31.1.16

Gänsehaut (2015)

USA, Australien 2015 (Goosebumps) Regie: Rob Letterman mit Jack Black, Dylan Minnette, Odeya Rush 103 Min.

Wieso hassen eigentlich alle diese Figuren ihren so überaus erfolgreichen Autor und Schöpfer? Jack Black spielt den real existierenden Bestseller R.L. Stine, bei dem dieser inflationär gebrauchte Begriff mal stimmt: Zwei Bücher jeden Monat summieren sich zu über Hundert Bänden, die rund 350 Millionen mal verkauft wurden! 1992 wurde Stine mit der Jugend-Gruselbuchreihe Gänsehaut richtig erfolgreich. Und nun wird dieser verschrobene Kerl von seinen eigenen Kreaturen gejagt...

Es ist der Teenager Zach (Dylan Minnette), der nach einem Umzug zuerst die supernette und witzige Nachbarin Hannah (Odeya Rush) kennen lernt und dann ihren sehr seltsamen Vater Stine fürchten soll. Die Jugendlichen kommen sich in einem zauberhaft verlassenen und zugewachsenen Kirmes-Park näher, bei dem freundlicherweise die Elektrizität noch funktioniert. Doch bevor sich was zwischen den beiden entwickeln kann, verschwindet Hannah und bei der heimlichen Suche in Stines Haus fällt eines der vielen verschlossenen Bücher aus dem Regal, worauf dem entriegelten Band ein riesiger Yeti entsteigt. Statt langsamer Steigerung öffnet sich hier direkt Büchse der Pandora mit Stines Büchern, die reihenweise ihre Kreaturen in die Wirklichkeit entlassen: Start frei für die Action!

Der Zauber der Bücher, ihre Kraft, Welten und Wesen zu schaffen, ist im Zirkelschluss auch immer selbst literarisches Thema, ganz populär beispielsweise in Michael Endes „Die unendliche Geschichte". Doch „Gänsehaut" stammt aus der Welt der effekt- und action-reichen Film-Fantasie, ist ein Nachbar von „Jumanji" und zitiert aus einem ganzen Kosmos von Populärkultur-Monstern.

Eine Armee animierter Gartenzwerge, eine riesige Gottesanbeterin, der Werwolf in der Fleischtheke des Supermarktes, der auf das Schoßhündchen-Spielzeug reinfällt. Auch der vampireske Pudel ist eine tolle Idee, zahme Zombies nicht so sehr. „Gänsehaut" fährt eine immer mal reizvolle Ansammlung an fantastischen Kreaturen auf, doch insgesamt wirken sie bei aller tricktechnischen Perfektion zu glatt und nicht wirklich bedrohlich. Da hilft auch die Musik von Gruselmeister Danny Elfman nicht und Jack Blacks Stimme für die wahnsinnig hassende Bauchredner-Puppe Slappy, sein Alter Ego, nur ein wenig.

Dass sich hier zwei Waisen verlieben - geschenkt. Dass der so übermäßig erfolgreiche Autor selbst noch ein einsames, verzogenes Kind ist, das sich fantastische Freunde ausdenkt und sie dann in Bücher wegschließt, wird mehr erwähnt als wirklich ausgespielt. Wobei Jack Black diese Figur hervorragend hinlegt, immer wieder aus der Action heraustritt und sich als spleeniger und eitler Autor aufführt. Die ganze Produktion konnte anständige Schauspieler verpflichten, zum Beispiel macht dadurch Zacks Tante als Ulk-Nudel viel Spaß. Doch auch dieser Spaß geriet unter die Räder der gigantischen Action- und Trick-Maschinerie, wie das Riesenrad-Zitat aus Spielbergs „1941 – Wo bitte geht's nach Hollywood" im Finale sinnbildlich zeigt. Schade, denn Ideen und Qualitäten hätte der Film für mehr gehabt.

Robinson Crusoe (2016)

Belgien, Frankreich 2016 Regie: Vincent Kesteloot 90 Min. FSK: ab 0

Wie sähe eigentlich das bekannte Stranden von Daniel Defoes „Robinson Crusoe" aus der Sicht der schon vorhandenen Inselbewohner aus? Damit sind jetzt mal nicht Freitag und sein Kannibalen-Stamm gemeint – wir sind hier im Kinderfilm - sondern die tierischen Ureinwohner. Der neueste Animationsfilm des flämischen Trick-Zauberer und -Innovators Ben Stassen reiht am Strand neben dem, nun ja: federführenden Papagei auch noch mit Tapir, Ziege, Gürteltier, Stachelschwein, Chamäleon und Kolibri eine witzige Truppe auf. Bis auf den Papagei blickt man dem Fremden Robinson und seinem Hund skeptisch entgegen. Doch nach viel witzigem Hin und Her hilft man sich erst und freundet sich dann an. Wenn da nicht garstige Quertreiber aus dem Bauch des gestrandeten Schiffes wären: Zwei Katzen wollen vor allem den Menschen loswerden...

Der belgisch-französische Zeichentrick „Robinson Crusoe" überrascht mit schillernden und detaillierten Zeichnungen ... von sehr einfach angelegten Figuren. Dass ein dickes, gutmütiges Tapier-Tier in der Synchronisation mehr schlecht als recht unbedingt von Ilka Bessin alias Cindy aus Marzahn gesprochen werden muss, und der trottelige Ziegen-Zottel von Hallervorden mit Honig im Kopf oder in der Stimme, verstärkt die Eindimensionalität, die selbst kindliches Zielpublikum unterfordert.

Bei einer kleinen Achterbahn-Fahrt durch die Klippen oder dem stürmischen Schiffs-Geschaukel erkennt man, dass Ben Stassen mit seiner Brüsseler Firma nWave einmal Marktführer auf dem Gebiet der Rides war, dem filmischen Durchrütteln in Freizeitparks. Fast fotorealistische Momente oder komische Gesichter wie aus Robert Zemeckis' Animationen „Eine Weihnachtsgeschichte" oder „Der Polarexpress" sehen tatsächlich aus wie von einem wesentlich reicheren Filmstudio fabriziert. Schon bei Stassens früheren Produktionen und Regiearbeiten („Das magische Haus", „Sammys Abenteuer", „Fly Me to the Moon") konnte man über die tricktechnische Qualität staunen. An Seele fehlte es auch diesen einfachen Geschichten. So kommt zwar das Gleichnis zu Angst oder Neugierde vor dem Unbekannten kindgerecht rüber, doch diese flachen Figuren wird man nicht ins Herz schließen.

26.1.16

Ein Atem

BRD, Griechenland 2015 Regie: Christian Zübert mit Jördis Triebel, Chara Mata Giannatou, Benjamin Sadler, Apostolis Totsikas 100 Min. FSK: ab 12

„Wir sind in dem Alter, wo etwas passieren müsste, aber wir sitzen in deinem Kinderzimmer und tun nichts." Mit diesem Statement eines jungen Paares kann man auch die furchtbare Situation von Menschen in Griechenland zusammenfassen. Elena (Chara Mata Giannatou) bleibt nichts anderes, als in Deutschland als Kindermädchen zu arbeiten, denn „hier bekommen wir nur vier Euro die Stunde". Pointiert werden noch die Erziehungsmethoden der deutschen Karriere-Mutter Tessa (Jördis Triebel) vorgeführt, doch es ist schon schmerzhaft zynisch, wie sich die unausgeglichene Mutter das im bequemen Leben eigentlich unpassende Kind hinterhertragen lässt, während Elena voller Panik mit Blutungen eine Fehlgeburt befürchtet. Dazu unverschämte Bemerkungen und die Forderung, für wenig Geld Kindermädchen und Dienstbotin gleichzeitig zu sein. Dann führt eine Verkettung von Umständen und kleinen Dramen zu einer griechisch-deutschen Komödie. Das Kind verschwindet, Elena flieht panisch zurück nach Athen, die hysterische Tessa reist ihr hinterher...

Der sozio-ökonomische Rahmen ist kurz und treffend gezeichnet, das packende und erschütternde Drama dicht und genau erzählt. In der raffinierten Montage erleben wir durch einen neuen Erzählstrang die Handlung aus der Perspektive von Tessa. Dabei verliert sich jede klischeemäßige oder nationalistische Vorverurteilung. Beide Frauen sind vor allem Mütter, wobei die Griechin doch letztendlich die Verliererin sein wird. Und das bittere Fazit des deutschen Paares lautet: „Wir haben wirklich Glück."

Christian Zübert, der schon mit „Lammbock" sein Komödien-Vermögen bewies, führt hier äußert sicher Leben und Europa-Politik zusammen. Im Zentrum von „Ein Atem" stehen die Frauen, Männer an ihrer Seite versagen alle in den entscheidenden Momenten. Nur der Regisseur überzeugt auf ganzer Linie.

25.1.16

Alvin und die Chipmunks: Road Chip

USA 2015 (Alvin and the Chipmunks: The Road Chip) Regie: Walt Becker mit Jason Lee 86 Min.

Die Trickfilm-Streifenhörnchen Alvin, Theodore und Simon sind berüchtigt für ihre piepsig hohen Stimmen, ganz billige Musik und das passende Getanze dazu. Unglaublicherweise ist dies bereits die vierte Kombination der animierten Nervensägen mit Realfilm-Handlung. Diesmal mutet ihnen Ziehvater Dave (Jason Lee in seiner härtesten Rolle) eine neue Lebenspartnerin zu, was den kleinen Quälgeistern einen bösartigen Stiefbruder einbringt. Die animalischen Ziehsöhne verhalten sich wie richtige und zicken mächtig herum. Beim Versuch, Dave nach Miami hinterher zu fliegen, fliegen sie aus dem Flieger. Ein Road Trip samt die Verfolgung durch einem wahnsinnigen Flight Marshall ist die filmisch furchtbare Konsequenz, die sich für die Familienzusammenführung schließlich doch als nützlich erweist. Ob jedoch dieser Overkill an Slapstick und grausam einfachen Albernheiten auch Familien zusammen ins Kino führen kann? Schon die Stimmen der Trickfilm-Viecher sind eine Qual für die Ohren. Die blödsinnige Handlung tut im Hirn weh und die Musikstücke triggern gleich mehrere Flucht-Reflexe. Doch wer die felligen Quietsche-Enten niedlich und die sehr einfachen Scherzchen witzig findet, könnte die fast 90 Minuten aushalten. Doch es soll ja auch Kinder mit Geschmack und Niveau geben.

24.1.16

Dope

USA 2015 Regie: Rick Famuyiwa mit Shameik Moore, Tony Revolori, Kiersey Clemons 103 Min. FSK: ab 16

Da will mit Malcolm (Shameik Moore) mal jemand nicht der klischeehafte junge Schwarze aus dem Ghetto von Los Angeles County sein, will die Schule mit guten Noten durchziehen und dann in Harvard studieren. So ist Malcolm mit seinen Freunden, der lesbischen Diggy (Kiersey Clemons) und Jib (Tony Revolori), gehänselter Streber und Mitglied einer Punk-Band bis ihn ein blöder Umweg in den Besitz eines Rucksacks voller Koks bringt. Nun beginnen die Nerds, denen keiner was zutraut, bei denen der Metall-Detektor ruhig piepsen darf, einen sehr einträglichen Drogenhandel. Sie nutzen das Chemie-Labor und den Computerraum, um Bitcoin-Reichtümer aufzuhäufen.

„Dope" geht als Komödie los, läuft aber zwangsläufig gegen die Wand der sozialen Realitäten. Dabei rasen die drei Freunde auf ihren BMX-Rädern zeitweise wie die „Drei Fragezeichen" durch die Straßen von L.A. Nur ist die Drogenkriminalität, die hinter ihnen her ist, wesentlich gefährlichen und attraktiver als Setting. „Dope" sieht nicht nur gut und hochwertig produziert aus, es gibt witzig eingebaute Rückblenden, etwas verrückten Tarantino-Talk und schließlich ein starkes Statement gegen die extrem ungleichen Chancen für Jugendliche, abhängig von Hautfarbe und sozialem Hintergrund. Nicht nur die Rolle von Malcolm ist super gespielt, aber bei ihm geriet die Figur besonders dankbar, weil sie bei diesem Abenteuer wachsen darf.

Im Schatten der Frauen

Frankreich, Schweiz 2015 (L'ombre des femmes) Regie: Philippe Garrel mit Clotilde Courau, Stanislas Merhar, Lena Paugam 73 Min. FSK: ab 12

Die Zeitmaschine Film funktioniert mal wieder vortrefflich: Schlichte Schwarz-Weiß-Bilder, eine sachliche Romanze, dazu der nüchterne Off-Kommentar wie bei Truffaut, die nur kurzen musikalischen Intermezzi – „Im Schatten der Frauen" könnte Nouvelle Vague sein, die französische Film-Welle der späten Sechziger. Doch nur der Regisseur Philippe Garrel und Drehbuchautor Jean-Claude Carrière stammen daher, die Geschichte ist frisch von heute: Die Dokumentarfilmer Pierre (Stanislas Merhar) und Manon (Clotilde Courau) leben schon lange zusammen. Gerade porträtieren sie einen Widerstandkämpfer. Sie teilen das Engagement für die politischen Themen und sie teilen auch seine Erfolglosigkeit. Die recht lieblose Alltags-Beziehung führt Pierre zu einer Affäre mit der jüngeren Elizabeth (Lena Paugam) aus dem Filmlabor. Doch Elizabeth will mehr, folgt Manon und entdeckt, dass auch sie einen Liebhaber hat. Nun reagiert Pierre völlig dramatisch und schmeißt seine Freundin schließlich raus. Die Affäre seiner Frau kann er nicht ertragen.

Das nüchterne Beobachten des typischen Blödsinns, der so gern in Beziehungen geschieht, geht bei „Im Schatten der Frauen" wunderbar einher mit einem doch gefühlvollen Miterleben. Tolle Schauspieler vermitteln eine intime Nähe zu den Figuren. Stanislas Merhar gibt mit seinen leicht brutalen Gesichtszügen dem passiven Pierre eine reizvolle Dimension. Lena Paugam hat in ihren Bewegungen und im schüchternen Lächeln etwas von der jungen, noch linkischen Charlotte Gainsbourg.

Doch die Qualitäten dieses feinen, reizvollen und bemerkenswerten Films sind vor allem auf Regisseur Philippe Garrel und Drehbuchautor Jean-Claude Carrière zurückzuführen: Garrel, der in Venedig 2005 für seinen „Unruhestifter" den „Silbernen Löwen" für die Beste Regie und auch noch den Kamerapreis (für William Lubtchansky) erhielt, drehte schon 1964 als 15-Jähriger Filme. In Deutschland wurde er erst in den Achtzigern einem kleinen Kreis bekannt. Auch Jean-Claude Carrières Arbeiten gehen zurück in die Sechziger Jahre, allerdings äußerst prominent mit Louis Malles „Viva Maria" und Buñuels „Belle de Jour". Zudem schrieb er unter vielen anderem die Bücher zu Schlöndorffs „Die Blechtrommel", Andrzej Wajdas „Danton" und Philip Kaufmans „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins". Da verwundert die Stimmigkeit der Beziehungs-Unstimmigkeit nicht mehr, da versteht man, weshalb man diesen Figuren so uneingeschränkt und gerne auf ihren kleinen, gemeinen Abwegen folgt.

Sebastian und die Feuerretter

Frankreich 2015 (Belle et Sebastien: L'aventure continue) Regie: Christian Duguay mit Félix Bossuet, Tchéky Karyo, Thierry Neuvic, Margaux Chatelier 97 Min. FSK: ab 6

In der Fortsetzung von „Belle & Sebastian" hebt der Kinderfilm als veritables Abenteuer mit Hund ab. Der 10-jährige Waisenjunge Sebastian treibt im Alpendorf Saint Martin sein Unwesen. In Erwartung seiner Tante Angelina, die am Kriegsende nach Hause kommen darf, stürzt der Junge erst einmal fast mit dem Schlitten in einen Abgrund. Nur Belle, die flauschige Lassie-Variante aus Frankreich, kann ihn retten. Dann stürzt die Tante wirklich mit dem Flugzeug ab, die Trümmer verursachen einen Waldbrand. Sebastian, der sich auf nervenaufreibende Weise immer selbständig macht, bricht auch nun alleine auf, um seine Tante zu retten. Ein paar Szenen weiter hat der action-geladene Kinderfilm direkt zwei Flugzeug-Abstürze zu verzeichnen, der eine Suchtrupp sucht den anderen, dazu gibt es die Entdeckung eines bisher unbekannten Vaters, während gleichzeitig die Tante verschollen ist. Dazu macht Hündin Belle im Kampf mit einer Bärin auf DiCaprio – auch Flohfänger wollen Oscars bekommen.

Action-Regisseur Christian Duguay („Hydrotoxin – die Bombe tickt") hat sich bei der Umsetzung der Vorlage von Cécile Aubrys Romanen vielleicht im Genre vergriffen, allerdings ist es markt-technisch auch sinnvoll, die Kleinen möglichst früh von Action-Kino, Popcorn, McDonalds und so weiter abhängig zu machen. Während Sebastian in der a la Indiana Jones aufregenden Handlung fleißig Rettungsflieger und Feuerwehrleute stört und ihn eine italienische Feuerwehrtochter betört, kann man die sehr aufwändige, sorgfältig Inszenierung mit den guten Schauspielern bewundern. Gut geht am Ende auch alles – vor allem an der Kinokasse.

The Hateful 8

USA 2015 (The Hateful Eight) Regie: Quentin Tarantino mit Samuel L. Jackson, Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh, Tim Roth, Michael Madsen 168 Min.

Quentin Tarantinos 8. Film ist wiederum beachtlich: Ein Western mit Musik von Ennio Morricone - was sonst bei diesem Fan des Spaghetti-Western und des Pulp? Eine leicht verschachtelte Geschichte - wie als Hommage an den eigenen ersten erfolgreichen Film "Pulp Fiction".

Aus den üblichen Weiten des Westens zwängt Tarantino seine sehr profilierten Protagonisten mit ihren skurrilen Vorgeschichten in eine eingeschneite Poststation-Situation, um dort ein brutales und blutiges Kammerspiel zu inszenieren. Wie immer in aberwitzigen und ausgedehnten Dialogen diskutieren die Kopfgeldjäger John „The Hangman" Ruth (Kurt Russell) und Major Marquis Warren (Samuel L. Jackson) über Vor- und Nachteile ihres Berufes. Ruth hat die Gefangene Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) per Handschelle am Arm. Sie ist 10.000 Dollar wert, die drei tiefgefrorenen Leichen, auf denen Warren anfangs sitzt, zusammen 8.000. Doch in der kuscheligen Herberge warten weitere schillernde Gestalten, unter denen Ruth ein paar Komplizen seiner Beute vermutet. Michael Madsen („Reservoir Dogs", „Kill Bill") gibt den stillen Cowboy Joe Gage, Bruce Dern den Konföderierten-General Sandford Smithers und Tim Roth („Pulp Fiction") den Henker Oswaldo Mobray.

Hier blättert beim über fast drei Stunden unterhaltsamen Gemetzel erstmals der blutige Lack ab: Tim Roth, ein großartiger, sagenhafter Schauspieler, der immer wieder überraschen kann, fungiert hier in jedem Satz und jeder Geste nur als Ersatz für Christoph Waltz, der nach „Inglourious Basterds" und „Django Unchained" diesmal nicht mit Tarantino mitspielt. Eine irritierende Schande.

Recht selbstverliebt lässt sich Tarantino viel Zeit mit dem gegenseitigen Niedermetzeln seiner Figuren. Das ist meist ok, seine Darsteller laufen zu großer Form auf, die Bilder sind anständig. Samuel L. Jackson ficht wenige Jahre nach dem Bürgerkrieg noch einige Nachhut-Gefechte und persönliche Rache-Aktionen mit den Schwarzen-Hassern aus den Südstaaten aus. Tarantino schlägt sich wieder auf die Seite des schwarzen Helden, selbst wenn hier sehr oft Nigger gesagt wird.

Vor allem erzählt der überschätzte Regisseur in aller Breite von 70mm-Bild. Trashig wirkende Schärfenverlagerungen sind sicherlich wieder irgendwelche Referenzen an irgendwelche verkannte Meister der 70er-Jahre, doch bleiben sie trotzdem billig und nervig. Am Ende, wenn fast alle mäßig originell hingemetzelt wurden, wenn der Boden mehrlagig mit Blut besprüht ist, macht sie sich wieder bemerkbar, die große Leere hinter all den Kunststückchen und Mätzchen von Tarantino. Soll uns etwa das Schlussbild von „The Hateful 8" erzählen, dass die hässliche Fratze des Rassismus gegen die erfolgreiche Zusammenarbeit von Schwarz und Weiß verlieren muss? Ziemlich simpel wäre das, aber es ist ja auch ein Tarantino-Film!

Denn nach zwei Gewalt-Akten, „Django Unchained" und „Inglourious Basterds", die tatsächlich ein Thema hatten, muss man wieder feststellen, dass der Film-Nerd Quentin Tarantino zwar sehr viel zeigen kann, nämlich wie viel Tausende Filme er aus seinem Kopf heraus zitieren kann, aber zu sagen hat das große Spiel-Kind Hollywoods mit all seinen Möglichkeiten: Nichts. Was besonders erschreckend auffällt, wenn Tarantino in Interviews mehr als Scherze und Zitate abliefern soll. Dann kommt trotzig und unflätig das große Kind heraus. Vor allem, wenn man etwas Durchdachtes über die Gewalt in seinen Filmen hören will. Worauf er mittlerweile referieren kann, sind starke Frauen-Figuren und der Kampf um Gleichberechtigung für Afroamerikaner. Allerdings zeugen unpassende Begriffe wie "Holocaust der Native Americans" und "Holocaust der Afroamerikaner" von nicht besonders viel Diskurs-Erfahrung. „The Hateful 8", der sehr unterhaltsame 8. Film von Tarantino lässt vor allem hoffen, dass sein „8 1/2" mal etwas ganz anderes sein wird.

23.1.16

Komm und sieh das Paradies

USA 1990 (COME AND SEE THE PARADISE) Regie: Alan Parker mit Dennis Quaid, Tamlyn Tomita, Sab Shimono, Shizuko Hoshi 132 Min. FSK: ab 12


Das gespannte Verhältnis der USA zu ihren aus Japan stammenden Bewohnern hat nicht nur wirtschaftliche Gründe. Die Bombardierung Pearl Harbours am 7.12.1941 war ein tiefer Schock für die Nation und veranlasste sie, Menschen zu internieren, auch wenn sie nur von einem der Urgroßeltern 'japanisches Blut in den Adern' hatten. In solchen Grundzügen erinnert das erst 1988 eingestandene Unrecht an Pogrome und Holocaust.

Vor diesem Hintergrund, detailreich und aufwendig rekonstruiert, inszenierte Alan Parker (u.a. "Bugsy Malone" "Fame" "Birdy" "Angel Hart" "Mississippi Burning") "Komm und sieh das Paradies" als Liebesgeschichte. Die 'rein amerikanische' Identifikationsfigur Jack McGurn (Dennis Quaid) wirft für die Vorführer-Gewerkschaft Brandbomben in Kinos. Ein schöner Stoff für einen eigenen Film, auch weil die miserable Bezahlung des Kinopersonals noch immer einige (Schreibmaschinen-) Anschläge wert ist. Doch schnell wird das nächste Thema effektvoll inszeniert: Jack arbeitet in einem japanischen Filmtheater und verliebt sich in Lily, die Tochter seines Bosses. Ein Ehebund besiegelt Lilys Trennung von der Familie und ihren Traditionen. In einer fernen Stadt führt das Paar ein einfaches, glückliches Leben, bis das Unrecht der Arbeitgeber Jack wieder gewerkschaftlich aktiv werden lässt. Lily verlässt ihn zum Zeitpunkt der ersten Internierungen ...

Auch in seinem neunten Film greift Alan Parker wieder ein brisantes Thema auf. Sein Handwerk -gelernt hat er beim Werbefilm- macht aus "Komm und sieh" einen ansehnlichen und unterhaltsamen, oft sehr komischen und in einigen Szenen dramatischen Film. Doch geradezu programmatisch trägt der Film-Projektor, der die erste Liebesnacht mit seinem Surren begleitet, den Namen Simplex. Und simpel oder oberflächlich behandelt Parker seinen Stoff und seine Figuren. Was zerreißt Lily innerlich, als sie zwischen der Liebe zu Jack und den japanischen Traditionen steht? Welcher Konflikt besteht für den Arbeitsrecht-Kämpfer, dessen Frau einen friedlichen Familienvater fordert? Alles wird mit ein paar Tränen und lauten Worten abgehandelt und die Handlung eilt voran, wie auch Alan Parker zum nächsten Konfliktstoff eilt, um ihn unterhaltsam aufzubereiten.

20.1.16

Hello, I am David - Eine Reise mit David Helfgott

BRD 2015 Regie: Cosima Lange 100 Min. FSK: ab 0

Diese wunderbare Dokumentation zeigt den aus dem Spielfilm „Shine" bekannten, australischen Konzertpianisten David Helfgott: Als mittlerweile 68-jähriger tourt er um die Welt und umarmt dabei fast jeden, dem er begegnet: Hello, I am David! Das dauernd brabbelnde, immer herumhüpfende musikalische Genie mit einer schizo-affektiven Störung hat nach Aufenthalten in mehreren psychiatrischen Kliniken durch die Liebe zu seiner Frau Gillian zur Musik zurückgefunden. Mehr als die außergewöhnliche und unwahrscheinliche Karriere steht das berührende Miteinander zweier besonderer Menschen im Zentrum des sehr sehenswerten Films.

Sound of Crisis - Maiden Monsters

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Zitat:
„Es geht nicht mehr um eine Europäische Idee. Wir führen diese Länder vor, das finde ich verantwortungslos!" (Tanja Krone)

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Berlin/Aachen. Wie klingt die Krise? Nicht in den Presse-Verlautbarungen der Finanzwelt, die an der selbst verursachten Krise gut verdient, sondern bei den betroffenen Menschen. In einer Komposition aus Konzert, vertonten Interviews und Reisetagebuch stellen die Künstlerinnen von „Maiden Monsters" am Donnerstag im Mörgens den „Sound of Crisis" vor, den Klang und die Stimmen der Krise.

Die Berliner Künstlerinnen von „Maiden Monsters" reisten 2013 nach Spanien, Portugal und Frankreich, 2014 nach Griechenland. Regisseurin und Sängerin Tanja Krone, die am Theater Aachen zuletzt „Zwei arme, polnisch sprechende Rumänen" von Dorota Maslowska inszenierte, erzählt im Interview von der Motivation der dreiköpfigen Konzept-Band „Maiden Monsters": Vor zwei Jahren sei die Finanzkrise das große Thema gewesen, mit einem großen Gefälle zu den Ländern, die „es nicht im Griff hatten". „Wir haben uns gefragt, wie sieht die Krise aus, und da wir Musikerinnen sind: Wie hört die sich an?"

Mit bunten Kostümen, zusammengesetzt aus allen möglichen Trachten, die es in Europa gibt, zogen die drei Frauen los, lernten Menschen kennen, deren Lebensumstände und haben Musiker gebeten, „uns Musik zu schenken, die Sie auf unseren Beat improvisierten". Die Quintessenz dessen ist nun in einer erweiterten Fassung zu erleben: Gesichter und Gegenden auf der Leinwand, dazu Musik-Fluss von Flamenco bis Fado. Und leidenschaftlich vorgebrachte Geschichten, etwa von der Spanierin, die mit Flamenco-Gesang einen Banker anklagt - live in dessen Bank! Oder von den Menschen in Galizien, deren Lebensunterhalt in Form von Kühen einigen EU-Verordnungen zum Opfer fielen.

„Maiden Monster", bestehend aus Tanja Krone, Wanja Saatkamp und Doris Kleemeyer, spielen keine traditionellen Protest-Songs im Stile von Baez oder dem Folk von Willie Nelson. Ihr „Sound of Silence" ist gelebte und erlebte Politik. Das musikalische Projekt entstand 2007 als „Behauptung einer Band" mit bewusst hartem Rock nur von Frauen. Der eigene Klang habe sich in den letzten 2-3 Jahren verändert, erzählt Tanja Krone, die gerade die Zwickau-Premiere einer Herrndorf-Inszenierung auf die Bühne gebracht hat. „Maiden Monsters" sind bei Theaterfestivals, auf Konzertbühnen oder auch in einer Museums-Installation (Stockholm) aktiv. Zum musikalischen Oeuvre gehören ein inoffizieller Song zur Fußballweltmeisterschaft der Frauen 2011, aber auch Botschaften in kurzen „Wurfsendungen", deutscher Sprechgesang mit Polit-Poesie.


Infos:
maidenmonsters.wordpress.com/
Do, 21. Januar 2016, 20.00 Uhr
Mörgens

19.1.16

Anomalisa

USA 2015 Regie: Charlie Kaufman, Duke Johnson 91 Min. FSK: ab 12

Anomalisa ist tatsächlich eine Anomalie im Festival- und Kino-Betrieb. Eine durchaus positive, was in Venedig 2015 einen Silbernen Löwen für die Regisseure Charlie Kaufman und Duke Johnson einbrachte. Ein Gefühlreigen mit selten gesehenen Schattierungen des Menschlichen, realisiert mit Stop-Motion-Figuren aus dem 3D-Drucker. Ein Trickfilm über die Situation im Leben eines Mannes, wenn alle Tricks versagen.

Was für eine Welt, in der alle Menschen gleich aussehen und einem, mit gleicher Stimme die gleichen nichtssagend freundlichen Belanglosigkeiten mitteilen! Wohl die gleiche, in der man in Hotels eincheckt, bei denen man jeden Gang und jedes Wandbild schon zu kennen glaubt. So versteht man die Niedergeschlagenheit des berühmten Motivationstrainers Michael Stone, der hier für einen Vortrag übernachtet. Ihn quälen aber auch Geisterbilder des Abschiedes einer alten Liebe, die noch immer hier in dieser Stadt lebt. Oder hat er sich auch gerade von seiner Frau verabschiedet? Das Treffen mit der alten Liebe gerät jedenfalls mit steigendem Alkoholspiegel zur Katastrophe. Die zufällige Begegnung mit zwei erwachsenen Groupies und Fans seiner Motivations-Bücher führt zu einer rührend zärtlichen, sanften und surrealen Liebesnacht mit der Callcenter-Mitarbeiterin Lisa, die er Anomalisa nennt. Auch diese Frau gleicht völlig der verflossenen Liebe und es bedürfte in dieser Welt wohl gar nicht eines skurrilen Albtraums, um Michael Stone ganz zusammenbrechen zu lassen.

Charlie Kaufman macht einzigartige und epochale Filme. Zu „Being John Malkovich" (1999), „Human Nature" (2001), „Adaption" (2002) und zu dem genialen „Vergiss mein nicht!" (2004) schrieb er die Bücher. Selbst der Clooney-Film „Geständnisse - Confessions of a Dangerous Mind" ist unverwechselbar kaufmanesk. Wie wahnsinnig die Gedankengebilde des Oscar-Siegers für „Vergiss mein nicht!" werden können, bewies zuletzt „Synecdoche, New York" (2008), ein noch unerkannter Kandidat für den besten Film aller Zeiten mit Philip Seymour Hoffman als Theaterregisseur, der ein Leben lang sein eigenes Leben inszeniert, auf einer gigantischen Bühne, die New York nachbaut. Nun - Ähnlichkeiten mit lebenden Kaufmans unvermeidlich - setzt Charlie Kaufman das Theaterstück „Anomalisa" von Charlie Kaufman als Puppenfilm um.

Nun baut er die Uniformität westlicher Moderne im Puppentrick nach. Es ist ein Wunder, dass reihenweise Kritiker gerade dieser doch eckigen und bei allen Feinheiten der Mimik oft plumpen Inszenierung herausragende menschliche Züge bescheinigen. Aber ja, diese sehr deprimierende Krise eines erfolgreichen Mannes berührt auf viele Weisen. Das Puppenspiel ist voller peinlicher Momente, die Verführung von Anomalisa sogar erotisch. Und dass ausgerechnet der Spezialist für hohles Service-Gelaber selbst höllisch unter der Leere unausweichlicher Gespräche leidet, ist treffliche Ironie.

Es gibt zwar tatsächlich das „Fregoli-Syndrom", auf das der Name des Hotels hinweist, und bei dem man alle Menschen in seiner Umgebung für ein und dieselbe Person hält. Doch zu lebensecht ist das Wiedererkennen nicht nur von sterilen, weltweit standardisierten Lebensräumen, sondern auch von einem menschlichen Umgang, der so perfekt freundlich daherkommt, dass man ihm gar nichts mehr glauben kann. Und das nicht nur in typischen Service-Umgebungen. Aber die absolut wundersame Volte dieses wunderlichen Films ist, dass gerade mit der Nachbildung von uniformer Gleichheit, mit gleichen Puppenköpfen, die von der gleichen Männerstimme (im Original: Tom Noonan) belebt werden, unterstützt von der Musik Carter Burwells, ein einzigartiges und unbedingt sehenswertes Kunstwerk entstanden ist.

Brooklyn

Irland, Großbritannien, Kanada 2015 Regie: John Crowley mit Saoirse Ronan, Emory Cohen, Domhnall Gleeson, Jim Broadbent 112 Min. FSK: ab 0

Wo bei der Überfahrt der „Titanic" das Drama so schwer wurde, dass sich das völlig mit Emotionen überfrachtete Schiff schließlich zum Untergehen entschloss, gibt es in „Brooklyn" auf dem Auswandererschiff - neben dramatisch viel Seekrankheit - nur zweimal die fast sachlichen Ratschläge einer schon erfahrenen Neu-Amerikanerin an die junge Emigrantin aus Irland: Schmink dir was Farbe ins seekranke Gesicht und schau wie die Amerikaner - als wenn du weißt, was du willst.

Die feinen Gefühlregungen der jungen Eilis Lacey (Saoirse Ronan), einer irischen Einwanderin, die in den 1950er Jahren in der irischen Gemeinschaft Brooklyns landet, sind das Faszinierende an dieser Verfilmung von Colm Toibins gleichnamigen Roman, zu dem Nick Hornby („Fever Pitch", „High Fidelity") das Drehbuch geschrieben hat.

Heimweh bestimmt die ersten Monate von Eilis, die dank gut vernetzter irisch-katholischer Seilschaft direkt eine Unterkunft in einem Mädchen-Pensionat und einen Job in einem Kaufhaus bekommt. Dort müsste die stille Frau hinter der Theke dauerlächeln, was ihr nie gelingt. Erst als der nur positive Father Flood (Jim Broadbent) ihr einen Abendkursus für Buchhaltung besorgt, lebt Eilis auf. Und dann richtig, als sie bei einem der total kontrollierten irischen Tanzabende einen süßen kleinen Italiener trifft. Die Liebe von und auch etwas zu Antonio "Tony" Fiorello (Emory Cohen) ist pures Glück, selbst wenn der Besuch bei seiner Familie zum Spaghetti-Essen eine schwere Geschicklichkeits-Prüfung darstellt.

„Brooklyn" schmeichelt dem Zusehen nicht nur mit einer äußerst sympathischen Hauptfigur, er erfreut auch mit schönem Humor in einigen Situationen, obwohl man hier nicht den von Nick Hornby erwarten sollte. Selbstverständlich haben die Mitbewohnerinnen mit Eilis vorher das nicht nur für Iren schwierige Spaghetti-Kunststück geübt. Mögen die wilderen Damen auch noch so frech und aufgedonnert daherkommen, mag sich die Geschiedene in der Pension auch kühl geben, irgendwann trumpfen sie doch mit viel Herz auf.

Drama gibt es dann doch noch, als Eilis für ein Begräbnis zurück nach Irland muss. Sie ist nicht mehr die gleiche, sie sagt nur noch, was sie will und den meisten ihre Meinung. Dabei ist auch hier wieder alles von anderen geregelt: Es gibt einen Job für sie, der alleinstehende Jim hat ein Haus übrig…

Ausführlich und ohne übertriebene Dramatik kann das Gefühlsleben einer stillen, jungen Frau aus Irland begeistern. Das liegt neben der schönen Geschichte, der reizvollen historischen Kulisse und der sicheren Inszenierung vor allem an einer Darstellerin, die das alles über zwei Stunden tragen und vermitteln kann. Saoirse Ronan, die Agatha aus der Komödie „Grand Budapest Hotel" und die Hanna aus dem Action-Film „Wer ist Hanna?", war schon für einen Golden Globe nominiert. Das hat zwar nicht geklappt, aber sie könnte noch verdient Beste Hauptdarstellerin bei den Academy Awards werden.

Die Wahlkämpferin

USA 2015 (Our Brand is Crisis) Regie: David Gordon Green mit Sandra Bullock, Billy Bob Thornton, Joaquim de Almeida 108 Min. FSK: ab 12

Man nennt sie „Calamity Jane", denn ihre Patzer und Ausfälle sind wirklich sensationell! Die Polit-Beraterin Jane Bodine (Sandra Bullock) hat sich nach erschütternden Erfahrungen im Wahlkampf-Geschäft in die Wälder zurückgezogen, wo sie mit ihren Töpferarbeiten lebt. Nicht der abgeschlagene, unsympathische Kandidat im bolivianischen Wahlkampf bringt sie zurück, sondern die Tatsache, dass ihr Erzfeind Pat Candy (Billy Bob Thornton) auf der gegnerischen Seite mitmischt.

George Clooney hat „Die Wahlkämpferin" zusammen mit Sandra Bullock produziert und es ist von Anfang an eine seiner bitteren Lektionen über den Stand unserer demokratischen Institutionen. Die Wahlkampf-Teams aus den USA sind eine reisende Söldner-Truppe, die sich und die gegnerischen Tricks besser kennt, als das jeweilige, austauschbare Land.

Sandra Bullock wirft zuerst ihr komödiantisches Talent in die Schale - oder in die Schüssel, denn Bolivien ist der blödeste Ort für ihre Höhenkrankheit. Mit 28 Prozent Rückstand auf den linken Spitzenmann könnte ihr Kandidat, der korrupte Ex-Präsident Castillo (Joaquim de Almeida) Hilfe gebrauchen, doch Jane macht in grandiosen Fettnäpfchen- und Party-Szenen erst ihrem Spitznamen alle Ehre. Dann kommt die geniale Idee, den Wählern nicht Lösungen oder Zukunft anzubieten, sondern „die Krise". Ein Konzept, das auch in der Bananen-Republik Deutschland (BRD) bestens funktioniert.

Regisseur David Gordon Green („Prinz Avalanche", „Ananas Express") macht aus wahren Begebenheiten des bolivianischen Wahlkampfes 2002 vom skandalösen Präsidenten Gonzalo Sanchez de Lozada und aus dem Dokumentarfilm „Der gelenkte Präsident" (Our brand is Crisis") einen klug entblößenden, einen komischen und erschreckenden Polit-Film. Wie die überheblichen Gringos ohne Spanisch-Kenntnisse Nachhilfe in Sachen verdorbender Politik geben, ist herrlich satirisch. So ungesund wie die Nahrung aus Chips und Zigaretten sind die Konzepte von Machiavelli & Co., lieber gefürchtet als geliebt zu sein. Jane legt den eigenen, ungeliebten Kandidaten rein und zwingt ihn in eine schmutzige Kampagne. Denn sie will unbedingt gewinnen! Nicht für ihren korrupten Volksverräter, sondern für sich und gegen das ekelhafte, sexistische Schwein Pat Candy. Was dank einer genialen Finte mit Goethe und Goebbels tatsächlich funktioniert.

Dabei muss der größte Fan des hörigen Privatisier-Präsidenten vom Internationalen Währungsfonds (IWF), ein naiver Junge aus den Slums, groß enttäuscht werden. Doch die letzten zehn Minuten der „Wahlkämpferin" protestieren mit der ganzen finalen Power eines hoffnungsvollen und optimistischen Politfilms dagegen, sich mit dem aktuellen Zustand der Demokratie abzufinden. Man glaubt bei aller zynischen Klarsicht gerne, dass zumindest eine Person den Wandel schafft.

Valley of Love

Frankreich, Belgien 2015 Regie: Guillaume Nicloux mit Isabelle Huppert, Gérard Depardieu 93 Min. FSK: ab 0

Die Heilige und der Ketzer des französischen Films machen aus dem berühmten Death Valley ein „Valley of Love", ein Tal der Liebe. Das geht bei den Erwartungen an Isabelle Huppert und Gérard Depardieu garantiert nicht ohne seelische Blessuren ab. Sie spielen ein schon lange getrenntes Paar, das durch den Selbstmord des gemeinsamen Sohnes und einer von diesem hinterlassenen Handlungsanweisung auf eine gemeinsame Reise gehen. Für den Fall, dass sie seiner Reiseroute folgen, kündigt er mysteriös als Belohnung seine Rückkehr an. So hocken Isabelle (Huppert) und Gérard (Depardieu) festgelegte Zeitspannen an touristischen Brennpunkten des berühmten Death Valley, warten auf nichts, schwitzen, reden oder auch nicht.

Der Autoren-Regisseur Guillaume Nicloux, Spezialist für Unkonventionelles, vertraut ganz auf das immense schauspielerische Können von Huppert und Depardieu, die eindrucksvolle Landschaft und die Öde der Motels. Depardieu gibt mit Hawaii-Hemden und sehr knappen Shorts ein sensibles Ungetüm, einen schwitzenden Koloss in der Wüste, der sich nicht an die Anweisungen dieser persönlichen Pilgerfahrt halten will. Huppert, zuletzt noch besonders eindrucksvoll im übersehenen „Louder than Bombs", anämisch und fragil seit ihrem ersten Auftritt als „Spitzenklöpplerin", bringt ihre typisch hysterischen Anfälle. Es gibt zärtliche Erinnerungen aber auch routiniertes voneinander genervt sein. Dann zunehmender Ausschlag an beiden Körpern und seltsame Erscheinungen.

Die kongenial schwebend eingesetzte Komposition „The Unanswered Question" von Charles Ives („Der schmale Grat") verrät schon das offene Ende eines Films, der keineswegs an ein Ziel kommen will.

Point Break (2015)

USA, BRD, China 2015 Regie: Ericson Core mit Édgar Ramírez, Luke Bracey, Ray Winstone, Clemens Schick 113 Min.

Kathryn Bigelows „Point Break" („Gefährliche Brandung") von 1991 war eine Offenbarung im Action-Genre: Atemberaubende Surfer-Szenen und echte Substanz in der Handlung. Klar, Bigelow hatte vorher schon mit „Blue Steel" (1989) begeistert, zuletzt war sie hochspannend us-politisch mit „Zero Dark Thirty" (2012) und „Tödliches Kommando" (2008). Dieses Remake nutzt allerdings nur die Grundidee einer Bankräuber-Gang aus extremen Sportlern. Diesmal wurden aus den Surfern moderne Adrenalin-Junkies mit einer angeklebten esoterischen Aufgabe. Zur „Ozaki Eight" gehören Paragliding-Stürze in riesige Erdhöhlen, Surfen auf Todeswellen oder rasende Flüge durch Gebirgsschluchten.

Auch wenn der Geld-Regen, der aus dem gekaperten Regierungs-Flieger auf ein armes Dorf niedergeht, so eindrucksvoll wie die Höhe der Wellen ist, dieser Extreme Sports-Film ist eine adrenalin-verseuchte Enttäuschung. So bescheuert wie die Action im Grenzbereich von Leben und Tod verläuft auch die Filmhandlung, weil man die Verbrecher anscheinend nur in Steilwänden festnehmen kann. Das versucht der FBI-Agent Johnny Utah (Luke Bracey), indem er sich als ehemaliger Motorcrosser in des Gangster-Gurus Bodhi (Édgar Ramírez) Gruppe der Weltverbesserer im Party-Modus einschleicht. „Point Break" muss heutzutage mit aufwändigsten Werbefilmchen von Browserhersteller konkurrieren. Das gelingt ebenso wenig wie ein anständiger, mehr als oberflächlicher Action-Film.

18.1.16

Daddy's Home

USA 2015 Regie: Sean Anders mit Will Ferrell, Mark Wahlberg, Linda Cardellini, Thomas Haden Church 96 Min. FSK: ab 6

Brad Taggart (Will Ferrell) ist ein typisches „Weichei", das selbst bei seinem Smooth Jazz-Sender als einziger diese weichgespülte Musik mag. So tanzen Brad auch seine beiden Stief-Kinder auf dem Kopf herum. Beziehungsweise sie durchlöchern den Kopf auf ihren Kinderzeichnungen und beschmieren ihn mit Fäkalien. Nun trifft dieser naive Idiot auf den Erzeuger der Kinder, der sich nach Jahren zurück meldet, ein Macho-Klischee aus der Deo-Werbung. Dusty (Mark Wahlberg) ist dem steifen Anzug-Typ Brad stilistisch, körperlich, intellektuell und in seiner gewinnenden Art haushoch überlegen. Das probiert der verkopfte Ersatz-Vater mit reihenweise peinlichen Einlagen zu kompensieren. Mit dem schweren Motorrad von Dusty und grobem Slapstick geht es unkontrolliert durch das Haus und auf der ersten Etage wieder nach draußen. Auch zimmert Dusty nicht nur das kaum begonnene Baumhaus fertig und baut noch eine Skaterbahn samt Brausen-Sponsor. Auf welcher Brad wieder völlig überzogen in einen Herzstillstand springt. Neben der in immer extremere Gute Nacht-Geschichten verschobenen Konkurrenz wird die Zeugungsfähigkeit von Brad drastisch und zotig untersucht.

„Daddy's Home" ist meist ein schmieriger Kneipen-Witz auf Spielfilmlänge ausgewalzt und auf Teenager-Tauglichkeit chemisch gereinigt. Denn es geht ja dann wieder gefühlsklebrig um das Glück der Kinder, wenn man sich ausführlich die Hoden befühlt. Will Ferrell geht als schwer erträgliche, aufs Vater-Sein fixierte Witzfigur einen Leidensweg zahlloser Peinlichkeiten. Die sind so grob erzählt, dass man sich nach dem Holzhammer als chirurgischem Instrument sehnt.

Bibi & Tina - Mädchen gegen Jungs

BRD 2015 Regie: Detlev Buck mit Lina Larissa Strahl, Lisa-Marie Koroll, Louis Held, Phil Laude, Kostja Ullmann 109 Min. FSK: ab 0

Im dritten Film um die kleine Hexe Bibi Blocksberg (Lina Larissa Strahl) ist diese nicht mehr so klein und zieht mit Freundin Tina (Lisa-Marie Koroll) sowie einem Haufen Teenager-Gefühlen im Rucksack in ein dekorativ grell-oranges Zeltlager. Bei mühsam mit Geocaching modernisierten Schnitzeljagden kämpfen sie gegen andere Teams aus Pfadfinder-, Girly- und Streber-Karikaturen. Tinas Freund Alex schließt sich dem falschen Team an und macht einen Macho-Schnellkurs.

Regisseur Detlev Buck („Wir können auch anders..." 1993), der vom schrägen Nordlicht zum Autoren-Filmer wurde und nun Kinderfilm-Spezialist ist, legt seine dritte „Bibi"-Verfilmung hin und die ist wenigstens an einigen Stellen so sonderlich wie Buck selbst in seinem Kurzauftritt als Pilzsammler. Vor allem die vielen Songs gerieten zu sehr überkandidelten, kunterbunten Musical-Nummern. Das kann Spaß machen, reißt als Rap-Battle von Mädchen gegen Jungs auch mit. Doch so wie dem Liedchen schnell der Text ausgeht, hangelt sich der Film einfallslos an der Schnitzeljagd-Konstruktion entlang. Denn Bibis Hexerei wurde weitgehend verboten. Als sie dann tatsächlich sinnvoll hexen und helfen könnte, versagen ihr die Hände.

„Bibi & Tini 3" befindet sich in einer seltsamen Hängepartie einer auf alt stilisierten Klamotte, die dann bemüht modern wirken will. Es wird erstaunlich umständlich erzählt, nicht mal die Lagerfeuer-Stimmung stimmt, auch dabei verrinnt die Zeit träge. Über Scherze wird nur im Film selbst gelacht, das halbe Lager sitzt als Zuschauer im Essens-Zelt fest, der blöde Dialekt eines französischen Austauschschülers ist hochgradig peinlich. Das der ausgerechnet François Pierre Truffaut heißt, wird Buck viel Spot einbringen. Dabei kann der eigentlich mehr.

13.1.16

Janis: Little Girl Blue

USA 2015 Regie: Amy J. Berg 107 Min.

Janis Joplin (1943-1970) gehört auch zum „Club 27" der sehr früh gestorbenen Stars. Doch im Gegensatz zum Amy Winehouse-Film folgt diese Musikdokumentation unspektakulär der Lebensgeschichte der rau schreienden Sängerin von „Mercedes Benz". Dabei erzählen Zeitzeugen und Joplins Briefe von Verletzungen durch intolerante Menschen in Schul- und Studienzeit. Das an einer Überdosis gestorbene Hippie-Symbol stammte aus bürgerlicher Familie und wollte lange ein braves Mädchen sein. Viele Einblicke zeigen den Mensch hinter dem Idol und machen neugierig auf die anderen Lieder hinter den Hits.

Cemetery of Splendour

Thailand, Großbritannien, Frankreich, BRD, Malaysia, Südkorea 2015 (Rak ti Khon Kaen) Regie: Apichatpong Weerasethakul mit Jenjira Pongpas Widner, Banlop Lomnoi, Jarinpattra Rueangram 122 Min. FSK: ab 0

Der thailändische Cannes-Sieger, Regisseur und Künstler Apichatpong Weerasethakul („Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben", 2010) bringt einen besonders traumhaften Film in Kino: In einer zum Krankenhaus umgebauten Schule liegen Soldaten, die an einer mysteriösen Schlafkrankheit leiden. Eine junge Frau, die Geister von Mordopfern oder Verschwundenen kontaktiert, ist ein Medium, über das die Verwandten Fragen stellen. Zur Farbe der neuen Küche beispielsweise. Jan, eine ältere Frau, pflegt freiwillig den schlafenden Itt und kommt ihm während kurzer Wachphasen näher. Und draußen gräbt ein Bagger die Wiese um.

Wie schon in früheren Filmen von Weerasethakul existieren Traum und Realität gleichrangig, Götter und Menschen leben miteinander. Da setzen sich ganz selbstverständlich zwei Geister-Prinzessinnen erst unerkannt mit an den Tisch. Ein Friedhof der Könige von vor 2000 Jahren befände sich unter der Schule, erzählen sie. Und die Könige bräuchten die Körper der Soldaten für ihre Kämpfe. Doch so viel die Bagger auch graben, hier kommt kein Horror zutage. Es herrscht ein friedliches Miteinander - beruhigend, wohltuend anregend und von ganz eigener Schönheit. Nur die Allgegenwart von wachenden und schlafenden Soldaten startet automatisch politische Gedanken zu Thailand, das gerade wieder von einer Militärregierung kontrolliert wird. „Cemetery of Splendour" ist wieder ein sehr ruhiger Film, der dadurch fesselt, dass man auf jedes Detail, jedes Hintergrund-Geräusch achtet.

12.1.16

Mademoiselle Hanna und die Kunst, Nein zu sagen

Frankreich 2015 (Je suis à vous tout de suite) Regie: Baya Kasmi mit Vimala Pons, Mehdi Djaadi , Agnès Jaoui, Ramzy Bedia 100 Min. FSK: ab 12

Die 30-jährige Pariserin Hanna Belkacem leidet unter Nettigkeits-Neurose, die sich von den Eltern geerbt hat. Diese wollten ihr und allen anderen jeden Wunsch erfüllen. So Hanna von der französischen Mutter und dem algerischen Vater ein Brüderchen, und der einen furchtbaren Namen von ihr. Als Personalchefin kann Hanna keine Mitarbeiter entlassen und tröstet diese mit Sex. Den gibt sie auch mal Zufalls-Bekanntschaften, wenn die nur unglücklich genug erscheinen. Nur mit der Niere für den kranken Bruder tut sie sich schwer, denn der hat sich vom gemobbten Schwächling zum brutalen Moslem und Drogendealer entwickelt. Und bezeichnet die freizügig bekleidete Schwester als Hure.

Dieser Hakim will in das bessere Algerien, ohne es überhaupt zu kennen. Und bei Hanna kommen Männer in unpassenden Momenten dauernd aus ihrem Schlafzimmer. Die Komödie „Mademoiselle Hanna" präsentiert ein flottes Durcheinander von unterschiedlichen Themen: Verschiedene Frauen-Rollen, eine Vergewaltigung als Mädchen, eine nicht so ganz eindeutige Migranten-Position in der französischen Gesellschaft. Im Jetzt und in Rückblenden gibt es viele aberwitzige, sehr komische Szenen, aber auch erschreckende Situationen. Vor allem beim Bruder, der sich mit einer gewalttätigen Gangster-Attitüde von der Wohltätigkeit seiner Familie abgrenzen will. Dabei ist Hannas Opferbereitschaft ebenso schrecklich, wenn sie auch komödiantisch verpackt wird. Und schrecklich raffiniert, wenn der Arzt, in den sie sich verliebt, in ihr eine sehr freigiebig Prostituierte sieht. Von solchen albernen Missverständnissen beim Kennenlernen der neuen Familie kippt der Film glaubhaft in die ganz ernste Traurigkeit der als Kind missbrauchten Hanna. Ein unwahrscheinlicher Mix, der hervorragend aufgeht, auch wenn die Auflösung für so einen mutig und lebendig vielschichtigen Film, etwas zu einfach daherkommt.

Suite Française

Großbritannien, Frankreich, Kanada, Belgien 2014 Regie: Saul Dibb mit Michelle Williams, Kristin Scott Thomas, Matthias Schoenaerts, Tom Schilling, Heino Ferch 108 Min. FSK: ab 12

Während der Besatzung Frankreichs wird 1940 der deutsche Offizier Bruno von Falk (Matthias Schoenaerts) bei der jungen Lucile Angellier (Michelle Williams) und ihrer hartherzigen Schwiegermutter Madame Angellier (Kristin Scott Thomas) einquartiert. Die allgemeine Abneigung gegen die Feinde, die sich meist wie Soldaten überall fürchterlich verhalten, kann Lucile nicht gegenüber Falk aufrechterhalten. Der freundliche und kultivierte Komponist und die einsame Frau verlieben sich. Doch wie Madame Angellier wacht das ganze Dorf über das Verhalten der jungen Frauen.

„Suite Française" unterscheidet sich von anderen Kriegsdramen durch eine nuancierte Darstellung der unterschiedlichen Verhaltensweisen französischer Frauen zu den deutschen Soldaten. Und durch einen kritischen Blick auf Kriegsgewinnler unter den Franzosen, auf die Ungerechtigkeiten der alten Stände-Ordnungen, die Denunziationen der braven Bürger bei den neuen Herrschern.

Es ist aber vor allem eine bewegende, hauptsächlich schön gefilmte Liebesgeschichte, die den Bedingungen des Krieges trotzt. Und ein Stoff, der nicht ohne das Schicksal der Autorin gesehen werden kann: Irène Némirowsky schrieb das unvollendete Werk heimlich während der Besatzung. 1942 wurde sie als Jüdin verhaftet und in Auschwitz umgebracht. Erst mehr als 50 Jahre nach ihrem Tod wurde „Suite Française" entdeckt und veröffentlicht.

Der großartige Flame Matthias Schoenaerts („Bullhead", „Der Geschmack von Rost und Knochen", „Die Gärtnerin von Versailles", „Loft") verkörpert im wahrsten Sinne des Wortes die Zerrissenheit zwischen sensiblem Kulturmenschen und befehlstreuem Soldaten. Die außerordentliche Michelle Williams („Take this Waltz") ist nur mit Gefühlen zwischen Schmachten und Widerstandsgeist unterfordert.

Ansonsten reihen sich einige Stars wie Sam Riley und Lambert Wilson, sowie deutsche Schauspieler wie Alexandra Maria Lara, Tom Schilling exquisites Ekel und Heino Ferch. „Suite Française" wurde komplett in Englisch gedreht, wobei der hervorragend spielende Schoenaerts auf Deutsch einen heftigen Dialekt an den Tag legt.

11.1.16

Creed

USA 2015 Regie: Ryan Coogler mit Michael B. Jordan, Sylvester Stallone, Tessa Thompson, Phylicia Rashad 133 Min.

Dieser Schlag kommt völlig unerwartet aus einer anderen Richtung: Auch wenn man beim deutschen Titel etwas nachhelfen musste - ja, es geht um „Rocky" und Sylvester Stallone spielt mit. Doch Co-Autor und Regisseur Ryan Coogler hat mit „Rocky - Episode 7" einen erfolgreichen Neustart der alten Boxfilm-Legende hinbekommen. Dabei war Coogler „Nächster Halt: Fruitvale Station" ein großartiges, brandaktuelles Sozial-Drama über die rassistische Gewalt der Polizei gegen afroamerikanische Jugendliche. Mit Michael B. Jordan in der Hauptrolle, der jetzt neben Sylvester Stallone spielt.

40 Jahre nachdem Rocky Balboa als Newcomer im ersten „Rocky"-Film den Champion herausforderte, geht der Sohn seines größten Gegners, Apollo Creed, den gleichen Weg. Adonis Johnson Creed (Michael B. Jordan) ist ein wütender schwarzer Mann, der seinen Vater nie kannte. Der war mit einer anderen Frau verheiratet und starb vor Adonis' Geburt. Die Wut lässt sich auch durch Ausbildung und guten Job nicht besänftigen. Außerdem will auch der junge Creed boxen, so sehr, dass er sich in eine Projektion des Film-Fights von Rocky gegen Apollo stellt, um mitzukämpfen. Deshalb zieht er von Hollywood nach Philadelphia, um Rocky Balboa als Trainer zu reaktivieren. Scherze über den altmodischen Restaurant-Chef, der Creed anfangs nicht trainieren will, machen die Fortsetzung entspannt unterhaltsam. Eine glaubhafte Liebe vervollständigt die bekannten Elemente. Bill Contis Melodie zu „Gonna Fly Now" wird respektvoll variiert.

Nach „Southpaw" mit Jake Gyllenhaal ist „Creed" der zweite neuere Box-Film, der neue Wege geht. In einem Schlüsselmoment folgt die Kamera nicht dem jungen Boxer Creed in den Ring, sondern bleibt bei beim alten Trainer am Rand. Denn „Creed" wagt die Verbindung zweier Kämpfe: Gegen den Gegner im Ring und gegen den Krebs. Es geht noch einmal die berühmten Treppen hoch, doch der alte, kranke Mann schafft sie jetzt kaum mehr.

Dass Sylvester Stallone für diesen Part gerade mit einem, seinem ersten, Golden Globe als Bester Nebendarsteller ausgezeichnet wurde, ist teilweise der Begeisterung zuzuschreiben, diesen Rocky und Rambo endlich mal in einer Charakterrolle zu sehen. Und der nette, alte Onkel steht ihm besser als der Action-Held im Rentenalter. So sorgt Stallone für das Sentiment, aber auch für den Spaß mit altmodischem Training im Hühnerhof.

„Creed" ist nicht der typische Boxer-Film, auch nicht der übliche Sozial-Kampf eines Junges von ganz unten gegen sich selbst. Es geht viel um alte und neue Freundschaften, ein überraschendes Paar. Die Handlung verläuft angenehm undramatisch, aber es muss leider auch geboxt werden, was mit der neuerlich üblichen sichtbaren Anwesenheit der Filmkamera am Boxring recht unspektakulär geschieht.

Die dunkle Seite des Mondes (2015)

BRD, Luxemburg 2015 Regie: Stephan Rick mit Moritz Bleibtreu, Jürgen Prochnow, Nora von Waldstätten, Doris Schretzmayer 98 Min. FSK: ab 12

„Die dunkle Seite des Mondes" wird wohltemperiert ausgeleuchtet von einer Fernsehlampe. Selbst die strahlenden Leistungen von Moritz Bleibtreu und Jürgen Prochnow machen diesen weiteren Martin Suter-Roman nicht zu einer wirklich dunklen Geschichte.

Diesmal wird bei Suter die kühle Banken-Fassade Frankfurts mit atavistischen Natur-Elementen konfrontiert: Urs Blank (Moritz Bleibtreu), eine teuer angezogene Heuschrecke, regelt als Wirtschaftsanwalt Firmenübernahmen, bis sich ein von ihm reingelegter Geschäftspartner vor seinen Augen erschießt. Danach beginnt Blank eine Affäre, nimmt halluzinogene Pilze, um seiner Frau danach kurz mitzuteilen: „Ich will das alles nicht mehr, uns." Außerdem schlägt er bei seiner Neuen im Drogenrausch mal kurz zu, erwürgt ihre geliebte Katze, provoziert mit einem anderen Raser einen furchtbaren Auffahrunfall, gibt dem von seinem Boss (Prochnow) erlegten Reh den Gnadenstoß, lässt also endlich mal „die Sau raus". Dieses neue animalische Verhalten macht auch bei den Bossen Eindruck, nur Blank selber kommt mit sich nicht mehr zurecht.

Eine ganze Menge Holz, was da aus der Begegnung des kapitalen Anwalts mit dem Mythos Wald geschlagen wird. Kurioserweise sind gleich die neue Geliebte mit Hang zum Hippie-Sein als auch der neue Auftraggeber aus dem Wald „entsprungen". Bleibtreus gut gespielter Blank verhält sich,
dafür, dass er mit ganzen Konzernen jongliert, überraschend unsicher mit anderen Menschen und auch in der Welt. Vor allem in der Welt von Lucille (Nora von Waldstätten), die in nach der ersten gemeinsamen Nacht mit „Willkommen im Leben" begrüßt. Sie hilft auch dem Offensichtlichen mit der Erkenntnis nach, „So ein Pilz ruft doch nur das hervor, was sowieso schon in dir steckt".

Offensichtlich ist sowieso so recht alles. Aber dann leider auch wieder nicht so schön genremäßig wie etwa Jack Nicholson als „Wolf". Die „Dunkle Seite des Mondes" funktioniert als pessimistischer Krimi über die dunkle Seite des Bankenviertels und der Pharma-Industrie nicht richtig, ebenso wenig als mystischer Erkenntnis-Trip, und eine Pink Floyd-LP ist auch nirgendwo zu sehen. Dafür ein recht durchschnittlicher Fernsehfilm.

The Big Short

USA 2015 Regie: Adam McKay mit Christian Bale, Steve Carell, Ryan Gosling, Brad Pitt 131 Min. FSK: ab 6

Schon Andres Veiels Theaterstück „Das Himbeerreich" versuchte, Begriffe wie „Collateral Debt Obligations" und „Subprime-Darlehen" zu entschleiern, um den dahinter stehenden, gigantischen Banken-Betrug offenzulegen, der sich wiederrum hinter dem Euphemismus „Immobilienkrise" versteckt. Der bisher eher komödiantische Regisseur Adam McKay („Saturday Night Live", „Anchorman" 1 und 2) versucht sich nun ebenfalls an der Entmystifizierung der Finanzwelt: Er verfilmte mit dem Spielfilm „The Big Short" das gleichnamige Buch von Michael Lewis („Moneyball", „Blind Side").

Und es funktioniert - McKay mixt geschickt die in schöne Worte gehüllten Nebenschwaden der Banken mit interessanten Figuren. Also praktisch die unterhaltungs-technisch sehr faulen Kredite mit den AAA-Stars Christian Bale, Brad Pitt, Steve Carell und Ryan Gosling, die auch, wenn es um hochkomplexe Finanz-Betrügereien geht, daraus spannende Szenen spielen können.

Der große Crash, also der von 2008, die Sache wiederholt sich ja schließlich dauernd, der große Crash beginnt hier 2005. Gleich mehrere kluge Köpfe durchschauen die Mogelpackungen, mit denen sich Banken-Zocker bereichern. Was angeblich keiner ahnte, weil niemand hinschaute - außer ein paar Spinnern: Der spleenige Hedgefonds-Manager Michael Burry (Christian Bale), ein sozial ungeschickter Nerd, barfuss mit Hardrock auf Kopfhörern, prognostiziert das Platzen der amerikanischen Immobilienblase, aber niemand hört ihm zu. Deshalb startet er mit 1,3 Milliarden Dollar seiner Anleger eine Wette gegen den Immobilien-Markt, gegen das, was alle glauben. Die Anzugträger lachen sich kaputt - drei Jahre später sind ihre Firmen kaputt. Auch der seit dem Selbstmord seines Bruders verstörte Trader Mark Baum (Steve Carell), ein Don Quixote des Finanzmarktes, der geldgierige Deutsche-Bank-Makler Jared Vennett (Ryan Gosling) und der frühere, vom Finanzmarkt angewiderte Star-Investor Ben Rickert (Brad Pitt) wetten mit sogenannten „Shortings", Leerkäufen von Aktien großer Investmentbanken, gegen das faule System.

Wer jetzt abschaltet, dem fehlen die richtigen Bilder: In „The Big Short" erklärt eine Blondine im Schaumbad den langweiligen, verwirrenden Kram um die Zeitbombe fauler Kredite bei der Immobilien-Finanzierung. Selena Gomez erläutert im Casino Fallen von Spieltheorien. Mit solchen kleinen Scherzen ist der Film unterhaltsam aufgebaut, dazu gehört auch mal das Geständnis einer Figur, dass die aktuelle Szene nur erfunden ist. Persönliche Geschichten, oder besser: Psychoanalysen werden in die Kamera gesprochen, Zeitgeschichte ist mit ihren Produkten und Politikern dazwischen geschnitten, auch etwas von den Schicksalen der Käufer und Mieter dieser hinterhältigen Kredit-Angebote. In einer von Schuldnern verlassenen Neubau-Siedlung lauern nicht die Kredit-Haie sondern Krokodile im Pool.

„The Big Short" re-inszeniert diesen Riesenbetrug, für den schließlich noch immer Steuerzahler aufkommen und Sozialleistungen gekürzt wurden, als Krimi. Darsteller und Produzent Brad Pitt gibt die moralische Stimme, die anmerkt, dass bei einem Prozent mehr Arbeitslosigkeit 40.000 Menschen in den USA sterben. Es gibt deutliche moralische Urteile am Ende, während die Banker weiter auf ihre Kurse starren, und ein paar sehr bewegende Bilder der Folgen dieser Zockerei. Allein in den USA verursachte die hemmungslose Gier schmarotzerischer Banker acht Millionen Arbeitslose, 6 Millionen Menschen verloren ihr Zuhause. Dafür ist nur ein Banker in den Knast gekommen - alle anderen wurden mit Bonus-Zahlungen belohnt.

Die Winzlinge

Frankreich, Belgien 2013 (Minuscule - La vallée des fourmis perdues) Regie: Hélène Giraud, Thomas Szabo 88 Min. FSK: ab 0

Dass Ameisen das Vielfache ihres Körpergewichts tragen können, ist bekannt. Dass sie auch einen kompletten Spielfilm als Hauptdarsteller tragen, kam seit „Antz" in Vergessenheit. Nun wirbeln die Winzlinge - unterstützt von einem Marienkäfer - in Wald und Weltgeschichte herum, stellen dabei sogar Troja in den Schatten. Ein großer Spaß für alle.

Ein kleiner roter Käfer kriecht die Serpentinen zu einer Bergwiese hoch, doch das folgende Picknick des Menschenpaares dauert nicht lang, das Weibchen ist in den Wehen und beim raschen Rückweg bleibt die Decke samt vielen Leckereien zurück. Vor allem die karierte Zuckerdose begeistert eine Ameisentruppe, die sich mit der riesigen Jagdbeute auf den Heimweg macht. In der Dose steckt auch ein junger Marienkäfer, der nach den Gemeinheiten einiger fieser Fliegen nur noch einen Flugflügel hat. Er wird bald mit den Ameisen zusammenarbeiten, weil sie von einer Horde räuberischer Roter Ameisen verfolgt werden. Zwar schaffen sie es über Abhänge und reißende Flüsse bis zum Ameisenbau, doch die Gegner sind so scharf auf den Stoff, dass sie mit einer ganzen Armee anrücken...

„Die Winzlinge" sind extrem spannend - für einen Kinder- und Erwachsenen-Animationsfilm: Mal als Trojanischer Krieg, mal im Horrorhaus, dann bei einer Verfolgungsjagd auf der Landstraße. Dabei bildet reale Natur den Hintergrund für die animierten Tiere, eine tolle Kombination! Anders als bei Disney & Co fällt kein Wort. Sprechend sind vor allem die Augen, seien sie auch extrem einfach gezeichnet, und die aberwitzigen Geräusche. Die erzeugen ein städtisches Verkehrsgewimmel im Himmel über der Wiese und lassen Flügel metallisch scheppern. Dazu ein ganz erwachsener Soundtrack vom großen Orchester.

Während der Kampf um das Ameisen-Troja mit Insektenspray, die Flucht per Papierflieger aus dem Belagerungsring und die mitreißende Flussfahrt in der Limo-Dose tierisch viel Spaß machen, erzählen die Winzlinge auch mit viel Gefühl von einer besonderen Freundschaft. Deren Verständigung mit Fühlern und Tröten über Gattungsgrenzen funktioniert. Das ist dann kein ganz wahrer Tierfilm mehr. Dafür umso mehr Spaß für die Kleinen und Großen mit den Winzlingen. Und DiCaprio hat im Marienkäfer einen Konkurrenten für den Survival-Oscar.

7.1.16

The Hateful 8

USA 2015 (The Hateful Eight)

Regie: Quentin Tarantino mit Samuel L. Jackson, Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh, Tim Roth, Michael Madsen 168 Min.

Quentin Tarantinos 8. Film ist wiederum beachtlich: Ein Western mit Musik von Ennio Morricone - was sonst bei diesem Fan des Spaghetti-Western? Eine leicht verschachtelte Geschichte - wie als Hommage an den eigenen ersten erfolgreichen Film "Pulp Fiction".

Der neue Tarantino ist da. Also überall, sogar im Internet, nur in Deutschland kommt er erst mit Wochen Verspätung am 28. Januar. Zudem versucht der Verleiher, die Presse zu zensieren. Erst am 15. Januar soll man sich äußern dürfen. Deshalb schon mal schnell vorweg:

Aus den üblichen Weiten des Westens zwängt Tarantino seine sehr profilierten Protagonisten mit ihren skurrilen Vorgeschichten in eine eingeschneite Postkutschen-Station, um dort ein brutales und blutiges Kammerspiel zu inszenieren. Wie immer in aberwitzigen und ausgedehnten Dialogen unterhalten sich die Kopfgeldjäger John „The Hangman" Ruth (Kurt Russell) und Major Marquis Warren (Samuel L. Jackson) über Vor- und Nachteile ihres Berufes. Ruth hat die Gefangene Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) per Handschelle am Arm. Sie ist 10.000 Dollar wert, die drei tiefgefrorenen Leichen, auf denen Warren anfangs sitzt, zusammen 8.000. Doch in der kuscheligen Herberge warten weitere schillernde Gestalten, unter denen Ruth ein paar Komplizen seiner Beute vermutet. Michael Madsen („Reservoir Dogs", „Kill Bill") gibt den stillen Cowboy Joe Gage, Bruce Dern den Konföderierten-General Sandford Smithers und Tim Roth („Pulp Fiction") den Henker Oswaldo Mobray.

Hier blättert beim über fast drei Stunden unterhaltsamen Gemetzel erstmals der blutige Lack ab: Tim Roth, ein großartiger, sagenhafter Schauspieler, der immer wieder überraschen kann, fungiert hier in jedem Satz und jeder Geste nur als Ersatz für Christoph Waltz, der nach „Inglourious Basterds" und „Django Unchained" diesmal nicht mit Tarantino mitspielt. Eine irritierende Schande. Irgendwann reitet auch eine coole Kutscherin vorbei, die blond und keck nach der Besetzung durch Uma Thurmann schreit.

Recht selbstverliebt lässt sich Tarantino viel Zeit mit dem gegenseitigen Niedermetzeln seiner Figuren. Das ist meist ok, seine Darsteller laufen zu großer Form auf, die Bilder sind anständig. Samuel L. Jackson ficht wenige Jahre nach dem Bürgerkrieg noch einige Nachhut-Gefechte und persönliche Rache-Aktionen mit den Schwarzen-Hassern aus den Südstaaten aus. Tarantino schlägt sich wieder auf die Seite des schwarzen Helden, auch wenn hier sehr oft Nigger gesagt wird.

Vor allem erzählt der überschätzte Regisseur in aller Breite von 70mm-Bild und Zeit. Trashig wirkende Schärfenverlagerungen sind sicherlich wieder irgendwelche Referenzen an irgendwelche verkannte Meister der 70er-Jahre, doch sie bleiben trotzdem billig und nervig. Am Ende, wenn fast alle mäßig originell hingemetzelt wurden, wenn der Boden mehrfach mit Blut besprüht ist, macht sie sich wieder bemerkbar, die große Leere hinter all den Kunststückchen und Mätzchen von Tarantino. Soll uns etwa das Schlussbild von „The Hateful 8" erzählen, dass die hässliche Fratze des Rassismus gegen die erfolgreiche Zusammenarbeit von Schwarz und Weiß verlieren muss? Ziemlich simpel wäre das, aber es ist ja auch ein Tarantino-Film!

Denn nach zwei Gewalt-Akten, „Django Unchained" und „Inglourious Basterds", die tatsächlich ein Thema hatten, muss man wieder feststellen, dass der Film-Nerd Quentin Tarantino zwar sehr viel zeigen kann, nämlich wie viel Tausende Filme er aus seinem Kopf heraus zitieren kann, aber zu sagen hat das große Spiel-Kind Hollywoods mit all seinen Möglichkeiten: Nichts. Was besonders erschreckend auffällt, wenn Tarantino in Interviews mehr als Scherze und Zitate abliefern soll. Dann kommt trotzig und unflätig das große Kind heraus. Vor allem, wenn man etwas Durchdachtes über die Gewalt in seinen Filmen hören will. Worauf er mittlerweile referieren kann, sind starke Frauen-Figuren und der Kampf um Gleichberechtigung für Afroamerikaner. Allerdings zeugen unpassende Begriffe wie "Holocaust der Native Americans" und "Holocaust der Afroamerikaner" von nicht besonders viel Diskurs-Erfahrung. „The Hateful 8", der sehr unterhaltsame 8. Film von Tarantino lässt vor allem hoffen, dass sein „8 1/2" mal etwas ganz anderes sein wird.

5.1.16

The Revenant - Der Rückkehrer

USA 2015 Regie: Alejandro González Iñárritu mit Leonardo DiCaprio, Tom Hardy, Domhnall Gleeson, Will Poulter 156 Min.

Ein überwältigendes Panorama vom Aufeinandertreffen der rauen Natur im Wilden (Nord-) Westen mit der nicht minder brutalen „Zivilisation" der Jäger und Siedler. Der unglaubliche Überlebenskampf eines Vaters, der seinen Sohn rächen will, nachdem er selbst von einer Bären-Mutter zerfleischt und schon begraben wurde. Das gespielt von einem Leonardo DiCaprio, der mit seiner Bären-Jagd zum Oscar-Jäger wird, und unfassbar großartig inszeniert vom letztjährigen Oscar-Absahner für „Birdman", Alejandro González Iñárritu.

So weit wie die schneebedeckten Bergzüge und Flusstäler dehnen sich die eindrucksvollen Momente aus, die alle beschrieben werden wollen. „The Revenant" ist ein gewaltiger Film, der wie schon Iñárritus „Biutiful" mit einfachem Atemgeräusch anfängt. Während sich der Scout Hugh Glass (Leonardo DiCaprio) an einen Elch anschleicht, wird seine Jagdgesellschaft von Indianern überfallen. Die erste unfassbare Szene ist ein traum-ähnliches Schießen, Stechen und Fliehen mit der Kamera fließend, rennend und taumelnd mittendrin. Ein Teil der Trapper entkommt und versucht, sich zum Fort durchzuschlagen. Dabei wird ausgerechnet der ortskundige Glass von einer Bärin minutenlang aufgeschlitzt, zertrampelt und angeknabbert - wohl die eindringlichste, heftigste und gewaltigste Szene dieses Film und seit vielen Jahren überhaupt.

Dass auch hier die Kamera vom Atem des riesigen Tieres beschlägt, muss man nicht bemerken, ebenso wenig die Blutspritzer im Gemetzel des Finales. Die erneut genial von Emmanuel Lubezki geführte Kamera trägt allerdings einen großen Teil zum intensiven Erleben der Ereignisse bei. Genau wie die Sound-Komposition, die besonders fein und leise das Knacken der Bäume im Wind, das Kribbeln der Ameisen und das Knirschen der Gletscher spürbar machen. Hinzu kommen die schwebenden Klänge von Komponist Ryuichi Sakamoto. So wird die Reise des schwer Verletzten ein Fluss der Bilder fast wie bei Malick, ein Traumwandeln vom alten Indianer wie in Jarmushs „Dead Man", eine Vision zerfallener Kirchen von Andrej Tarkowski. Und doch unbeschreiblich einzigartig.

Keineswegs ist „The Revenant" ein simpler Rachefilm. Nicht nur weil der extrem unsympathische, gierige, halb skalpierte John Fitzgerald (Tom Hardy) den Mord an Glasses Halbblut-Sohn Hawk (Forrest Goodluck) eigentlich nicht wollte. Überhaupt fällt diese Tat im allgemeinen Grauen kaum auf. Denn: „Wir sind alle Wilde" steht auf einem Schild, das französische Besatzer einem von ihnen aufgeknüpften, indianischen Helfer von Glass anhängen. Ein Hauptthema des Films, der sowohl noch riesige Büffelherden zeigt, als auch apokalyptische Berge von Tierschädeln.

Das ist bei all dem Blut und den Eingeweiden, in denen sich Glass bei seinem eiskalten Leidensweg einmal aufwärmt, dank der traumhaften Inszenierung zwar gewaltig eindrucksvoll, aber immer noch erträglich. Selbst wenn die Verwundungen schon beim Zuschauen die Magengruben belasten, hinzu kommen interessante Selbstmedikationen wie das Ausbrennen der aufgeschlitzten Kehle mit Schießpulver. DeCaprios Leistung stiehlt nicht nur allen Survival-Gurus die Show, es ist auch ein Blick in innerste Gefühlswelten, den bei Iñárritu auch schon Javier Bardem in „Biutiful" und Sean Penn in „21 Gramm" zeigten. Was diese Urgewalt von Film zwischen Natur-Meditation und unfassbar intensiven Szenen eigentlich alles erzählt, muss jeder selber entdecken. Gerne auch bei zweiten, dritten und weiteren Sehen.

Je suis Charlie

Frankreich 2015 (L'humour à mort) Regie: Daniel Leconte, Emmanuel Leconte 90 Min. FSK: ab 0

Genau am 7. Januar des vergangenen Jahres wurden elf Mitarbeiter der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo" in ihren Pariser Redaktionsräumen ermordet. Die Regisseure des Dokumentarfilms „Je suis Charlie", Daniel und Emmanuel Leconte, hatten bereits mehrere der Zeichner für ihre Doku „C'est dur d'être aimé par des cons" interviewt, die den Prozess um die zuerst in einer dänischen Zeitung veröffentlichten Mohammed-Karikaturen 2005 begleitete. So ist „Je suis Charlie" gleichzeitig Erinnerung und versucht Hintergründe wie Ablauf der Tat nachzuerzählen.

Diese aneinander geklebten Teile informieren mit den notwendigen Fakten und Bildern, spannen den Bogen von einem wenig geliebten Satire-Magazin am linken Rand, für das nach den Morden Millionen weltweit auf die Straßen gingen. Trotzdem erweitert „Je suis Charlie" auch im Abstand von einem Jahr kaum das Verständnis eines vorinformierten Zeitungslesers.

Ein zu langes Kapitel versucht den Anschlag selbst mit den Aussagen der Überlebenden, die zum Teil den Tätern Türen öffneten oder angeschossen wurden, zu dramatisieren. Ein Ansatz, der genau die Ausbeutung durch Medien betreibt, von der sich einige der Betroffenen abgewandt haben. So sind einige Beteiligte explizit nicht am Film beteiligt. Zudem irritieren unnötige und störende Kamerabewegungen bei den Interviews. Nur am Rande kommen die weiteren Opfer der Anschlagsserie in dem jüdischen Supermarkt vor, wenngleich der Antisemitismus der Attentäter in klugen Sentenzen mit der Philosophin Elisabeth Badinter herausgestellt wird.

Die letzte Viertelstunde ist den Opfern gewidmet und an erster Stelle wieder dem besonders beliebten Provokateur Charb (Stéphane Charbonnier), trotzdem lernt man sie nicht wirklich kennen. Es bleibt schockierend zu sehen, welche Menschen umgebracht wurden. Wobei es einfach schockierend sein muss, dass überhaupt ein Mensch umgebracht wird. „Je suis Charlie" ist keine gute Dokumentation, aber ein notwendiger Film, um an diese Tat zu erinnern.

3.1.16

Louder Than Bombs

Norwegen, Frankreich, Dänemark 2015 Regie: Joachim Trier mit Isabelle Huppert, Gabriel Byrne, Devin Druid, Jesse Eisenberg 109 Min. FSK: ab 12

Was ist eigentlich „lauter als Bomben", wie der Titel lautet? Vielleicht die Stille in dieser Familie einer Kriegsfotografin, die nicht von einer Bombe, sondern von einem tödlichen Unfall getroffen wurde: Zwei Jahre liegt der Unfalltod der bekannten Fotografin Isabelle Reed (Isabelle Huppert) zurück. Der ältere Sohn Jonah (Jesse Eisenberg) flirtet direkt nach der Geburt seines Kindes auf dem Flur des Krankenhauses heftig mit einer Ex. Der jüngere, Conrad (Devin Druid), erzählt seinem Vater Gene (Gabriel Byrne) am Telefon, er sei mit Freunden unterwegs, während er einsam auf einem Spielplatz hockt. In seiner Verzweifelung, den sonderbaren Sohn zu erreichen, versucht Gene sogar als Figur in dessen Fantasy-Games an ihn heranzukommen. Mit niederschmetterndem Ergebnis.

Dabei wird in Zusammenhang mit einer Ausstellung zur Sprache kommen, dass Isabelle sich vermutlich umgebracht hat. Was der sensible Conrad noch nicht weiß. Und irgendeiner müsse es ihm beibringen, gibt der Vater den Job an Jonah weiter.

Der Norweger Trier Joachim Trier, wurde zwar 1974 in Kopenhagen geboren, ist aber nur ein entfernter Verwandter des großen Dänen Lars von Trier - auch filmisch. Er zeigt die verknoteten Familienverhältnisse und Individuen in „Louder than Bombs" auf ungewöhnliche Weise. Was dazu passt, dass die Menschen ganz anders sind, als sie scheinen. Der vermeintlich erfolgreiche und glückliche Jonah ist so weit von seinen eigentlichen Wünschen entfernt, dass er haarsträubende Dinge tut. Conrad überrascht hingegen mit gesunden Einsichten und Reaktionen auf typische Teenager-Probleme. Wobei vor allem die Form fesselt: In irritierend montierten Träumen, Rückblenden und Fantasien zeigt sich das Wesen eines gespannten Verhältnisses des Ehepaares. Dahinter steckt nicht nur die spezielle Belastung von Kriegsveteranen, die niemals mehr zu Hause ankommen können, sondern auch die ganz normale Kommunikations-Störung in Familien.

Dabei spielt ausgerechnet Isabelle Huppert („Madame Bovary", „Die Klavierspielerin") eine ihrer normalsten Figuren. Auch die Besetzung mit Jesse Eisenberg („The Social Network", „Night Moves") und Gabriel Byne („Fräulein Smillas Gespür für Schnee, „Die üblichen Verdächtigen") belegen den Rang, den Joachim Trier nach seinen Filmen „Auf Anfang" („[:reprise]", 2006) und „Oslo, 31. August" (2011) international einnimmt.

The Danish Girl

Großbritannien, BRD, USA 2015 Regie: Tom Hooper mit Eddie Redmayne, Alicia Vikander, Matthias Schoenaerts, Ben Whishaw 120 Min.

Wem das Gender-Getue mit Binnen-I und anderen originellen Ideen der Fürsprecher*Innen gerade auf die Nerven geht, dem sei „The Danish Girl" zum Einfühlen empfohlen: Ein wunderbarer Film nach einer wahren Geschichte über den ersten Mann, der auch operativ zur Frau wurde. Ein packendes und sehr rührendes Historiendrama von Tom Hooper („The King's Speech", „Les Misérables"). Atemberaubend gut androgyn gespielt von Eddie „Stephen Hawkins" Redmayne und mit wunderschönen Kostümen und Kulissen eingefangen.

Einar Wegener (Eddie Redmayne) lebt mit Ehefrau Gerda (Alicia Vikander) als Künstlerehepaar im Kopenhagen der zwanziger Jahre. Er ist mit seinen Landschafts-Szenen erfolgreicher als sie mit ihren intensiven Porträts, doch das trübt die innige Liebe ebenso wenig wie Gerdas Interesse an anderen Frauen. Eher zufällig posiert Einar als menschlicher „Kleiderständer" für ein verhindertes Model von Gerda. Die Faszination, in eine weibliche Hülle zu schlüpfen, ist enorm - auch in der Wirkung, mit der Eddie Redmayne diese in Mimik und Gestik wieder gibt. Allzu leicht lässt er sich bald überreden, beim eher steifen Künstlerball der Akademie öffentlich als Frau aufzutreten. Der Eindruck des neu geschaffenen und Lili genannten Wesens ist gewaltig, direkt verliebt sich ein Mann in sie ... oder ihn?

„The Danish Girl" ist an der Oberfläche erst einmal ein großer Seh-Genuss. Sowohl die historischen Szenerien und Kostüme in Kopenhagen als auch die von Paris, wohin das Paar trotz der anscheinend freizügigen dänischen Gesellschaft zieht, sind von erlesener Schönheit. Dann faszinieren Wandel und innere Zerrissenheit von Einar, der meint, eigentlich immer eine Frau im Körper eines Mannes gewesen zu sein. Exzellent gespielt, feinfühlig vermittelnd, großes Gefühlskino, all diese Worte können das unfassbar feine, nuancierte und intensive atemberaubende Spiel von Redmayne nicht gänzlich wiedergeben. Schüchternheit, kokettes Lächeln, die Freude über das gute Gefühl im richtigen Äußeren, das erste Flirten - all das verdient unbedingt einen Oscar (auch wenn DiCaprio als „Revenant" dann wieder warten muss). Und auf jeden Fall die Lola als weiblichen Filmpreis. Zudem eine Menge anderer Preise für reizvolle historische Ausstattung und die wunderbaren Kostüme.

Da verblassen alle Nebenrollen. Der ansonsten so großartige Matthias Schoenaerts („Der Geschmack von Rost und Knochen") ist etwas zu muskulös für den Pariser Galeristen und Einar-Freund Hans Axgil. Selbst die Schwedin Alicia Vikander (Ava in „Ex Machina") bleibt am Rande, obwohl der Film, der sein Drama fortwährend mit den Gemälden und Zeichnungen beider begleitet, auch die Geschichte einer starken Liebe, einer erstaunlichen Beziehung ist. Eine wunderbar offene - offen im Umgang und Gespräch miteinander, sowie auch in Verhältnissen zu anderen.

So hält die Beziehung, auch wenn Einar immer mehr hinter Lili verschwindet, bis hin zur innovativen Operation des deutschen Arztes Warnekros (Sebastian Koch) in Dresden. Dort komplettierte sich dann auch der Name der nun dänischen Malerin Lili Elbe, die von 1882 bis 1931 lebte. Regisseur Tom Hooper findet zu diesem dramatischen Lebenswandel - nach David Ebershoffs Roman „Das dänische Mädchen" - ein schönes und leichtes Ende, ohne die Entscheidung zu leicht zu zeigen.

Legend

Großbritannien, Frankreich 2015 Regie: Brian Helgeland mit Tom Hardy, Emily Browning, Christopher Eccleston, David Thewlis 131 Min. FSK: ab 16

Eine doppelten Tom Hardy gibt es diese Woche nicht nur Dank seines Doppelstarts in „The Revenant" und „Legend". Im Drama um die legendären britischen Gangsterbrüder Kray ist er gleich zweifach zu sehen. Eine tolle Leistung und damit auch schon das Beste am neuen Film von Brian Helgeland („Sin Eater - Die Seele des Bösen", „Ritter aus Leidenschaft"), der einst einen Oscar für das Drehbuch zu „L.A. Confidential" erhielt.

In den Sechziger Jahren waren die Kray-Brüder in London berühmt und berüchtigt, wovon bereits Peters Medaks' „Die Krays" erzählten. Nun berichtet Frances Shea (Emily Browning), die Ehefrau des cleveren Ronald Kray (Tom Hardy). Ein Gangster aus den einfachen Verhältnissen des East End, der anständig reich werden will. Dessen eineiiger Zwillingsbruder Reggie (ebenfalls: Tom Hardy) ist hingegen ein unkontrollierbarer Psychopath. Er greift direkt zum Hammer, wenn es um Revierkämpfe geht, während Ronald nur die Schlagringe anzieht. Das alles erfährt die selbstbewusste Shea noch vor der Hochzeit, doch sie kann nicht verhindern, dass „die Arbeit" Ronald immer mehr einnimmt. Bis er wieder in den Knast muss. Nun fährt Reggie das erfolgreiche Familienunternehmen mit Vollgas gegen die Wand.

Es ist durchaus reizvoll, wie Ronald Kray seinem Gangstertum eine seriöse Fassade zu geben versucht. Der eigene Nacht-Club zieht mit Boxern und zwielichtigen Gestalten erfolgreich Prominenz an. Sogar die Mafia aus den USA schickt einen Botschafter (Chazz Palminteri) und bietet gemeinsame Geschäfte an. Dabei sorgt Psychopath Reggie mit seiner offenen Vorliebe für schöne Jungs erst mal nur für Lacher. Dass später ein paar höllisch schöne Loverboys im Familienbetrieb mitreden, bringt die Zwillinge auseinander. Gleichzeitig zerbricht die Ehe von Ronald und Frances.

Wie die Kray-Zwillinge jenseits der Moral ihre Familien-Bande ausbauen und zerstören, ist trotz ein paar passenden Songs der Zeit eher lahm erzählt. Da hilft auch nicht die super Besetzung mit Tom Hardy und Tom Hardy. Mal als Reggie näselnd nuschelnd, mal als Ronald auch sprachlich auf Distanz zum Milieu gehend. Die leichte Beute dieser großartigen Doppelrolle lässt sich der halb skalpierte Schurke aus „The Revenant", der neue „Mad Max", der einsame Vieltelefonierer aus „No Turning Back" nicht entgehen. Tom Hardy ist großartig. Dabei bewegt sich der nur wenig charismatisch wahnsinnige Reggie hinter seiner dicken Nase an der Grenze zum Lächerlichen. Das passt leider zu einem Film, der die andauernde Faszination für die realen Kray-Brüder nicht in einem richtig faszinierenden Film ausbeuten kann.