9.6.15

Victoria

BRD 2015 R: Sebastian Schipper D: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff, André M. Hennicke, Anna Lena Klenke, Eike Schulz

Ein Weltrekord! 140 Minuten für eine ununterbrochene Szene! Das ist länger als Aleksandr Sokurovs „Russian Ark", die Endlosfahrt durch die Zeitgeschichte der Eremitage von St. Petersburg aus 2002. Und echter als die scheinbare Endlosfahrt in „Birdman", bei der viel digital getrickst wurde. In „Victoria", dem Wettbewerbsfilm der Berlinale 2015, ergeben 140 Minuten Sebastian Schippers („Absolute Giganten", „Mitte Ende August") faszinierenden Nacht-Trip durch Berlin.

Die ersten Bilder flashen mit Stroboskop und House-Music eines Clubs. Dann lässt sich Sebastian Schipper eine Stunde Zeit, um die enge Freundschaft von vier rauen Berliner Jungs miterleben zu lassen: Sonne, Boxer, Blinker und Fuß kennen sich schon ewig und halten immer zueinander - wie „Victoria" auf komische und tragische Weise zeigt. Doch zuerst geht es um die beginnende Anziehung zwischen dem sympathischen Sonne (Frederick Lau) und der spanischen Kellnerin Victoria (Laia Costa). Sonne ist ein einfacher Typ mit viel Herz, Straßen-Schläue und furchtbarem Englisch. Die spontane und lebenslustige Victoria hingegen wird sich als Flüchtling der eigenen Biographie erweisen, wenn sie am Klavier eine Brillanz hinlegt, deren jahrelange Aneignung ihr die Kindheit raubte.

Doch „Victoria" ist vor allem auch äußere Bewegung: Nachdem es ungeschnitten aus dem Club auf die Straße, auf ein Hochhausdach, in ein Kaffee ging, und man schon etwas den Drive von Schippers Debüt „Giganten" vermisst, beginnt nach einer Stunde ein knallharter Krimi, eine hochdramatische und romantische Geschichte, die jede Minute packt. Denn um eine alte Schuld vom Knasti Boxer zu begleichen, müssen die Freunde ein krummes Ding durchziehen. Weil einer von ihnen zu betrunken ist, soll ausgerechnet Victoria die Rolle der Fahrerin übernehmen. Was sie als ultimativen Bruch mit ihrer bürgerlichen Kinderstube sofort annimmt. Doch aus Spiel wird plötzlich Ernst, die Begegnung mit der schwer bewaffneten Gang von Gangster Andi (André M. Hennicke) ist beängstigend und atemberaubend. Doch noch längst nicht der Höhepunkt dieses bemerkenswerten Films.

Erstaunlich dabei, dass man den Weltrekord-Versuch glatt vergisst. Denn schon die Vorstellung, mitten in Berlin mehr als zwei Stunden Film an über 20 Sets ununterbrochen aufzunehmen, ist schweißtreibend. Wohl vor allem für den norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen. So kann man sich zwischendurch immer mal wieder fragen, ob der Passant oder dieser Polizei-Wagen geplant oder zufällig durchs Bild streifen. Nach zwei kompletten Durchgangs-Versuchen war Schipper mit der dritten Aufnahme für „Victoria" zufrieden.

Zu Recht: Das Spiel ist kraftvoll und lebendig, kleine Unfälle und Aussetzer werden spontan integriert. Trotzdem sind die Figuren exakt charakterisiert, die haltlos Jugendlichen aus dem echten Berlin, die Spanierin Victoria, deren Lebenstraum als Pianistin gerade gescheitert ist und die alles mitmacht. Es war angeblich der dritte und letzte Versuch, diesen einen „Take" auf die Festplatte zu bekommen. Ein origineller Aufmacher, ein nettes Alleinstellungsmerkmal. Doch ganz krass gesagt: Ein paar Schnitte hätten den guten Film noch besser gemacht!