unterschiedlichster Genres und Zeiten. Das Buch stammt immerhin von Seth Grahame-Smith, dem wir bislang „Abraham Lincoln Vampirjäger" aber vor allem Tim Burtons „Dark Shadows" verdanken.

Es ist wieder Jane Austens britische Gesellschafts- und Emanzipations-Geschichte aus dem 18. Jahrhundert: Die verarmten Bennets sitzen auf dem nicht gerade prächtigen Landgut und warten auf Männer, die ihre Töchter existenz-sichernd wegheiraten. Die gar nicht so höflichen und scheuen Töchter sind jetzt vor Armut und Zombies bedroht. So geht es zum aufgeregt erwarteten Tanzabend mit Messern im Strumpfband und den Stiefelchen, das Gewehr um die Schulter geschnallt. Die typischen Mädchen-Gespräche Austens finden während des Kampf-Trainings statt, zu spitzen Zungen gesellen sich Stichwaffen.

Während die Rahmenhandlung mit dem arroganten und vorurteilsvollen Traummann Darcy (Sam Riley mit irritierender Jogi Löw-Frisur) weitgehend unverändert blieb, lockern Kampf-Einlagen die Mädchen-Romantik auf. Das wirkt zwar zeitweise wie eine billige Kill Bill-Kopie, aber man, beziehungsweise: Frau, lernte ja damals auch Kampfkunst in Japan. Oder China, wenn das Geld nicht ausreichte.

Die Kombination vom beliebtesten Mädchen-Roman Jane Austens und dem Zombie-Genre für Jungens wurde mit den zu erwartenden Schauwerten und einigen originellen Ideen in anständiger Qualität inszeniert und gut gespielt. Während das andauernde Girlie-Gerede regelmäßig von Beißer-Attacken unterbrochen wird, beißt sich allerdings das zarte Emanzipations-Pflänzchen der Austen-Stoffe mit dem Bild sehr wehrhafter und schlagkräftiger Kämpferinnen. Auch die Aussprache zwischen Darcy und Elizabeth Bennet (Lily James) zeigt sich gewürzt mit flotten Zweikämpfen. Dabei öffnen sich beide, beziehungsweise die hochgeschlossene Kleidung, durch Schnitte ihrer Waffen. Später bekommt die witzige Geschichte leider etwas viel Ballast mit einem Unterbau von Apokalypse und Antichrist.

Insgesamt überrascht, dass Jan Austens altes Drama immer noch kohärenter und glaubhafter funktioniert als die angeklebte Zombie-Geschichte. Selbstverständlich gewinnen auch hier die Untoten Hollywoods mit ihrer Leichenfledderei und Wiederbelebung längst gelaufener Geschichten: Es droht überdeutlich eine Fortsetzung am Horizont.