31.5.16

Vor der Morgenröte - Stefan Zweig in Amerika

BRD, Frankreich, Österreich 2016 Regie: Maria Schrader mit Josef Hader, Barbara Sukowa, Aenne Schwarz, Matthias Brandt, Charly Hübner 106 Min. FSK: ab 0

Der österreichisch-jüdische Schriftsteller Stefan Zweig (1881-1942) in der Zeit seines Exils in Amerika gemeinsam mit Thomas Mann der meistübersetzte deutschsprachige Schriftsteller. In fünf Kapiteln von 1936 bis zu seinem Freitod in Petrópolis bei Rio de Janeiro, zeigt die Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader die mehrfach zerrissene Existenz eines von der Diktatur vertriebenen Künstlers. Anfangs lobt Zweig das friedliche Miteinander in Brasilien, wo Buenos Aires sehr viele Flüchtlinge aus Europa aufnimmt. Doch der intellektuelle Star weigert sich, deutlich gegen Nazi-Deutschland Stellung zu nehmen. Die Frage, ob man sich als im Werk ja keineswegs unpolitischer Künstler vom Weltgeschehen fern halten kann, bleibt in der Schwebe bei einer nicht endenden Abfolge von Ehrungen und Empfängen. Zwischendurch kümmert er sich um andere Flüchtlinge, bemüht sich um Visa für Freunde und alte Feinde.

„Vor der Morgenröte" ist ein vielschichtiges Porträt eines berühmten Geistesmenschen, der seine erste Frau Friderike (Barbara Sukowa) nur noch gelegentlich sieht und mit seiner jungen Gattin Lotte (Aenne Schwarz) durch die Welt reist. Josef Hader, bekannt von den Wolf Haas-Krimis, ist vom ersten Moment an atemberaubend glaubhaft in seiner Rolle als Stefan Zweig. Er wird so unglaublich intensiv gespielt, da möchte man gleich alle möglichen Filmpreise mit Hader signieren. Der Kameramann von Ulrich Seidl, Wolfgang Thaler, zeigt ebenfalls seine Meisterschaft bis hin zur genial fotografierten Schlussszene. Schon lange nicht mehr sah man eine Filmbiografie ohne aufgesetzten großen Twist so packend und nahe gehend. Mit großer Leichtigkeit inszeniert die Maria Schrader, doch die Schwere dieses Exilanten-Schicksals wird spürbar, bis zum tragischen Ende, dem gemeinsamen Selbstmord von Lotte und Stefan Zweig.

Green Room

USA 2016 Regie: Jeremy Saulnier mit Anton Yelchin, Imogen Poots, Patrick Stewart 96 Min. FSK: KJ

Wer statt Fußballer-Köppen Filmfarben sammeln will: Nach dem großartigen, klugen, gegen den Strich gebürsteten Rachefilm „Blue Ruin" von Regisseur Jeremy Saulnier folgt nun der ebenso intensive „Green Room", der allerdings noch etwas brutaler ist. Ein mit Imogen Poots und Patrick Stewart exzellent besetzter Grenzfall zwischen hervorragendem Kino und schwer erträglicher Gewalt. Die allerdings inmitten einer Neonazi-Gang nicht deplatziert ist.

Eine erfolglose Punk-Band braucht auf ihrer Tour dringend einen Auftritt fürs Benzingeld und landet in einem amerikanischen Nazi-Camp mit gefährlichen Hinterwäldlern und Rechten in Fliegerjacken. Als erstes Lied singen sie trotzdem „Nazi Punks Fuck off!" von den Dead Kennedys. Dass sie dann einige Flaschen an den Kopf bekommen, scheint normal. Später wird die Stimmung mit wildem Pogo-Tanz sogar recht gut. Dass sie allerdings Zeugen eines Mordes werden, macht das Backstage allerdings zu einer tödlichen Falle: Eingeschlossen im grünen Raum voller Nazi-Kram und vor der Tür warten bewaffnete Skinheads.

Erfreulicherweise erweisen sich die Punks in dieser klaustrophobischen Situation nicht als Superhelden oder Action-Figuren während sie einen der Nazis als Geisel nehmen. Aber auch die rechten Kampf-Fanatiker sind überfordert mit der Situation und holen professionelle Hilfe von außen. Patrick Stewart gibt kaum wieder zu erkennen den Ober-Nazi, dabei haben die Verhandlungen mit dem Eingesperrten die gleiche Intensität wie seine Shakespeare Darstellungen. Allerdings beginnt in der zweiten Hälfte ein extrem brutales Gemetzel, das man nur wegen der enormen Spannung mitmacht. Ein Backstage-Kammerspiel, ein bemerkenswerter Zwitter aus großartiger Regie, bestem Schauspiel und deftigem Splatter ohne Jugendfreigabe.

30.5.16

Whiskey Tango Foxtrot

USA 2016 Regie: Glenn Ficarra, John Requa mit Tina Fey, Margot Robbie, Martin Freeman, Alfred Molina, Billy Bob Thornton 112 Min. FSK: ab 12

Der Titel „Whiskey Tango Foxtrot" spielt im Film keine große Rolle - außer wenn man ihn abkürzt: WTF - What the fuck! Auf Zeitungs-Deutsch: Was soll der Mist? Diese Frage stellt man sich Zweidrittel eines Films, der einen Kriegseinsatz in Afghanistan als Kur gegen die Midlife-Crisis us-amerikanischer Journalistinnen empfiehlt.

Die vom eigenen Leben gelangweilte TV-Reporterin Kim Baker (Tina Fey) übernimmt sehr spontan die Berichterstattung von der afghanischen Reporter-Front. Mit der Qualifikation, von Kabul und Umgebung keine Ahnung zu haben, stolpert sie mit dem Film durch ziemlich belangloses Szenen und staunt über die eingeschworene Kollegen-Clique vor Ort. Eher dämlich und naiv landet sie ihren ersten „Scoop", als sie mitten im Gefecht nur mit der Kamera bewaffnet herumrennt. Denn Volltreffen auf Jeep und fliegende Körperteile, das wollen die Leute sehen. Der ruppige Marine-Colonel Hollanek (gut: Billy Bob Thornton) und der bigott muslimische Politiker Ali Massoud Sadiq (Alfred Molina) werden zu Freunden, selbst das blonde Poster-Girl der Kriegsberichterstattung, Tanya Vanderpoel (Margot Robbie), erweist sich erst einmal als hilfreiche Kollegin.

Von ihr erfährt Kim, dass sie nun „kabul cute" sei, im frauenarmen, sittenstrengen Kriegsgebiet also auf der Werteskala steigt. Danach sorgt die Pinkelpause der schwachen Blase von Kim unter rein männlich soldatischer Aufsicht im Kriegsgebiet für die Selbst-Diskriminierung weiblicher Kriegs-Journalisten. Lange schleppt sich dieses komische Ding zwischen Satire, Frauen- und Politfilm dahin - nicht wirklich schwungvoll, lahm und brav wie seine Hauptfigur.

Basierend auf dem Roman der echten Kim Barker (mit einem r mehr), „The Taliban Shuffle: Strange Days in Afghanistan and Pakistan", erfährt man von Afghanistan nicht viel mehr, als dass die Frauen in den Dörfern immer wieder die neuen Brunnen sprengen, weil nur der lange Weg zur Wasserstelle ihnen sozialen Freiraum ermöglicht. Ansonsten verhält sich „Whiskey Tango Foxtrot" ähnlich ignorant wie seine Hauptfigur oder zuletzt Barry Levinsons „Rock the Kasbah". Nur der war mit Bill Murray komisch und ansonsten auch mutig inszeniert. An ernsthafte Beschäftigung mit der zwiespältigen Arbeit von Kriegskorrespondenten wie in Winterbottoms „Welcome to Sarajevo" oder zuletzt im großartigen „Louder Than Bombs" mit Isabelle Huppert ist nicht zu denken.

Nun, obwohl Tina Fey immerhin von „Saturday Night Live" kommt und letztens noch ganz gut in „Sisters" zu sehen war, zündet der Funke selten. Bis es ganz am Ende noch mal spannend, romantisch und unterhaltsam wird. Hier bekommen der Film und seine Hauptfigur die Kurve, als Kim Baker endlich erkennt, wie sie alle in der „Kabubble" festhängen und süchtig nach den mörderischen News sind. Für die sich in den USA längst keiner mehr interessiert. Symptomatisch folgt den kontrakartierenden Pop-Liedchen der ersten Hälfte nun im Finale mit „Nude" von Radiohead auch ein Song, der etwas zu sagen hat. Das mag im Buch der „Filme, die noch die Kurve bekommen" eine Erwähnung wert sein, reicht aber kaum als Empfehlung für den Kinobesuch.

The Nice Guys

USA, Großbritannien 2016 Regie: Shane Black mit Russell Crowe, Ryan Gosling, Angourie Rice, Matt Bomer 116 Min.

Ob Russell Crowe und Ryan Gosling „nice guys", also nette Kerle sind, darf das Boulevard entscheiden. Sehr prominente Kerle sind sie auf jeden Fall und beliebt beim Besetzen von Filmen. Leider verhindert das in diesem Film wohl eine nette Buddy-Actionkomödie. „The Nice Guys" bietet für die hohen Erwartungen an Regisseur und Autor Shane Black, mit „Lethal Weapon" und „Kiss Kiss Bang Bang" so was wie der Pate dieses Genres, zu wenig!

Der eine, Jackson Healy (Russell Crowe), ist ein guter Privatdetektiv, aber heruntergekommen und ohne Lizenz. Der andere übernimmt von alten Omis Jobs die eigentlich keine sind, weil der vermisste Gatte längst in der Urne auf dem Kaminsims ruht. Doch Holland March (Ryan Gosling) verdient mit moralisch schlechten Jobs reichlich Dollars. Selbstverständlich laufen oder raufen sich Healy und March über den Weg, als der eine seine junge Klientin vor ihren Verfolgern schützen und der andere eben diejenige verfolgen soll. Wie es zu dieser Verquickung kommt, verstehen die beiden ebenso wie die Zuschauer lange nicht.

Doch das ist unwichtig, wenn man Spaß dabei hat, wie ein kleiner Junge seinen Porno-Traum namens Misty Mountains verunglückt im Garten findet, wenn die so unterschiedlichen „private eyes" rumalbern dürfen, beziehungsweise immer zu ernst sein müssen. Außerdem gesellt sich in der Kulisse von Los Angeles des Jahres 1977 noch die neugierige und im zynischen Umfeld sehr gutherzige Tochter von March hinzu, die schon mal heimlich zu einer Porno-Party mitkommt und dabei mehr herausbekommt als die alten Herren.

Es geht in „The Nice Guys" tatsächlich darum, einen Pornofilm zu finden, der irgendwie beweisen soll, dass das kalifornische Justizministerium Schadstoff-Betrügereien der Autoindustrie deckt. Alle am Dreh Beteiligten werden deshalb von der Konzern-Mafia ermordet. Wie absurd: Ein Blick in die Zeitung und drei Millisekunden Nachdenken genügen, um festzustellen, dass überall Justiz- und Verkehrsministerium so sehr die Autoindustrie decken, dass der Vorwurf der Korruption eine Schmeichelei wäre.

Aber um irgendwas geht es ja bei solchen Action-Komödien ernsthaft nie. Es sollen sich vor allem die beiden Hauptfiguren („buddys") zusammenraufen. Der Film nimmt auch sonst wenig Rücksicht wenn er drastisch und für einen Scherz nebenbei seine Opfer über die Klinge springen lässt. Das macht stellenweise Spaß, aber bald erinnern die Szenen mit den entgegengesetzten Typen stark an „Kiss Kiss Bang Bang" vom gleichen Autor Shane Black. Der übrigens das Genre eine Epoche vorher mit den „Lethal Weapon"-Filmen geprägt hat. Und plötzlich sehen im Vergleich zu vor allem Robert Downey Jr. diese Buddys Russell Crowe und Ryan Gosling reichlich alt aus. Kim Basinger ist in einer Nebenrolle als korrupte Mitarbeiterin des Justizministeriums gar völlig ein seltsam im Gesicht deformiertes Abbild vergangener Rollen. Das muss man auch zum Autor Shane Black sagen. Wahrscheinlich haben diesmal die teuren „Produktions-Werte" der Kreativität die Luft abgeschnürt.

29.5.16

Der Moment der Wahrheit

USA, Australien 2015 (Truth) Regie: James Vanderbilt mit Cate Blanchett, Robert Redford, Topher Grace, Dennis Quaid 126 Min. FSK: ab 0

Letztens lachte unsere Wiederbewaffnungs-Ministerin von der Leyen laut, als man sie fragte, ob eines ihrer vielen Kinder bei der Bundeswehr wäre. Selbstverständlich nicht, sterben sollen die anderen, hat sich auch Papa George H. W. Bush gedacht, als er seinem Sohn während des Vietnamkriegs über Parteifreunde einen sicheren Job in der Heimat besorgte. Zu dem der spätere Präsident, Bush jr. dann noch nicht mal regelmäßig erschien und als „unfit" getestet wurde. Dies alles war schon länger bekannt, wurde aber 2004 im Wahlkampf um noch eine Präsidentschaft für Bush vom berühmten TV-Politmagazin „60 Minutes" mit neuen Dokumenten bestätigt.

Ganz normaler, guter Journalismus dies. Nur wurde in der Folge wegen nicht 100-prozentig nachweisbarer Dokumenten-Quellen die Redaktion hinter dem „60 Minutes"-Aushängeschild Dan Rather übel demontiert, mit tragischen Folgen für die leitende Produzentin Mary Mapes. Robert Redford ist seit dem Watergate-Film „Die Unbestechlichen" (1976) so etwas wie die Ikone des Genres investigativer Politfilme. Redford gibt hier mit aller Autorität den legendären Dan Rather, doch die Hauptfigur ist Mary Mapes (Cate Blanchett): Als „Producer" ist sie stolz auf ein gutes Stück hart erarbeiteten Journalismus. Doch bald folgt eine Schmutzkampagne der Konservativen, vor der ihr Sender CBS und dessen Führungskräfte allzu leicht einknicken. So kommt im Finale des nach langen Einsichten in journalistische Arbeit, die auch damals schon als aussterbend empfunden wurde, endlich Spannung auf. Eine ganze Phalanx konservativer Gegner soll Marys journalistische Arbeit untersuchen, während Bush ungestört seinen Wahlkampf weiter betreiben kann. Bei all dem guten Schauspiel vieler guter Leute, beim Engagement und den Qualitäten von Autor/Regisseur James Vanderbilt (Autor von „White House Down", „The Amazing Spider-Man", „Zodiac - Spur des Killers) - vom Film bleiben nur ein paar Merksätze zum Journalismus. Dan Rather, das Urgestein des Geschäfts mit TV-Nachrichten, beklagt, dass Nachrichten auch nur noch eine Ware sind und nicht mehr das Wahre erzählen. Und sehr aktuell ist dieser „Moment der Wahrheit" darin, dass eigentliche Berichte und Nachrichten immer mehr im folgenden Shitstorm untergehen, dass Medien sich nur noch um sich selber drehen und klare Gedanken oder Meinungen möglichst zugemüllt werden. Doch den Film dazu, das gibt es besser aktuell mit „Money Monster" und in Clooneys eigenen Filmen, in „Kill the Messenger", in „Spotlight" und vielen anderen mehr...

Doktor Proktors Zeitbadewanne

Norwegen, BRD 2016 (Doktor Proktors tidsbadekar) Regie: Arild Fröhlich mit Emily Glaister, Eilif Hellum Noraker, Gard B. Eidsvold, Kristin Grue 95 Min. FSK: ab 6

Mit Volldampf startet der norwegische Kinderfilm nach dem erfolgreichen Vorgänger „Doktor Proktors Pupspulver" durch. Diesmal ist nach dem Pupspulver der Schaum das Wichtigste. Denn der typisch wahnsinnige Wissenschaftler Doktor Proktor (Gard B. Eidsvold) ist diesmal nicht nur sympathisch sondern auch noch liebestoll: Er versucht in der Vergangenheit die Heirat seiner großen Liebe zu verhindern. Eine geheimnisvolle Nachricht holt seine jungen Freunde Lise (Emily Glaister) und Bulle (Eilif Hellum Noraker) zu Hilfe.

Während Lise sich 1969, in der Hippie-Vergangenheit von Paris, direkt dem Fall von Doktor Viktor Proktor annähert, landet Bulle wie gewünscht in einem Cancan-Lokal. In der herrlich spaßigen Geschichtsstunde, die „Doktor Proktors Zeitbadewanne" auch ist, verhindert Bulle als Napoleon die mörderische Schlacht von Waterloo, indem er die französische Armee nach Hause schickt. Auch Jeanne d'Arc wird irgendwie gerettet, als sich die norwegischen Helden von einer Zeitreise in die nächste stürzen.

Basis dieses Spaßes ist Jo Nesbøs gleichnamiges Kinderbuch. Nesbø schreibt, ähnlich wie Neil Gaiman, gut in unterschiedlichsten Genres. Was die blutige Krimi-Komödie „Jackpot" und vor allem der knallharte Thriller „Headhunters" bewiesen. „Doktor Proktors Zeitbadewanne" trumpft mit sehr witzigen Science Fiction-Ideen auf, wie der holographischen Nachricht aus der Vergangenheit oder der flotten Animation der Zeitreisen, die glatt mit dem fantasieloseren „Alice im Wunderland hinter den Spiegeln" mithalten kann. Eine Rückblende läuft stilvoll wie beim Stummfilm ab, wobei die Ränder vom Bildschirm mit der Hand verkleinert werden. Dazu bei flotter Agentenfilm-Musik leichte Horror und Thriller-Elemente für Kinder, ganz ähnlich wie beim dänischen „Ant-Boy". Anke Engelke hat für die deutschen Produktionsgelder zwei Kurzauftritte als Hotel Concierge.

Bei der guten Geschichte in flotter Jugendsprache wird etwas Werbung dafür gemacht, Französisch zu lernen. Hexenverbrennung ist nicht ganz so schlimm, wenn man Marshmallows zum Schmelzen mit dabei hat und die zentrale Figur einen Song der norwegischen Band A-ha anstimmt. Aber insgesamt ist auch diese Nesbø-Verfilmung mit dosiertem Slapstick und Klamauk eine Empfehlung für Klein und große Begleitung.

24.5.16

Der Nachtmahr

BRD 2015 Regie: Akiz mit Carolyn Genzkow, Wilson Gonzalez Ochsenknecht, Sina Tkotsch, Alexander Scheer 92 Min. FSK: ab 12

Tina ist 17 Jahre alt und im Party-Modus. Das Bild eines seltsamen Wesens erschrickt und fasziniert sie auf einer Poolparty. Fortan erscheint ihr die Kreatur immer wieder, aber die Umgebung kann sie nicht sehen. Es folgen Zusammenbruch, Psychotherapie und Pillen. Doch das blasse, schleimige Ding verschwindet nicht. Ganz real dramatisch wird die Geschichte, als Tina alles empfindet, was man dem Nachtmahr bei der Jagd im Stile von „E.T." antut.

Der Künstler und Filmemacher Akiz versucht gar nicht erst, mit Horror-Elementen oder einer aufwändig getricksten Figur zu arbeiten. Sowohl Tinas eindringliche Verlorenheit unter stroboskopischem Licht als auch das Auftreten des Nachtmahrs sind mit Lynch-artig unartigen, weil verzerrten Blickwinkel einfach gesetzt und glaubhaft. Etwas schauerlich wirken Annäherung und Berührungen schon, doch das Staunen ist stärker als der Schrecken. „Der Nachtmahr" ist ein bemerkenswert mutiger und radikaler Film, dem sein knapper Etat in dieser künstlerischen Konsequenz nicht schadet. Er soll, dazu fordert der Vorspann nach ein paar Warnhinweisen auf, sehr laut abgespielt werden! Unüberhörbar und unübersehbar stark ist seine Geschichte auf jeden Fall.

23.5.16

Outside the Box

BRD 2015 Regie: Philip Koch mit Volker Bruch, Stefan Konarske, Vicky Krieps, Sascha Alexander Geršak, Lavinia Wilson 86 Min. FSK: ab 12

Auf dem Weg zum Outdoor Firmenevent fahren die schmierigen Typen der Consulting-Firma Frösche platt, aber bald kommen sie selbst unter die Räder. Denn das Team-Building ist für vier gnadenlose Benutzer abgedroschener Business-Sprache Wehrdienst für Erwachsene, live übertragen und von der Presse verfolgt, die sich allerdings mehr für die Kaffeemaschine interessiert. Auch der Firmenchef Bruno Bickstein (Hanns Zischler) sieht zu. Die Zuschauer im Kino erleben allerdings ein unglaubwürdiges Experiment, mühsam muss die hanebüchene Versuchskonstriktion erklärt werden. Zu der irgendwann auch eine fingierte Entführung gehört, die allerdings bald scheinbar tödlich ernst wird.

„Was soll das?" fragt man sich auf mehreren Ebenen angesichts dieses richtungslos herum mäandernden Filmchens, das zwischen Komödie und völlig zahnloser Sozialkritik selbst mit reichlich überraschenden Wenden die Aufmerksamkeit nicht halten kann. Nebenbei geht unter der Regie von Philip Koch („Picco") einiges an schauspielerischem Vermögen den Bach runter. Die Figuren bleiben alle oberflächlich und passen sich dem Niveau des Drehbuches an. Vor allem Vicky Krieps erweckt den Eindruck von Schülertheater.

Wie großartig packte da doch „Zeit der Kannibalen" mit Devid Striesow, Sebastian Blomberg und Katharina Schüttler den gleichen Zynismus der Manager in ein entlarvendes Kammerspiel.

Mein Praktikum in Kanada

Kanada 2015 (Guibord s'en va-t-en guerre) mit Patrick Huard, Suzanne Clément, Irdens Exantus, Clémence Dufresne-Deslières 108 Min.

Was ist das eigentlich für ein Land, dieses seltsame Kanada? Eines, in dem ein ehemaliger Eishockey-Star gemütlich und völlig unpolitisch Parlamentarier werden kann. Nicht die einzige Seltsamkeit in dem einzigartigen Staatsgebilde, wie auch die umwerfend komische Polit-Satire „Mein Praktikum in Kanada" ganz einfach erklärt. Denn die Perspektive ist die eines Praktikanten aus Haiti, Souverain Pascal (Irdens Exantus). Im abgelegenen Bezirk Prescott-Makadewa-Rapides-aux Outardes, im Norden Québecs, ist bis auf ein paar Straßenblockaden der Ureinwohner nie was los. Doch durch eine mysteriöse Abwesenheit einer Abgeordneten in der Hauptstadt hat der gewählte Vertreter Steve Guibord (Patrick Huard aus „Starbuck") plötzlich die entscheidende Stimme in einer großen außerpolitischen Frage: Soll Kanada sich an einem Kriegseinsatz im Nahen Osten beteiligen?

Der ziemlich rat- und ahnungslose Guibord nimmt spontan die von Rousseau geliehene Idee seines neuen Praktikanten Souverain auf: Direkte Demokratie, frag doch den Souverän, also den Wähler. Damit brockt sich der eher bequeme Vorzeige-Politiker mit Flugangst eine chaotische Odyssee in seinem rieseigen Wahlkreis ein. Dabei gab es Ärger schon beim Abendessen, denn Guibords Tochter ist gegen den Kriegseinsatz und verfolgt den ebenfalls meinungslosen Vater mit einer Gegenkampagne.

Regisseur Philippe Falardeau („Monsieur Lazhar") gelingt das Kunststück, mit einer knackigen Komödie zu unterhalten und gleichzeitig den Politbetrieb trefflich aufs Korn zu nehmen. Ob Pöstchen-Besetzer, überspannte Pro- und Gegen-Bewegungen oder Ränkespiele hinter den Kulissen, irgendwie ist das ganze Spektrum von übelsten Polit-Karrieristen bis zu idealistischen Theorien vertreten. Genauso gebannt wie das Kino-Publikum verfolgt per Skype das Dorf vom Politologen Souverain die Entscheidung. Und vor allem versteht man am Ende, bestens unterhalten und locker gelacht, sogar dieses seltsame Kanada etwas besser.

Money Monster

USA 2016 Regie: Jodie Foster mit George Clooney, Julia Roberts, Jack O'Connell 99 Min. FSK: ab 12

George Clooney hat ein Gesicht, dem man alles glaubt. Von Kapsel-Kaffee bis zu seinen politisch engagierten und klugen eigenen Regiearbeiten und wie er sich mit seiner Frau Amal Ramzi Alamuddin Clooney für Flüchtlinge einsetzt. Wie raffiniert, ihn nun als einen der Seelen- und Börsenverkäufer einzusetzen, die sich Wirtschafts-Journalisten schimpfen! Frisch aus Cannes kommt der neue, sensationelle Film von Jodie Foster.

Clooneys Lee Gates feiert gerade wieder schäbig marktschreierisch mit Tanz und grellen Grafiken den neuesten Anlage-Tipp. Die Pleite von gestern ist mit einem breiten Grinsen und einem dieser austauschbaren Sprüche schon vergessen. Doch nicht für eines der Opfer dieses Kurssturzes, der das Schweigen der Opfer-Lämmer unterbricht, der mit Pistole und Sprengstoff ins Studio stürzt. Kyle Budwell (Jack O'Connell) war einer, der den unglaublichen Versprechungen auf schnellen Reichtum geglaubt hat. Seine 60.000 Dollar waren unter den 800 Millionen, die verbrannt wurden – also in anderen Taschen gelandet sind.

Nun entwickelt sich live im Fernsehen ein Wirtschafts-Krimi: Der verzweifelte Kyle und der eitle Lee sind die Verlierer im Studio, aus dem Regie-Raum souffliert die kluge Patty Fenn (Julia Roberts) per Knopf im Ohr. Die Polizei erhöht den Druck von außen. Doch wie bei der ganzen Börsen-Abzocke ist auch hier vom Staat nichts Vernünftiges zu erwarten. Die Frauen hingegen sind auf dem besten Wege, die Sache zu entschärfen. Aufgrund der eigentlich ganz einfachen Fragen des einfachen Mannes Kyle startet Patty im Hintergrund eine rasante Recherche nach den wahren Ursachen des Kursverlustes. Endlich mal! Diane Lester (Caitriona Balfe), die Pressesprecherin des betroffenen Unternehmens versucht herauszubekommen, was ihr Chef Walt Camby (Dominic West) eigentlich so treibt. Nur Kyles schwangere Freundin ist gar nicht hilfreich, als sie – von der Polizei zugeschaltet – explodiert und ihren Versager richtig klein macht.

Ja, komisch ist er zwischendurch auch noch, der großartige, spannende und politisch sehr deutliche Film von Jodie Foster. Das muss sich erst mal jemand trauen und es dann noch können: Zu packen, zu unterhalten und ganz deutlich zu sagen: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" Oder den alten Brecht auf heute gemünzt: „Was ist die Geiselnahme eines Börsenspezialisten gegen die täglichen Verbrechen der Börsenspezialisten?"

Jodie Foster macht es zwar sehr spannend, aber ihre Idee ist verblüffend einfach: Wir nehmen einfach einen dieser Börsen-Schwätzer aus den Medien als Geisel. Denn an die hauptsächlich Verantwortlichen kommt man ja nicht ran. Und die Aussagen in Fosters Film gelten weltweit (außer in Island, dem einzigen Land, das seine Banker nach der Banken-Krise verknackt hat): „Sie nehmen alles und kommen davon!" „Sie zahlen keine Steuern!" „Nicht die Muslims, die Banker sind das Problem!" Dafür macht sich Clooney, der den Film auch mitproduzierte, zum chaotischen und selbstverliebten Affen. Bevor er statt mit den richtigen Aktien, mit den richtigen Aktionen die richtige Seite wählt. Auf den Spuren von Sidney Lumets Klassiker „Network" aus dem Jahre 1977 schuf, Foster, die fast nur noch hinter der Kamera aktiv ist, einen hervorragenden Thriller, der deutlich die Pest unserer Zeit anklagt.

Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln

USA 2016 (Alice Through the Looking Glass) Regie: James Bobin mit Johnny Depp, Anne Hathaway, Mia Wasikowska, Helena Bonham Carter, Sacha Baron Cohen 108 Min. FSK: ab 6

Die zweite Tim Burton-Bearbeitung des Lewis Carroll-Stoffes entfernt sich noch weiter von der Vorlage und gerät zur effektreichen Zeitreise sowie zur Vorgeschichte der eigentlichen Alice-Abenteuer. Deren Fantasie und Verrücktheiten bleiben dabei auf der Strecke.

Schon die Titel-Verhunzung zeigt die Verachtung, mit der Disney den Originalstoff behandelt: „Alice hinter den Spiegeln" („Through the Looking-Glass") heißt die Fortsetzung des 1871 erschienenen Kinderbuches „Alice im Wunderland" von Lewis Carroll (1832 - 1898). Der Motivations-Spruch „The only way to achieve the impossible is to believe it is possible" eine typische Disney-Weisheit und nicht von Lewis Carroll. Sie könnte auch in Endes „Die unendliche Geschichte", in „Peter Pan" oder den Narnia-Filmen auftauchen. Ebenso so austauschbar sind die Handlungselemente.

Wieder werden die Carroll-Fragmente in einen Rahmen eingebettet, der die Entstehungszeit des literarischen Klassiker reflektieren soll: Frisch von einer China-Reise zurück, muss der abenteuerlustige Kapitän Alice Kingsleigh (Mia Wasikowska) zuhause Ständedünkel, sozialen Abstieg, die Rache eines Verschmähten und die üblichen Vorbehalte gegenüber Frauen erleiden. Die Mädchenträume sind verblasst, die Hoffnung auf „Wunder schon vor dem Frühstück" sehr fern. Die einzige (Aus-) Flucht für Alice geht durch eine flüssige Spiegeloberfläche zurück ins Wunderland des ersten Films. (Dass der Wahnsinn auch ein Ausweg wäre, wird zaghaft in einer kurzen Anstalts-Szene angedeutet.) Im Spiegelland ist nur kurz Raum fürs Staunen, bevor die atemlose Handlung wie ein geschmiertes Uhrwerk bis zum Abspann durchschnurrt. Dort schafft es der Film, selbst im Finale zu langweilen. Wenn wegen des typischen Zeitreise-Paradoxons alles von rostigen Ästchen eingefroren wird, wirkt das wie eine digitale Haut, die alles Lebendige erstickt. Auch die guten Schauspieler haben wenig Spielraum.

So extrem bunt wie Alice nach der Heimkehr zu einem Ball auftaucht, so purzelt dieser Film in die Kinolandschaft. Mit 3D-Gimmicks sowie einer Zeitmaschine als Schiff in den Wellen von Raum und Zeit. Der verrückte Hutmacher (Johnny Depp) ist inzwischen wirklich verrückt geworden, oder eher depressiv. Alice will deshalb per Zeitreise dessen Familie in der Vergangenheit vor dem Drachen Jabberwocky retten. Es ist höchst erstaunlich, dass es außer bei den digitalen Effekten wenig zum Staunen gibt. Alles wird überdeutlich erzählt, nichts bleibt rätselhaft, verspielt oder gar irgendwie verrückt. Dass Alice beispielsweise im Spiegelland Alice rückwärts gehen muss, um ihr Ziel zu erreichen, findet keine Erwähnung. Das überbordende Digitale erweist sich in dieser Form paradox als Mittel der Fantasielosigkeit. Dadurch fällt auf, dass der ganze Film eine wenig originelle Resteverwertung ist: Figuren von Carroll, Schauspieler aus dem ersten Teil, Handlung aus dem Computer-Programm für risikolose Kassenschlager und ein paar Zeitreisen-Themen.

Regie führte nicht mehr Tim Burton wie vor sechs Jahren bei „Alice im Wunderland", sondern James Bobin, der sich bislang mit Muppet-Filmen und der „Ali G Show" hervorgetan hat. Einsam eindrucksvoll sind Sacha Baron Cohen („Borat", „Ali G") als Verkörperung der Zeit und sein gigantisches Schloss als Kathedrale der Zeit. Seine Figur ist auch Anlass für eine Teestunde voller Wortspiele rund um die Zeit. Ob man Mia Wasikowska die staunende junge Alice noch abnimmt, bleibt Geschmackssache. Sie ist mittlerweile als Action-Figur einer Lara Croft näher als dem ursprünglichen Carroll-Mädchen. Anne Hathaway hat eine perfekte Rolle als Weiße Königin: Affektiert und voller Manierismen. Im Original kann man noch einmal die Stimme des kürzlich verstorbenen Alan Rickman als entpuppte Raupe Absolem genießen. Dazu ein paar mäßig lustige Side Kicks, die hilfreichen Sekunden und Minuten vom Herrscher der Zeit sind unübersehbar metallische Minions.

Nur die Moral der Geschichte ist von einigem Wert: Denn auch wenn Zeitreisen nichts verändern können, die Wahrheit über Fehler der Vergangenheit auszusprechen, kann tiefe Verletzungen heilen. Das gilt für den alten Streit der beiden Königinnen wie auch für den Hutmacher, der nie die Anerkennung seines Vaters bekam. Nun sollten die Filmmacher aus ihren Fehlern lernen und die unglückliche Reihe einstellen.

21.5.16

Toni Erdmann aus Aachen

Der heiße Cannes-Favorit und neue Film von Maren Ade („Alle anderen") ist zwar eine Berliner Produktion, doch dank einiger Heimat-Szenen der Protagonistin kann er auch als NRW-Erfolg eingemeindet werden: Im September 2014 standen Sandra Hüller und Peter Simonischek in Aachen und Langerwehe vor der Kamera. Der Film erzählt von einem Mann, der versucht, seiner erwachsenen Tochter wieder nahe zu kommen. Da er glaubt, sie habe Ihren Humor verloren, reist er ohne Ankündigung zu ihr nach Bukarest und überrascht sie mit einem Amoklauf von Scherzen. Das „Einfamilienhaus mit Hanglage" für Sandra Hüllers Filmoma (gespielt von Ingrid Burkhard) fanden die Location-Scouts in Langerwehe-Heistern. Christina Bentlage von der Film- und Medienstiftung NRW stellte als Produktions-Fachfrau fest, dies sei „wirklich die allererste Filmproduktion in Langerwehe, was uns sehr freut." Die Filmstiftung NRW förderte den Dreh mit 700.000 Euro. Eine Wirtschafts-Investition, von der mindestens 150 Prozent wieder im Bundesland ausgegeben werden müssen. In Aachen selbst waren Augustastraße, Yorckstraße und Am Pappelweiher/Kupferofen Drehorte für zwei Drehwochen.

Auch darstellerisch ist die Region im Cannes-Favoriten vertreten: Die Maastrichterin Hadewych Minis, mehrfach ausgezeichnete Schauspielerin und Absolventin der Toneelacademie in Maastricht, spielt eine Nebenrolle.

Selbst Sandra Hüller kannte die Region bereits: Für die Biografie „Fräulein Stinnes" drehte sie 2008 in Raeren, wo der dortige Bahnhof zu sibirischer Kulisse wurde.

Wind Spiele in Cannes

Cannes/Aachen. An diesem Wochenende werden in Cannes die großen und kleinen Filmpreise vergeben, auch eine Aachenerin ist mit ihrem Film dabei: Alina Frieske wurde mit „Wind Spiele" zur „Short Film Corner", der Kurzfilm-Plattform des bedeutendsten Filmfestivals weltweit eingeladen.

Erst im Januar entstand die Studienarbeit, in der sich die junge Tatjana (Iulia Maracine) zwischen ihrem Traum, Tänzerin zu sein, und den praktischen Plänen ihres Vaters entscheiden muss. Sie bricht zu einer Gedanken-Reise auf, um herauszufinden, wo sie im Leben steht. „Wind Spiele" ist ein visuell sehr reizvoller 15-Minüter, der unter anderem mit Tanzsequenzen eine typische Situation des Erwachsenwerdens durchspielt.

Die 1994 in Aachen geborene Alina Frieske selbst wusste früh, dass sie einen kreativen Beruf ausüben möchte. „Ich habe immer einen Stift zum Malen in der Hand gehabt oder eigene kleine Geschichten verfasst." Vorbild war ihre Oma Sieglinde Frieske, die mit Ölgemälden arbeitet und Künstlerpuppen herstellt. Was nebenbei dazu führt, das beim Googlen nach „Alina Frieske" noch die gleichnamige Puppe ganz oben auf der Trefferliste auftaucht.

Nach dem Abitur am Einhard Gymnasium ging Alina Frieske direkt zur Kunstakademie in Maastricht, wo sie sich auf Visuelle Kommunikation und Fotografie spezialisierte. „Wind Spiele" ist ihr erster Film, er wurde euregional in Maastricht, in der Eifel und in Lüttich aufgenommen. Die Tanzszenen entstanden in der Lütticher Oper.

Nun ist die junge Regisseurin Alina Frieske fünf Tage lang in Cannes. Zusammen mit ihrer mexikanischen Produzentin Ilse Cuevas und dem Kameramann Lukas Bruns, der ebenfalls aus Aachen stammt. Die „Short Film Corner" präsentiert Kurzfilme aus aller Welt und bietet den Filmemachern Gelegenheit zum „Netzwerken" mit Produzenten und anderen Kreativen. Frieske weiß aber jetzt schon, dass sie neben ihrem Abschlussprojekt im Sommer nächsten Jahres an einem Drehbuch für einen neuen Kurzfilm arbeiten wird und Praktika bei größeren Produktionen machen will: „Die Erfahrungen, die ich am Filmset gemacht habe, haben mir sehr geprägt und mein Interesse in Film gesteigert."

****

PS: Es ist symptomatisch, dass der „Wind Spiele" in Cannes als niederländische Produktion startet: Zwar gibt es auch in Maastricht keine filmspezifische Ausbildung, aber die Initiative „CineSud" bündelt seit einigen Jahren alle filmischen Aktivitäten und kann schon im zweiten Jahr mehrere Cannes-Starter vermelden.

Website: windspiele-der-film.com

18.5.16

X-Men: Apocalypse

X-Men: Apocalypse

USA 2016 Regie: Bryan Singer mit James McAvoy, Michael Fassbender, Jennifer Lawrence 145 Min. FSK: ab 12

Der x-te X-Men-Film ist zwar wieder so ein Superhelden-Gedöns und noch eine Comic-Verfilmung zur Kinoverstopfung, aber auch ein Film von Bryan Singer. Der beispielsweise ebenfalls mit X-Man Ian McKellen den Holocaust-Film „Der Musterschüler" realisierte, sowie als offen Homosexueller und Jude die Außenseiter-Thematik der Comic-Serie durchaus als ernst empfindet.

Zuerst erzählt dieses doppelte Prequel allerdings extrem mühsam, bringt umständlich Handlungsfäden und Figuren zusammen. Es geht zurück zu den jungen X-Männern und –Frauen, zur Regierungszeit Reagans und auch hinter den Eisernen Vorhang. Dann aber richtig weit bis 3600 Jahre vor unserer Zeitrechnung zu den alten Ägyptern. Zumindest zu dem was Hollywood so an Kulissen und Computertricks aus der Periode hat. Deshalb sieht die Vorstellung vom allerersten und allermächtigsten Mutanten nur allzu bekannt und keineswegs eindrucksvoll aus. Ein Eindruck, der den ganzen Film begleitet.

Wieder in der Anfangs-Zeit von Xavier und Magneto während der Siebziger Jahre erweckt eine Art ägyptischer Steam-Punk mit Leiterbahnen aus Gold den Akku des Super-Mutanten. Ein weltweites Beben rüttelt alle verstreuten Figuren und die entschlummerten Zuschauer auf. Ruckzuck geht es ums Ganze - das Ende der Welt ist extrem einfallslos, was es den Rest des Films zu verhindern gilt.

Der erste Mutant aller Zeiten will selbstverständlich die Apokalypse des Titels, allmächtig und immer begleitet von vier Anhängern. Ihnen verspricht er einen Anteil der Allmacht. Das ist insofern politisch, weil man ein Erfolgskonzept von Nationalsozialisten und anderen Rattenfängern darin sehen könnte. Zudem entspricht die Situation der Mutanten der von Homosexuellen, die sich nicht trauen, aus ihrem Versteck herauszukommen.

Doch das ist mit viel gutem Willen hinein interpretiert in einen sehr schwachen dritten Teil des „X-Men"-Prequels. Der dritte Teil ist immer der schlechteste - das kommentiert sogar der Film selbst. Erst nach neunzig Minuten beginnt ein spannender Film, der aber wieder in den üblichen Prügeleien mündet. Selbst die größten Mentalisten benutzen am Ende ihre Fäuste. Erbärmlich! Während Duelle wie zwischen Superman und Batman völlig hirnrissig sind, hatte bei „X-Men"der Konflikt zwischen Hoffnung und negativer Weltsicht, zwischen Xavier und Magneto, eine wenigstens ein universelles Thema: Wie geht man mit Schmerz und Wut um?

Auch „X-Men: Apocalypse" versucht mehr als öde Superhelden-Albernheit zu sein, vergisst aber die Anforderungen an einen guten Film. Für die Fans werden die Superhelden vorgeführt, für die Produktions-Millionen haufenweise Mutanten-Tricks. Am Ende ist eine digitale Vernichtungsorgie gewaltigen Ausmaßes auch nur „State of the Art", was anderes fällt Hollywood gerade nicht ein. Nur Michael Fassbender, der in der Magneto-Rolle die größte tragische Fallhöhe hat, nimmt man selbst den Part des telepathischen Altmetall-Sammlers ab. Allerdings überlegt man irgendwann: Wieso hat es dieser ägyptische Über-Mutant in tausend Lebensaltern eigentlich das mit der Apokalypse noch nie hinbekommen? Leider ist der neue Bryan Singer ein Film, bei dem man besser nicht nachdenken sollte, es aber aus Langeweile nicht vermeiden kann.

17.5.16

Parchim International

BRD 2015 Regie: Stefan Eberlein, Manuel Fenn 89 Min. FSK: ab 0

Wer wollte nicht schon mal die Verfasser der Nigeria-Emails kennenlernen, die einem in ganz schlechtem Deutsch ein paar Millionen aus dem Erbe des „tragiklisch verbleichten Unkels" des Absenders versprechen? Vielleicht ist der chinesische Geschäftsmann Jonathan Pang die Personalisierung dieses Konzepts: Pang kaufte 2007 einen alten Militärflughafen bei Parchim in Mecklenburg-Vorpommern. Er will eine internationale Drehscheibe für Flugfrachtverkehr zwischen China, Europa und Afrika schaffen. Hier treffen sich die inflationäre Ausbreitung unnötiger Regionalflughafen, an denen vor allem Fördermillionen verfliegen, und das Porträt eines Visionärs aus China.

Im Dokumentarfilm begleiten die Filmemacher den Geschäftsmann sieben Jahre lang bei seinem wahnwitzigen Projekt, einen alten Militärflughafen zum Hotspot der Globalisierung zu machen. Anfangs wirkt ein Container auf Stelzen als Tower eher abbruchreif. Später sind die neuen Gebäude schick aber leer. Symptomatisch, dass Flugzeuge zu Trainingszwecken nur kurz die Landebahn berühren und dann wieder durchstarten. Die tatenlose Flughafen-Feuerwehr mäht derweil den Rasen und Herr Pang joggt in Peking. Ein absurdes Projekt, an das man wohl nur wegen der verzweifelten wirtschaftlichen Lage der Provinz über Jahre noch ein wenig glaubte. Die Regisseure spiegeln diese Hoffnungen, die Mechanismen der Verführung, die Selbstdarstellung der vorgeblichen Macher und die zurückhaltende Skepsis der kleinen Leute vor Ort. Die Politik macht auch mit, die Kanzlerin landete mal in Parchim zwischen. Der Film kann sich eine nüchterne Distanz erlauben, da sich die Protagonisten selbst entlarven. Hier wird ein Modellfall großer Globalisierungs-Phrasen vorgeführt, der sich in anderen Formen überall wiederholt. Etwa im Fußball, wie der niederländische Verein ADO Den Haag im schwierigen Konflikt mit einem chinesischen „Retter" erleben musste. Eine unterhaltsame Analyse von Globalisierungs- und Wachstums-Wahnsinn.

16.5.16

The Witch (2015)

USA, Großbritannien, Kanada, Brasilien 2015 (The VVitch: A new-england folktale) Regie: Robert Eggers mit Anya Taylor-Joy, Ralph Ineson, Kate Dickie, Harvey Scrimshaw 92 Min. FSK: ab 16

Gerne spielt sich nord-amerikanischer Horror in Neubauten auf dem Boden alter Indianer-Friedhöfe ab. Der von „The Witch" breitet sich um 1630 in Neu-England pur religiös aus, da die Indianer von den neuen Siedlern ja noch nicht erfolgreich unter die Erde gebracht wurden: Gerade von ihrer Puritaner-Gemeinschaft aus der befestigten Siedlung geworfen, versucht eine extremistisch religiöse Familie mit fünf Kindern in der Wildnis zu überleben. Zu schlechten Ernten und Jagdunfällen gesellen sich immer mehr schreckliche Ereignisse. In Sachen Schauerlichkeit halten sich die blutigen Schrecken die Waage mit den gegenseitigen Vorwürfen, man wäre nicht gottesfürchtig genug oder gar eine Hexe. Alle, auch schon die schnell lernenden Kinder (siehe „Das weiße Band"), probieren sich an dem Puritanismus aus, alle kümmern sich mehr um die Religion als um die Felder, alle scheitern an den selbstauferlegten, innerlichen Selbstkasteiungs-Pflichten. Schließlich räumt dieser Horror derart gründlich mit der Familie auf, dass wir heute ein anderes Amerika hätten, würde die Geschichte tatsächlich auf „Fakten" basieren, wie der Abspann behauptet.

Während die Bilder des Siedler-Lebens in der noch ungezähmten Natur zwar farbreduziert, aber doch eindringlich klar wirken, präsentiert diese ungewöhnliche Variante von Horror und Mystery ihre Schrecken ganz selbstverständlich in Parallelmontage mit kräftigen Rot-Tönen. Erfreulich und fast verstörend, dass „The Witch" so ganz ohne die Schockmomente und schleichenden Kameras des Teenie-Horrors auskommt. Zwischen den vor allem von der Tonspur her beängstigenden Szenen hoppeln Kaninchen und schwarzer Ziegenbock herum - so irritierend wie der sprechende Fuchs bei Lars von Triers „Antichrist". Wie die arme Siedler-Familie zwischen Gott und Teufel unentschieden ist, hängt auch der formal sehr konsequente und ansehnliche Film zwischen Horror und Arthouse. Wobei Letzteres ja gerade in der Abwesenheit von Ersterem für die Fans des Schreckens der schlimmste Horror ist. Also liegt mitten zwischen den Stühlen wohl nicht viel Erfolg.

Nur Fliegen ist schöner (2015)

Frankreich 2015 (Comme un avion) Regie: Bruno Podalydès mit Bruno Podalydès, Sandrine Kiberlain, Agnès Jaoui, Vimala Pons 105 Min. FSK: ab 0

Die Überraschungs-Party zu seinem Geburtstag irgendwo jenseits der 50 kann Michel (Bruno Podalydès) ebenso wenig begeistern, wie die Abende mit seiner Frau Rachelle (Sandrine Kiberlain) auf der Couch vor TV und Tablett. Die alte spleenige Leidenschaft für Postfliegerei ist nur noch Dekor und Verkleidung. Bis er im Internet auf ein Grand Raid 416 stößt. Das Kayak entfacht endlich wieder eine sinnlose Begeisterung. Diese neue Verrücktheit lässt ihn aufleben wie die Fliegerei in seiner Jugend.

Es folgen herrlich absurde Trockenübungen im Kayak auf dem Dach und nachts im Straßenverkehr, immer unterstützt von seiner wunderbaren Frau Rachelle. Dann geht es auf eine Fluss-Tour, auch wenn Michel keine Ahnung von Eskimo Rolle oder Navigation hat. Aber er ist perfekt und stylisch gekleidet, hat perfektionistisch alles eingekauft was man wahrscheinlich nicht braucht.

Als es soweit ist, will Michel sichtlich gar nicht aufbrechen und kommt auch später nicht voran: Sein erster Stop liegt bei einem paradiesisches Ausflugslokal mit märchenhaften und skurrilen Bewohnern. Die schöne Mila (Vimala Pons) muss immer weinen, wenn es regnet. Zwei seltsame Kerle malen alles, auch das Huhn blau an, die reizvolle Wirtin Laetitia (Agnès Jaoui) vertreibt die Vögel vom Kirschbaum ihres Verflossenen mit einem Solarradio und gibt Michel beim verspäteten Abschied eine Thermoskanne Absinth mit. Der nicht nur deswegen bald wieder zurückkehrt.

Die Seniorenkomödie mit Bruno Podalydès in Regie und Hauptrolle bezaubert mit selten gesehener Leichtigkeit, mit Melancholie, die immer von einer unerwarteten Brise verweht wird. Wie sich Michel, begleitet von seinen geliebten Bachfugen, den Fluss hinunter treiben lässt, führt dieser Sommerfilm auf unvorhersehbaren Wegen mühelos ins Glück. Sandrine Kiberlain („Mademoiselle Chambon") erfreut am Rande wieder als eine der größten Komödiantinnen. Eigentlich genau, was man machen oder sehen sollte, während die anderen Fußball gucken.

Monsieur Chocolat

Frankreich 2016 (Chocolat) Regie: Roschdy Zem mit Omar Sy, James Thiérrée, Clotilde Hesme, Olivier Gourmet 120 Min. FSK: ab 12

Die wahre Geschichte von Rafael Padilla, dem ersten dunkelhäutigen Othello-Darsteller auf Frankreichs Bühnen, wird in der Hauptrolle von Omar Sy („Ziemlich beste Freunde") getragen, dem ersten dunkelhäutigen César-Sieger der Nation. Auch Regisseur Roschdy Zem kann als Sohn marokkanischer Einwanderer, der als beliebter Schauspieler auf Immigranten-Rollen festgelegt ist, einiges über diese Reduktion der Persönlichkeit erzählen. „Monsieur Chocolat", eine interessante Geschichte mit einigen doppelten Böden also.

Der Clown-Darsteller Footit (James Thiérrée), eine Berühmtheit ohne Engagement, entdeckt um 1900 herum in der Provinz den ehemaligen kubanischen Sklaven Rafael Padilla bei einem kleinen Zirkus. Er wird Chocolat genannt und gibt in der Manage einen brüllenden Kannibalen, „das Bindeglied zwischen Menschenaffen und Menschen". Footit erkennt das Talent Padillas und baut mit ihm eine komische Nummer auf, ein alberner Klamauk mit Chocolat als „dummem August", der die meisten Tritte in den Hintern abbekommt. Die großartige physische Komik wird ein Erfolg, das Angebot aus Paris folgt bald.

Chocolat lebt und gibt den Erfolg dort in vollen Zügen aus. Er erweist sich als Spieler, der allzu leicht auch seine Liebe verspielt. Rassismus und Neid bringen ihn ins Gefängnis, wo ihn ein Einwanderer aus Haiti auf das Erniedrigende seiner Rolle hinweist. Der Film macht dies mit Menschen aus den französischen Kolonien deutlich, die wie Tiere im Zoo ausgestellt werden. Obwohl er Werbeverträge bekommt und Toulouse-Lautrec ihn karikiert, will Padilla nicht mehr Chocolat sein, sieht in Shakespeares Othello die Rolle seines Lebens. Im Streit im Padillas Zukunft wird aus dem komischen Ohrfeigen in der Manege ernst.

Das Leben von Rafael Padilla (1865/1868 - 1917) war lange vergessen, die berührende und sorgfältig inszenierte Biografie „Monsieur Chocolat" von Regisseur Roschdy Zem schreibt nun (diese) Geschichte auf mehrfache Weise: Sowohl der als Schauspieler populär Regisseur Zem („Das Mädchen aus Monaco", „Tage des Ruhms") als auch Hauptdarsteller Omar Sy werden diese Rolle kennen, werden sie doch oft für das jeweilige ethnische Klischee besetzt. Dabei argumentiert der Film selbst nicht Schwarz-Weiß und drischt auch nicht mit fertiger Botschaft auf einen ein. Padilla erweist sich ausgerechnet denen gegenüber als undankbar, die ihm in Karriere und Leben geholfen haben. Aber sobald er mehr will, wollen sie ihn halt nicht mehr unterstützen. Zudem steckt in dem Aufstieg und Niedergang von Chocolat im Vorkriegs-Frankreich viel von Showgeschäft von heute. Unter anderem klingt die etwas unsinnige Diskussion um deckungsgleiche Besetzung von Rollen nach ihrer Hautfarbe an.

Die konventionelle aber sichere Inszenierung von Roschdy Zem („Omar - Ein Justizskandal") überzeugt durch die beiden Hauptdarsteller: Die körperbetonten Nummern Omar Sy von James Thiérrée sind nicht nur im Zirkus komisch. Thiérrée hat sie mit entwickelt, ab und zu blitzt in seiner ebenfalls traurigen Figur sein Großvater Charlie Chaplin auf. Noch eine andere Geschichte, aber zu entdecken ist erst einmal das symptomatische Schicksal von Rafael Padilla, der mehr als devoter Clown für die reichen Weißen sein wollte.

10.5.16

Junges Licht

BRD 2016 Regie: Adolf Winkelmann mit Oscar Brose, Charly Hübner, Lina Beckmann, Peter Lohmeyer 122 Min. FSK: ab 12

Der 12-jährige Julian (Oscar Brose) flieht wieder mal die Schule, weil die Selbstverstümmelung an der falschen Hand halt nicht als Entschuldigung für vergessene Hausaufgaben herhält. Es sind die 60er-Jahre im Ruhrgebiet, für den Bergmannssohn sind brutale Prügelstrafen an der Tagesordnung. Das Geld reicht am Monatsende nur mit Flaschenpfand für die Packung Mirácoli. Bis Mutter zur Kur muss und die Männerwirtschaft neue Freiheiten zulässt.

Julian ist ein Gucker, das erkennt auch der fürsorgliche Nachbar Herr Gorny (Peter Lohmeyer), der ihm eine Kamera schenkt. So entwickelt sich über Tage mit herrlich lakonischem Tonfall eine Jugendgeschichte samt erwachender Sexualität, die sich an der Nachbarstochter austobt. Das Autobiographische schreibt hier nicht nur Regisseur Adolf Winkelmann („Jede Menge Kohle", „Contergan", „Engelchen flieg") erneut ins Kinogedächtnis, auch die mediale Erinnerung beginnt schon, wenn Herr Gorny sagt: „Fotografier mir Gesichter, so was schaut man sich später gerne an!"

Und so sieht man die Bergleute in den engen Schächten, die Frau am Büdchen und die besoffene Prostituierte mit dem naiven Blick des kleinen Jungen. Der auch noch nicht versteht, weshalb Papa und dessen Freund so um die Nachbarin rummachen. Oder die Familie später wider ihren Willen ausziehen muss. Da hilft dann auch eine Beichte nicht mehr, obwohl der Priester sehr geerdet all die kleinen Sünden als normale Adoleszenz erklärt.

Das ist Ruhrgebiets-Heimat in Gestus und Gestaltung, auch wenn hier das Schwarzweiß nicht immer nachvollziehbar von Farbe unterbrochen wird. Die gierig gekippte Milch nach der Schicht läuft im reizvollen Kontrast über die schwarzen Gesichter. Viel Aufmerksamkeit gilt der stählernen Mechanik, die alles am Laufen hält, dazu die denkmalgeschützte Architektur. Die unvorstellbar harte und gefährliche Arbeit unter Tage ist selbstverständlich Thema. Die Männer sprechen sich nur unter Tage aus, ihnen ist ein Brikett gefrorener Rahmspinat ebenso fremd wie die Psyche ihrer Frauen: „Hat irgendwas mit Gefühlen zu tun".

„Junges Licht" ist ein großes pathetisches Werk. Na ja, mit dem Pathos halt, den so ein einfacher Bergmann aus dem Ruhrgebiet verträgt. Aber bei aller mit Kohlestaub belegten Beweihräucherung der harten und ungesunden Industrievergangenheit hat „Junges Licht" auch reichlich erzählerische Qualitäten. Und viele, viele gute Schauspieler. Peter Lohmeyer gottgleich an den Hebeln des Aufzugs, das ist schon an der Grenze zum Satire, doch sein Charakter bekommt als gefährlicher Päderast bedeutende Züge. Wie überhaupt die kleine große Geschichte sorgfältig und emotional fein gezeichnet wurde. Nur schade, dass die Tonspur so vollgekleistert ist, vom Steigerlied bis zum Leitmotiv, das sich auf ewig einbrennen wird.

Remainder

Großbritannien, BRD 2015 Regie: Omer Fast mit mit Tom Sturridge, Cush Jumbo, Ed Speleers 103 Min.

Ein Unfall steht am Anfang und am Ende dieses extrem spannenden und mysteriösen Films: Ein Gegenstand fällt Tom (Tom Sturridge) mitten in einem Stück Stadt aus hochmoderner Glas- und Stahl-Architektur auf den Kopf. Er verliert seine Erinnerung und erhält 8,5 Millionen Britischer Pfund Schmerzensgeld. Die Gelegenheit eines neuen Lebens mit eindrucksvollen finanziellen Möglichkeiten zu seinen Bedingungen, so beschreibt es der Anwalt. Tom baut sich aus sehr verwirrenden Erinnerungs-Fragmenten, die immer wieder auftauchen, darauf eine ganze eigene Welt. Er lässt sich ein komplettes Mietshaus nach seinen Erinnerungen rekonstruieren, castet die Bewohner und die schwarzen Katzen, die sich mit Hilfe von Trainern auf dem Dach tummeln sollen. Diktatorisch verlangt er vom gemieteten Musiklehrer, dass dieser auf dessen Etage Chopin erneut komponieren soll, während in einer anderen Wohnung eine Frau für die Geruchskomponente der Erinnerung andauernd Leber brät. Zusätzlich wünscht er sich für die Authentizität der Szene Wolken herbei. Aber immer mehr fixieren sich Tom und der Film auf die Rekonstruktion eines Banküberfalls, bauen die ganze Bank nach und lassen üben, bis die Schauspieler den Raubzug tatsächlich real begehen könnten...

Regisseur Omer Fast galt bislang als Videokünstler, war auf der Dokumenta 13 vertreten und legt mit der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Tom K. McCarthy ein sensationelles Spielfilm-Debüt hin. „Remainder" - ein Wortspiel aus den englischen Worten für Reste (Remains) und Erinnerung (Reminder) - steht in einer Reihe mit Meisterwerken wie „Memento", „12 Monkeys" oder David Lynchs filmische Möbiusschleife „Lost Highway", die das Gehirn in neue Kurven legen.

Wie in Charlie Kaufmans Jahrhundertwerk „Synecdoche New York" - und wie bei jedem Spielfilm - rekonstruiert hier jemand die Realität auf wahnsinnige Weise. Da entwickelt sich das Nachspielen eines Banküberfalls zum Set einer kompletten Straße. Aber eine verrückte Wendung von dieser Versponnenheit zurück ins Leben, leitet das Finale eines atemberaubend genial konstruierten Films ein. Der auch glatt als Thriller durchgeht und sich nebenbei eines Koffers raffiniert als spannungstreibenden McGuffin im Sinne Hitchcocks bedient. Wobei Omer Fast immer noch Kunst zeigt, denn endlich traut sich ein Film mal wieder Bilder jenseits des Mainstreams zu zeigen.

9.5.16

Wie Männer über Frauen reden

BRD 2016 Regie: Henrik Regel mit Oliver Korittke, Frederick Lau, Barnaby Metschurat 89 Min. FSK: ab 12

Reden ist Silber. Richtig: Geschwätzige Komödien verkaufen sich ganz gut und lassen vergessen, dass Kino eine Kunst auch für die Augen ist. Doch Schweigen wäre nicht nur bei Schweiger Gold. Auch das Filmchen „Wie Männer über Frauen reden" würde sich ohne das dauernde zotige und leere Geschwätz noch mehr in Nichts auflösen: DJ, Martini und Frankie sind alte Freunde. Mit Betonung auf zu alt, um noch jede Nacht in den Clubs Frauen „aufzureißen". Das bekommt nur noch Frankie (Barnaby Metschurat) hin, aber der muss immer wieder das Bett für seine beste Freundin Tine (Ellenie Salvo González) freimachen. Beide suchen einen festen Partner, aber überdehnen den Film damit, dass sie aneinander vorbei blicken. Mehr Handlung ist auch nicht, dafür gibt's Sprüche, Sprüche, Sprüche.

Die Verfilmung blöder Sprüche (Buch: Carsten Regel) ist jetzt keine wahnsinnig neue Idee, aber es bleibt furchtbar, was da als Komödie angedacht wird. So wird Berlin von Kreuzberg aus ganz schnell entsiedelt, denn das hält kein Mensch aus. Diese Szene mit viel Sex zwischen peinlich und nicht lustig besteht vor allem aus Sprüchen, die nicht mehr auf die Teebeutel oder in die Glückskeks gepasst haben oder zensiert wurden. Die „Latzhosen-Intoleranz" ist dabei noch am erträglichsten. Szene für Szene wartet man auf den Witz, der nicht raus kommt. Eine Ü30-Teenie-Komödie ohne jede Überraschung. Oliver Korittke, Frederick Lau und Barnaby Metschurat zeigen durchgehend nichts von ihrem Können. Newcomer Frederick Lau enttäuscht mit seiner Filmauswahl.

Victor Frankenstein

USA, Großbritannien 2015 Regie: Paul McGuigan mit James McAvoy, Daniel Radcliffe, Jessica Brown Findlay 110 Min. FSK: ab 16

Eine gruslige Kreatur ist dieser Film: Zusammengeflickt aus schon verwesenden Klassiker-Fetzen, etwas frisches Schauspieler-Blut reingepumpt, schnell mit dicker digitaler Schminke aufgefrischt. Mary Shelleys Frankenstein-Stoff ist nicht tot zu kriegen, aber so widerbelebt, hätte man sich die Energie fürs kinematographische Funkenschlagen sparen können.

Der Zauberlehrling wird zum MTA, zum Medizinisch-technischer Assistenten. Harry Potter - sorry: Daniel Radcliffe - ist der bucklige Clown im Zirkus, der von der Trapez-Künstlerin Lorelei hoch über ihm träumt. Und Anatomie auch in Büchern studiert, wenn er nicht gerade verprügelt wird. Dies Talent erkennt der Tierleichen-Fledderer Victor Frankenstein (James McAvoy), entführt den vermeintlichen Krüppel und richtet ihm im Schnellheilverfahren zum Assistenten auf.

Ja, dies ist das schummerige London der Dampfmaschinen, das mit Steam Punk-Elementen zu einer Action-Kulisse aufgehübscht wird. Der Schnellheilung und äußerliche Aufrichtung des Clowns, der nun Igor genannt wird, folgen gemeinsame Versuche, verstorbene Organe mit Elektrizität wieder zu beleben. Igor ist der eigentlich geniale, der für Fortschritte in dieser recht speziellen Wissenschaft sorgt. Parallel wird aus der Flucht vor den Zirkusleuten eine Kriminalgeschichte von der Suche nach einem Mann, der immer wieder Körperteile klaut.

Zuerst springt ein Zombie-Schimpanse wild herum, dann findet sich ein Mäzen, der den Menschenversuch fordert. Die Aussicht auf Erfolg lässt Frankenstein größenwahnsinnig und unsympathisch werden. Igor teilt die moralischen Bedenken des Polizisten. Was zu einem Duell der fortschrittlichen Wissenschaft gegen einen religiös extremistischen Beamten führt. Da dies wohl nicht reichte, wurde eine tragische Geschichte drangeklebt. Die nicht wirklich funktioniert - weder für Frankenstein noch für die Zuschauer. Nebenbei läuft recht lieblos die Romanze mit der Trapezkünstlerin mit. Im Finale wird es dann ganz lächerlich, wenn Frankenstein Leben schafft, um es direkt danach wieder umzubringen - nur für eine heftige Action-Szene.

Das Produktions-Design macht dem alten London keinen großen Eindruck, die Schauspieler könnten mehr. James McAvoy legt nur anfangs einen sehr lässigen Victor Frankenstein hin. Da kann man schon Bedenken haben, ob das wirklich moralisch ok ist, auf diese Weise einen alten Filmstoff wiederzubeleben. Die Verlagerung der Perspektive auf Igor zündet nicht, das Monster an sich, bringt dramaturgisch so viel wie ein Rest aus der Fleischtheke. Ein Trauerspiel, vor allem wenn man an das ganze moralische Konfliktpotential denkt und an die tragische Tiefe des Originals.

2.5.16

Peggy Guggenheim - Ein Leben für die Kunst

USA, Italien, Großbritannien 2015 Regie: Lisa Immordino Vreeland 92 Min. FSK: ab 0

Die Kunstsammlerin Peggy Guggenheim (1898-1979) war wandelnde Kunstgeschichte. Unter den sehr, sehr reichen Guggenheims, war sie allerdings nur sehr reich. Ihr Vater starb auf der Titanic, seine Geliebte überlebte. Peggy Guggenheim lebte und wirkte in London, Paris, New York, Venedig und zählte Marcel Duchamp, Max Ernst, Jackson Pollock, Yves Tanguy oder Samuel Beckett zu ihren Bekanntschaften. Während des zweiten Weltkrieges kaufte sie in Paris unter Lebensgefahr Kunstwerke und rettet Schätze aber auch Künstler aus dem besetzten Europa.

Diese Dokumentation lässt Peggy Guggenheims müde Stimme in einem lange als verschollen gegoltenen Interview hören, das zu den vielen tragischen Ereignissen in ihrem Leben zu passen scheint. Ein Leben, das von Affären und Beziehungen zu einigen der größten Künstler des letzten Jahrhunderts geprägt war. In rascher Folge werden zeitgenössische (Kunst-) Filme eingestreut, kurze Erklärungen historische aktueller Kunstströmungen wie Dadaismus und vor allem haufenweise Berühmtheiten. Künstler, zu denen sie wohl oft ein Verhältnis hatte. Das dient verschiedenen „Talking Heads" dazu, gleich eine psychologische Kurz-Analyse als „gestörte emanzipierte Frau" abzulegen.

Kurz, ein Par Force-Ritt durch Zeit- und Kunstgeschichte. Entsprechend zu einem aufregenden Leben, das diese brav chronologisch erzählte Biographie irgendwie nur vorsichtig und sachlich wiedergibt. Man ahnt nur eine faszinierende Frau hinter der Flut von Bildern um sie herum. Das macht neugierig, ist aber wohl nur für Interessierte interessant.

La belle saison

Frankreich, Belgien 2015 Regie: Catherine Corsini mit Cécile de France, Izïa Higelin, Noémie Lvovsky 106 Min. FSK: ab 12

Die 23-jährige Delphine (Izïa Higelin) hat das Landleben auf dem Bauernhof ihrer Eltern satt. Sie zieht nach Paris, um ländlichen Moralvorstellungen zu entkommen, denn seit einer Weile weiß sie, dass sie nur etwas fühlt, wenn sie Frauen küsst. Im Paris der 70er-Jahre wird mit viel Begeisterung die Frauenbewegung inszeniert. Beim Sprengen der Veranstaltungen von Abtreibungsgegnern, bei den Aktionen für Gleichberechtigung lernt Delphine die extrovertierte Carole (Cécile de France) kennen, ist begeistert von ihr, sogar mehr als begeistert. Und dann schockiert, als sie erfährt, dass Carole mit einem Mann zusammen ist. Doch die Liebe bricht mit dem ersten Kuss aus und das Glück erstrahlt in warmen Farben im Hippie-Umfeld. Bis Delphine durch den Zusammenbruch des Vaters wieder auf dem Bauernhof und in einer extrem von Männern dominierten Welt landet. Carole kommt zwar nach, doch die forsche Jung-Bäuerin ist plötzlich in einer defensiven Haltung. Bei sich zu Hause will sie die neue Beziehung geheim halten, was für die lebenslustige Liebe aus Paris schwer erträglich ist.

Mit viel Leidenschaft und dem Licht des Sommers lässt sich diese schöne Liebesgeschichte genießen. Es werden eine Menge gesellschaftlicher Konfliktpunkte angerissen und es gibt eine ganze Reihe erotischer Szenen, auch wenn es nicht so heftig wird, wie in „Blau ist eine warme Farbe". Cécile de France („Der Junge mit dem Fahrrad") macht den Zeitgeist und die großen Gefühle glaubhaft. Toll auch, wie Noémie Lvovsky, die als Schauspielerin und Regisseurin meist rebellischere Positionen vertritt, die bitter konservative Mutter Delphines spielt. „La belle saison" von der erfahrenen Regisseurin Catherine Corsini (grandios: „Die Affäre", 2009) ist in Hauptfiguren sowie in den ländlichen als auch den Pariser Umgebungen vor allem „belle" - eher schön als vielschichtig. Doch die schwierige Liebesgeschichte erreicht sicher ihr Publikum.

Triple 9

USA 2016 Regie: John Hillcoat mit Casey Affleck, Woody Harrelson, Kate Winslet, Anthony Mackie, Chiwetel Ejiofor 116 Min. FSK: ab 16

Man hätte es schon früher ahnen können, als diese junge Schauspielerin ihren neuen Bekannten bei der Kreuzfahrt im Atlantik eiskalt ertrinken ließ. Zuletzt versuchte Kate Winslet mit bösen Ränkespielen in „Die Bestimmung" einen ganzen Staat an sich zu reißen und die Jugend zu verderben. Und dann sah man sie - leider nur auf der DVD „Dressmaker" - als herrlich bösartigen Rache-Drachen in Australien. Doch jetzt setzt Winslet den Gemeinheiten eine besonders schöne Krone auf: Kate Winslet steht als Irina Vlaslov mit roten Pumps im Blut einer koscheren Schlachterei. Deren eigenen Geschäfte sind keineswegs koscher. Als Patin der Russenmafia in Atlanta lässt sie eine Handvoll Polizisten Raubzüge für sie begehen. Dabei ist sie nicht hinter Geld her, sondern will belastende Dokumente vom Staat klauen.

Michael Atwood (Chiwetel Ejiofor) ist Kontaktperson für Irina Vlaslov - und mehr. Der harte Cop hat ein Kind mit Vlaslovs Schwester und gnadenlos kontrolliert die blonde Killerin den Ex-Schwager. Denn nach erfolgreicher Aktion und Action gibt es nicht das versprochene Geld. Stattdessen mehr Druck und einen noch schwierigeren Auftrag. Um die Aufmerksamkeit von einem Diebstahl heikler Daten abzulenken, muss ein „999" her. Der titelgebende (Triple 9) Mord an einem Polizisten. Ein brutales Spiel beginnt, bei dem es nur Verlierer gibt.

Regisseur John Hillcoat ist einer der Gewaltmenschen des Kinos: Zuletzt inszenierte er den unglaublich intensiven Western „Lawless - Die Gesetzlosen" nach einem adaptierten Drehbuch von Nick Cave. Zuvor beeindruckte er schon mit dem Endzeit-Drama „The Road" (2010) und dem Gefängnisfilm „Ghosts... of the civil dead" (1988). Nun meistert er den knallharten Cop-Thriller „Triple 9" ohne mit Klischees dieses beliebten Genres zu langweilen. Dazu trägt die Kamera von Nicolas Karakatsanis mit dunklen und rauen Szenen bei, aber vor allem die grandiose Besetzung: Kate Winslet liest dem Neffen, der auch Geisel ist, Kindergeschichten vor, um direkt danach ein paar kleine Betrüger hinrichten zu lassen. Woody Harrelson als sehr lässiger und verkommener Kommissar Jeffrey Allen mit entstellendem Überbiss ist der letzte Hoffnungsträger in einer korrupten Gesellschaft. Wenn da nicht der unkontrollierbare Neuling aus dessen Familie wäre: Der Polizist Chris Allen (Casey Affleck) kommt aus einer besseren Gegend, ist eigentlich verdammt, im harten Krieg gegen die Gangs unterzugehen. Wie erwartet legt er sich immer mit den falschen an. Doch nach der anfänglichen Überraschung, dass es Polizisten sind, die den Raub sehr professionell durchgezogen haben, gibt es auch beim Niedergang der Cop-Gang noch ein paar unerwartete Wendungen. Mit der erwartet hohen Zahl an Toten.

Man muss solche Filme nicht mögen, aber in einer Kino-Zeit mit Superhelden-Nichtigkeiten, die hauptsächlich aus Prügeleien bestehen, wirkt diese Gewalt aus der echten Welt sogar befreiend. Vor allem, wenn sie von einem Könner wie Hillcoat packend inszeniert wurde, und wenn reihenweise gute Schauspieler schauspielern dürfen, statt in bunten Strumpfhosen durch die Luft zu fliegen.