28.4.15

An den Ufern der heiligen Flüsse

Indien, Frankreich 2013 (Faith Connections) Regie: Pan Nalin 115 Min.

Alle 12 Jahre pilgern bis zu 100 Millionen Gläubige an den Zusammenfluss von Ganges, Yamuna und - dem unsichtbaren, mythischen Fluss - Saraswati, um sich in einem Bad von ihren Sünden zu reinigen und sich aus dem Kreislauf der Wiedergeburt zu befreien. Kumbh Mela ist eines der größten Feste der Welt, ein der spektakuläres und beeindruckendes Ereignis. Der bekannte Regisseur Pan Nalin ist 2013 zur Kumbh Mela gereist, und erzählt in „An den Ufern der Heiligen Flüsse" in viele kleine Porträts und Geschichten von einfachen und schillernden Menschen von diesem Ereignis. Seine Kamera taucht ein in das Chaos am Ganges mit zahlreichen vermissten Erwachsenen und Kinder, haufenweise Priestern, die sich über die Menge an gerauchtem Marihuana amüsieren. Kurioses, Exotisches, Spirituelles, Banales und einfach Menschliches vermengen sich in diesem faszinierenden Dokumentarfilm. Immer wieder begleitet er einen jungen Sympathie-Fänger, um den Menschen nahe zu kommen. Die vielen persönlichen Geschichten belegen die Kunst von Pan Nalin. Wie bereits in seinen früheren Dokumentationen „Samsara - Geist und Leidenschaft" (2001) und „Ayurveda - Art of Being" (2000) gelingt es, mit tollen Aufnahmen, packenden Porträts zu unterhalten und zu informieren.

TinkerBell und die Legende vom Nimmerbiest

USA 2014 (Tinker Bell and the legend of the Neverbeast) Regie: Steve Loter 76 Min. FSK: ab 0

Wo man es am wenigsten vermutet, tauchen Action-Heldinnen für kleine Mädchen auf. Dieser sehr entfernte Peter Pan-Ableger steht in einer Reihe von aufwendigen „TinkerBell"-Trickfilmen. Wieder steht eine andere der kleinen Feen im Mittelpunkt: Die tierliebende Fawn - in der deutschen Version: Emily - freundet sich mit dem Baby-Monster Nimmerbiest an. Das allerdings Teil eines apokalyptischen Mythos ist, der die Feen-Stadt Pixie Hollow zu zerstören droht.

Dieser TinkerBell-Film ist zwar hauptsächlich für den Video-Markt produziert, doch kommt mit ihm mehr als eine Wagenladung bunt gefärbter Niedlichkeit hereingeschneit. Flott erzählt, gut animiert, dazu ein großartig fantastisches Wesen und einige Rührung angesichts ungewöhnlicher Tierliebe vom Biest. „TinkerBell und die Legende vom Nimmerbiest" wurde eindeutig für Mädchen im Grundschulalter produziert, wie man am nerdigen und ansonsten uninteressanten Wissenschaftler-Jungen und überhaupt an der weitgehenden Abwesenheit von männlichen Feen sieht. Wenn dann das Riesen-Flauschwesen scheinbar zum Monster wird, ist das schon eine Vorbereitung auf männliche Pubertät? Nein, das wäre viel zu schwer gedacht für dieses altersgerechte und meist rollen-untypische Abenteuer mit viel Spaß und den unausweichlichen Liedchen.

27.4.15

Eden (2014)

Frankreich 2014 Regie: Mia Hansen-Løve mit Félix de Givry, Pauline Etienne, Vincent Macaigne 131 Min. FSK: ab 12

„One more time" ... jetzt dazu den Daft Punk-Sound anstimmen und fertig ist die Stimmung für den Flashback zur Geschichte der House-Musik in den Pariser Techno-Clubs der 1990er: Paul (Félix de Givry) ist Anfang 20 und will DJ werden. Mama (Arsinée Khanjian) weiß noch nicht, dass „DG" eigentlich mit J hinten geschrieben wird, und vermutet, ihr Junge sei ob des seltsamen Verhaltens schwul. „Eden" blättert in vereinzelten Szenen wie durch ein Foto- und Hit-Album durch diese Zeit: Die Jungs von Daft Punk gehören zu Pauls Freunden, man bewegt sich in einem realen Kosmos mit Neil Rogers, Paul und seine Gang legt bei einem Festival im New Yorker MoMA ihren Garage-Mix auf.

Zur Zeitstimmung gehören die Atmosphären vor und nach den Raves an geheimen Orten, der mitreißende Rausch der Partys, trotz Handkamera eher distanziert eingefangen, Zeitungsmeldungen über das ach so gefährliche Ecstasy. Anfangs klingt nicht von ungefähr „Promised Land" von Joe Smooth an, es sind paradiesische Versprechungen. Angetrieben bei Paul allerdings vom Koks, wegen dem er auch dauernd pleite ist. Der Tod des Freundes Cyril, die schwierige Beziehung mit der launigen Louise (Pauline Etienne), begleiten den Weg nach unten. Später heißt es auf dem Dance Floor „Tomorrow means nothing at all" - Das Morgen ist egal. An Paul rächt sich diese Lebenshaltung jedoch im zweiten Teil „Lost in Music" bitter mit einem mentalen und finanziellen Zusammenbruch. Hauptdarsteller Paul Vallée bringt eine Melancholie in seine Züge, die an Jake Gyllenhall erinnert.

„Eden" stellt eine exzellente Ergänzung zu Yolande Zaubermans „Lola im Technoland" und Jean-Marc Vallées genialem „Cafe de Flore" mit Vanessa Paradies dar. Schon wegen der Musik und den Club-Szenen ist der Film von Mia Hansen-Løve unbedingt sehenswert. Sie schrieb das Buch zusammen mit ihrem Bruder Sven Hansen-Løve, der als DJ die Zeit aktiv miterlebt hat. Wie immer bei Mia Hansen-Løve erschließt sich der Film nicht direkt über eine Handlungs-Abfolge, über ein „dann, und dann, und später ...". Man kann sich bei ihr treiben lassen, dem „flow" folgen, besonders bei diesem „Eden" mit seiner letztendlichen Vertreibung aus dem Paradies.

The Voices

USA, BRD 2014 Regie: Marjane Satrapi mit Ryan Reynolds, Gemma Arterton, Anna Kendrick, Jacki Weaver 109 Min. FSK: ab 16

Ja, man kennt sie, diese Stimmen, die sagen „Sieh ihn dir an, diesen tollen Film!". Oder „Lass es bloß bleiben, dieser Mist ist nichts für dich!". Solange die Stimmen von Werbung oder Kritik kommen, ist das in Ordnung. Sollten sie von Hund und Katz stammen, wird es interessant. Wie bei Jerry (Ryan Reynolds) in dessen rosaroter Welt der brave Hund die Stimme der Vernunft ist, und die freche Katze für negative, ordinäre und lüsterne Vorschläge zuständig ist. Ganz real! Die aus dem Iran stammende Regisseurin Marjane Satrapi legt nach ihrem Zeichentrick-Erfolg „Persepolis" (Vorlage, Buch, Regie) mit „The Voices" nun eine skurrile, blut-schwarze Psycho-Komödie hin.

Die rosa Gabelstapler in der Badewannen-Fabrik wirken ebenso seltsam wie der dauerfröhliche Packer Jerry, der sogar begeistert beim Orga-Team für das Grillfest mitmacht. Die Begeisterung für die attraktive britische Kollegin Fiona (Gemma Arterton) übersieht zwar deren Abneigung, doch irgendwann freunden sich die beiden dank ein paar Zufällen sogar an. Worauf Fiona kurz später nach ein paar dummen Zufällen mehr gemeuchelt wie Schneewittchen im märchenhaften grünen Wald liegen würde. Bald spricht auch Fionas Kopf im Kühlschrank zu Jerry, während ihr Rest in einer Mauer aus blutigen Tupper-Dosen verstaut ist. Dabei ist die Katze auf den Geschmack gekommen und überredet Jerry beim Anschauen von mörderischen Tiersendungen zu weiteren Bluttaten: Man fühlt sich doch nur richtig lebendig, wenn man tötet...

Eigentlich eine reizvolle Idee, die Innenwelt eines Schizophrenen - mal laienhaft gesagt - bunt zu bebildern. Das ist lange spaßig und skurril, später schauerlich, wenn sich der rosa Schleier legt und das Ausmaß äußerer wie innerer Verwahrlosung bei Jerry deutlich wird - samt eingeflochtener Szenen von einem Kindheits-Albtraum. Nur über die ganze Filmlänge gesehen, lässt sich in dem überraschend anderen neuen Film von Marjane Satrapi („Huhn mit Pflaumen", „Persepolis") sehr wenig entdeckten. Es bleibt das gleiche Spiel mit den Stimmen von Hund und Katze. Zugegeben, der Chor an Köpfen im Kühlschrank wird zahlreicher, die Melodie ändert sich nicht. (Den „Happy Song" im Abspann sollte man sich allerdings nicht entgehen lassen!) Ryan Reynolds meistert die ungewöhnliche, komödiantische Rolle mit Tiefgang großartig!

Die Gärtnerin von Versailles

Großbritannien 2014 (A little chaos) Regie: Alan Rickman mit Kate Winslet, Matthias Schoenaerts, Alan Rickman, Stanley Tucci 116 Min. FSK: ab 0

Die in Architektur gegossene Inszenierung der Macht von Ludwig XIV. und seinen Gartenanlagen von Versailles bleibt faszinierend. Der berühmte britische Schauspieler Alan Rickman pflanzt nun neben den realen Gartenarchitekten des Hofes, André Le Nôtre, und das real existierende Ballsaal-Boskett im Park des Schlosses die fiktive Geschichte von dessen Architektin Sabine De Barra. Kate Winslet legt „Die Gärtnerin von Versailles" als selbständige „Frau von heute" sehr geerdet und als Gegenpol zum höfischen Regelzwang an.

Gleich zu Beginn versetzt Sabine De Barra (Kate Winslet) in einem Pflanzenarrangement einen Buchsbaum aus dem Zentrum - ein Sakrileg! Denn dass der ganze Hof um den Sonnenkönig kreiste, musste immer wieder in Tanz und Symbolik eingeübt werden. Der an solche Zwänge gebundene Hofgärtner André Le Nôtre (Matthias Schoenaerts) ist vom Chaos in den Entwürfen zur Bewerbung der selbständig arbeitenden Witwe deshalb fasziniert. Um die Konventionen zu erfüllen, ohne zu langweilen - das Grundproblem künstlerischer Äußerung - lässt er die Außenseiterin in den Gärten des neuen Regierungssitzes Versailles den „Ballsaal", eine Tanzinsel unter freiem Himmel, eingerahmt von einer Wasserkaskade bauen.

Die Faszination bleibt nicht beruflich, die ehrliche, natürliche und ungezwungene Bürgerliche begeistert am Hofe auf Anhieb und gibt sogar dem König anhand einer Vierjahreszeiten-Rose eine Lektion in Sachen Achtung der Frauen, auch wenn ihre Schönheit verblühen sollte.

Der fast 70-jährige Alan Rickman ist bekannt als Professor Severus Snape aus „Harry Potter" und den Älteren als charismatischer Oberschurke Hans Gruber aus „Stirb langsam". Nach dem feinen und trefflichen „The Winter Guest", der nie in deutsche Kinos kam, ist „Die Gärtnerin von Versailles" seine zweite Kinoregie, in der er selbst am Rande (Sakrileg!) Ludwig XIV. spielt. Eine historische, aber nicht angestaubte Liebesgeschichte, ein fein gezeichneter Außen-Blick auf Menschen bei Hof, der bekannte Klischees gänzlich meidet und seine Figuren individuell aufleben lässt.

Kate Winslet wirkt als Gärtnerin von Versailles nie wie ein Star. Mit ernstem und entschlossem, etwas grimmigem Blick packt sie selbst mit an, reißt Efeu raus und wühlt in der Erde. Der raue Belgier Matthias Schoenaerts ist hier nicht der übliche schmierige Höfling, sondern bringt seine Ecken und Kanten aus „The Drop", „Loft", „Der Geschmack von Rost und Knochen" und vor allem „Bullhead" mit.

„Die Gärtnerin von Versailles" ist ein fast undramatisches Plädoyer für unverstellte Natürlichkeit in einer Umgebung voller Regeln und Normen. Ausgerechnet im Rahmen der Integration einer gezähmten Natur in die Hof-Landschaft von Versailles feiert der sympathische Film mit seinem großartigen Schauspiel das „bisschen Chaos" des Originaltitels.

The Gunman

Spanien, Großbritannien, Frankreich 2015 Regie: Pierre Morel mit Sean Penn, Javier Bardem, Ray Winstone, Mark Rylance, Jasmine Trinca 115 Min. FSK: ab 16

Sicherheitsfirmen machen Politik und Krieg für multinationale Konzerne. Das Urteil Mitte April gegen vier US-Söldner der Firma Blackwater zeigt, wie real diese Situation ist. Sean Penn hängt sich nun als „The Gunman" mächtig und sehr austrainiert rein, um aus dem Politikum einen spannenden Film zu machen. Seine Figur, der Söldner Jim Terrier, sorgt erst mit einem politischen Mord für Unruhen im Kongo und muss Jahre später vor seinen eigenen Auftraggebern fliehen.

Jim Terrier (Sean Penn) schützt 2006 im Kongo Mitarbeiter von Hilfsorganisationen - vorgeblich. Denn im Hintergrund arbeitet er für einen multinationalen Konzern, der die Mineralien des Landes ausbeuten will. Als ein Minister des Landes die Verträge mit den Multis kündigt, erschießt Jim den Politiker und verlässt fluchtartig den Kontinent sowie seine Liebe Annie (Jasmine Trinca). In den ausbrechenden Unruhen schützt und „übernimmt" Jims eifersüchtiger Chef Felix (Javier Bardem) die engagierte Ärztin. Erst acht Jahre später sieht Jim sie wieder. Mittlerweile wird er von Auftragsmördern verfolgt, all seine Kollegen sind mittlerweile tot. Er erhofft sich Aufklärung und Hilfe von Felix, entdeckt aber schnell, dass dieser tief im schmutzigen Söldner-Geschäft mit drinsteckt.

Was für vielversprechende Figuren und Konflikte! Der Auftragskiller, der von seiner eigenen Tat eingeholt wird, und dem das schlechte Gewissen die Liebe seines Lebens zerstört! Oder der Freund, der etwas zu offensichtlich nicht wirklich einer ist, und der für die begehrte Frau eine politische Katastrophe mit zahllosen Toten auslöst. Leider kümmert sich „The Gunman" nicht um all diese Möglichkeiten eines feinen Dramas mit exzellenten Schauspielern.

Der Thriller nach einem Roman von Jean-Patrick Manchette konzentriert sich auf die politische Anklage und eine Menge gute Action. Dazwischen lassen er und das Drehbuch Lücken, die man nur mit einiger Begeisterung für Sean Penn übersehen kann. Penn, der mit seinen Rollen („Dead Man Walking", „Milk"), aber auch „privat", sehr engagiert für „gute" Zwecke kämpft. Etwas grenzwertig ist es hier schon, all diesen einzelnen fein definierten Bauch- und Brustmuskeln des Mitt-Fünfzigers so viel Aufmerksamkeit zu widmen. Zwar gewann Regisseur Pierre Morel mit „96 Hours" und Liam Neeson reichlich Erfahrung mit dem Aktivieren älterer Herren für das Action-Kino, aber Penn kann doch so viel mehr, als immer nur sein Hemd ausziehen!

Ebenso aufgeklebt wie das Musketier-Bärtchen wirkt da die zusätzliche Last einer Überforderung des Hirns, die ausgerechnet bei Stress Schmerzen und Ausfälle verursacht. Wie viel besser setzte doch der belgische DeNiro Jan Decleir diese Idee in „De zaak Alzheimer" von Erik Van Looy um!

So bleibt ein gemischtes Gefühl bei einem angenehm unhektischen, aber dann im Stierkampf-Finale doch sehr spannenden Thriller: Penn will in ganz üblen Machenschaften bohren, hat ein Anliegen, das leider sehr real ist. „The Gunman" macht das deutlich, macht es sich und unseren Gefühlen aber dann mit einer groben Dramaturgie auch zu leicht.

21.4.15

Mülheim - Texas. Helge Schneider hier und dort

BRD 2014 Regie: Andrea Roggon 93 Min. FSK: ab 0

Ein Film über Helge Schneider ist ein schwieriges Ding: Der ausgefuchste Medienprofi nimmt immer wieder Bezug zu den Menschen hinter der Kamera, liefert Scherzchen, ist aber nicht allzu willig dabei. So antwortet er auf die Frage nach seinem Freiheitsbegriff „Freiheit muss man sich nehmen!" und geht weg. Es bleibt dabei: Die Kunstfigur Helge Schneider lässt nicht in das Privatleben von Helge Schneider schauen. Die Regisseurin Andrea Roggon macht das Beste draus und zeigt ein Best of von Schneiders Karriere: Nette Bilder von Schneider in Spanien, viele Konzert-Ausschnitte und doch ein paar Gespräche. Die ungewöhnliche Zusammenarbeit mit dem intellektuellen Medienarbeiter Alexander Kluge fügt eine eher unbekannte Facette hinzu. Wer schaut schon „News & Stories" im Netz? Doch insgesamt geriet die Doku wenig erkenntnisreich und nur begrenzt spaßig. Der Perfektionismus hinter der scheinbaren Chaos seiner Konzerte bei Proben zu erleben, ist ernüchternd. Muss schon sehr Fan sein, um diesen Film und danach Schneider noch zu mögen.

20.4.15

A Girl Walks Home Alone at Night

USA 2014 Regie: Ana Lily Amirpour mit Sheila Vand, Anash Marandi, Marshall Manesh 100 Min. FSK: ab 12

Frisches Blut für die Kopftuch-Diskussion: Bislang beherrscht von diffusen Ängsten, doch nach diesem sensationellen Film wissen wir, dass Vampire unter dem Tschador die coolste Versuchung seit langem sind. Die schwarz-weiße Verfilmung einer iranischen Graphic-Novel ist neuer Indie-Hit und äußerst vergnüglicher Spaziergang durch die Indie-Filmgeschichte.

Zwischen Ölfeldern und Massengräbern am Rande der Straße sitzt die iranische Wiedergeburt von James Dean im Ami-Schlitten. Arash (Anash Marandi), ein netter Kerl, dem der Drogendealer seines Vaters im Nacken sitzt, trifft in einer dieser Nächte auf eine Gestalt im dunklen Umhang und Kopftuch. Wir wissen mittlerweile schon, dass die junge Frau (Sheila Vand) einen ausgezeichneten Musikgeschmack besitzt und den Dealer Hossein (Marshall Manesh) leer gesaugt hat. Zwischendurch erschreckte sie einen kleinen Jungen mit ihren spitzen Beißerchen, um dessen Skateboard zu klauen. Die Liebe zwischen Arash und der Frau entwickelt sich vorsichtig, auch wenn der junge Mann noch keine Ahnung hat, wen er da anhimmelt. Im Licht einer Disco-Kugel kommen sie sich näher...

Großartig die nächtliche Begegnung, als Arash gerade nach einer Party im Vampir-Kostüm seine Traurigkeit ausführt. Herrlich, der affige, kunterbunt tätowierte und extrem selbstverliebte Dealer und der tödlich gelangweilte Blick der Vampirin auf ihn. Die Art des Beißens mit einer symbolischen Kastration und feministischer Penetration ist dabei so gar nicht Twilight-Stoff. Und dann wieder lustig, wie Arash ihr unwissend einen blutigen Hamburger zum Essen mitbringt. Dabei höchst faszinierend, dieses Gesicht im Tschador mit den großen dunklen Augen und Lippen.

Die berauschenden Schwarz-Weiß-Kompositionen erinnern an frühe Indie-Filme aus den 70er- und 80er-Jahre, etwa von Jarmusch. Die schweigsame Frau im Matrosen-Shirt könnte aus einem Hal Hartley-Film stammen, vielleicht Elina Löwensohn in „Simple Men" (die erst später als „Nadja" zur Vampirin wurde) oder gleich das Original, Jean Seberg in „Außer Atem". Dazu Techno-Klänge und Morricone-Melodien wie aus dem Western.

„A Girl Walks Home Alone at Night" ist trotz vieler Zitate und Stilverweise ein ganz eigenständiger Filmschatz, eine äußerst bemerkenswerte Entdeckung: Man erlebt ein Teheran - Bad City genannt - mit Musik, Feiern und Drogen. Trotzdem geriet dieses Debüt von Ana Lily Amirpour, einer in London geborenen Exil-Iranerin, nach ihrer eigenen, gleichnamigen Graphic Novel so ganz anders als das iranische Kunstkino der internationalen Festivalfamilie mit Panahi, Kiarostami oder den Mahmalbafs. Selbst anders als „Persepolis": Die in Frankreich lebenden Marjane Satrapi machte aus ihrer Graphic Novel ja eine Animation. Auf jeden Fall muss man sich Ana Lily Amirpour merken und selbst entdecken.

Ex Machina (2015)

Großbritannien 2015 Regie: Alex Garland mit Oscar Isaac, Domhnall Gleeson, Alicia Vikander, Sonoya Mizuno 108 Min. FSK: ab 12

Alex Garland, der Autor von „The Beach" und „28 Days Later" feiert sein Regie-Debüt mit einem Crossover aus „Blade Runner" und Ingmar Bergman, mit einer freien Fortsetzung des japanischen
Ex Machina-Zyklus, mit einem gewagten und spannenden Science Fiction der menschlichen Entwicklung.

Der große Karriere-Gewinn des 24-jährigen Programmierers Caleb (Domhnall Gleeson) entwickelt sich bei der ersten Begegnung mit dem charismatischen Konzernchefs Nathan (Oscar Isaac) zu einem seltsamen Männertreff und später zu einem Albtraum. Caleb soll eine Woche lang in einer ablegenden Villa mit angeschlossenem Forschungs-Bunker den Turing-Test an einer neuen Entwicklungsstufe künstlicher Intelligenz durchführen. Die Roboterfrau Ava (Alicia Vikander) ist hinter dicken Glaswänden sein Untersuchungsobjekt. Gleichzeitig wird Caleb vom Schöpfer Nathan beobachtet und getestet. Zwischen Saufgelage und Macho-Gehabe treibt der egozentrische Erfinder von allem, was wir unter Social Media und Fortschritt verstehen, seine Psycho-Spielchen mit dem unsicheren, jungen Nerd.

Ava besteht derweil in sehr persönlichen Begegnungen nicht nur alle Tests, es stellt sich sogar die Frage, ob sie Caleb wirklich liebt oder gekonnt nur diesen Eindruck bei ihm erweckt. Immerhin schafft sie es ja auch, die kurzen Stromausfälle zu provozieren, die unbeobachtet intime Momente in dramatisch roter Notbeleuchtung ermöglichen. Nachdem Caleb entdeckt, was mit Avas Vorgängerinnen passiert ist, will er ihr zur Flucht verhelfen...

„Ex Machina" ist die erste Regie-Arbeit von Alex Garland, dem Autoren von „28 Days Later", „The Beach" oder „Alles, was wir geben mussten". Auch diesmal stammt der äußerst spannende Stoff von ihm. In paradiesische Natur und doch in Glas-Beton-Design eingesperrt, begegnen sich Mensch und Maschine in neugierigem, emotionalem und auch erotischem Abtasten. Das Bild der gefährlich verführerischen Traumfrau, als Gemälde von Klimt noch altmodisch an der Wand, baut sich heutzutage allerdings erschreckend effektiv aus Porno-Suchabfragen zusammen.

Im Grunde geht es um die alte, nun digitalisierte Maschinenangst der Menschen: Werden die Roboter uns ersetzen, gar die besseren Menschen sein? Die Folgen einer zu intelligenten künstlichen Intelligenz und wütender Maschinen kennen wir aus „Terminator" und unendlich differenzierter aus den „Ex Machina"-Animes. Der alles auslöschende Hiroshima-Bomber „Enola gay" schwirrt in dem neuen „Ex Machina" von Alex Garland genauso herum wie Robert Oppenheimers Zitat „Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten" aus der heiligen Schrift des Hinduismus „Bhagavad Gita". Doch um die Hybris des eindrucksvollen und auch lächerlichen Schöpfers Nathan zu verstehen, braucht man nur „Blade Runner" zu kennen.

Das klaustrophobische Labor lässt - dank der sehr, sehr starken Präsenz der drei Hauptdarsteller - ein Kammerspiel um die Zukunft menschlicher Existenz hochkochen. Konstant unter Beobachtung wie im Big Brother-Container. Das ist bestes Philip K. Dick-Gedankengut, mal nicht mit Schwarzenegger oder Harrison Ford auf die Action-Schiene gesetzt, sondern als extrem attraktives, fesselndes Kopf- und Autorenkino umgesetzt. Um eine Ahnung zu bekommen, wie äußerst reizvoll und „cool" Garland dies inszeniert hat, kann man sich den Clip „Killer Dance Moves" im Netz ansehen - oder noch besser direkt ins Kino rennen.

19.4.15

Big Eyes

USA, Kanada 2014 Regie: Tim Burton mit Amy Adams, Christoph Waltz, Danny Huston, Jon Polito 107 Min. FSK: ab 0

Der „Batman"- und „Ed Wood"-Regisseur Tim Burton zeigt ohne seine üblich satirische überzeichnete Handschrift bei „Big Eyes" eine schöne Emanzipation-Geschichte mit Amy Adams, eine Farce über den Kunstbetrieb mit Christoph Waltz und diskutiert im Hintergrund das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

Margaret Keane (Amy Adams) flieht zu Beginn ihren Ehemann und eine kalifornische Vorstadt, die verdächtig nach dem klinisch reinen Jagdgebiet der Avon-Beraterin aus „Edward mit den Scherenhänden" aussieht. Doch auch in der Großstadt San Francisco ist Anfang der Fünfziger Jahre das Leben für eine ausgebildete Malerin nicht leicht: „Findet ihr Mann okay, dass sie arbeiten?", fragt der neue Chef, bevor Margaret Kindermöbel in Serie bemalen darf. Walter Keane (Christoph Waltz) jedoch, ein vorgeblicher Maler, der hauptsächlich an Immobilen verdient, ist begeistert von Margaret. Der seltsame, anfangs nicht unsympathische Typ, schafft es sogar mit seinem begnadeten und extrem schleimigen Marketing, Margarets Bilder zu verkaufen. Die heißt mittlerweile auch Keane, malte aber immer schon. Leider vergisst Keane zu erwähnen, dass die Signatur von seiner Frau ist und schwingt sich selbst zum lächerlichen Abbild eines berühmten Künstlers auf. Die wirkliche Künstlerin schweigt dazu und malt heimlich weiter ihre Kinder mit sehr, sehr großen Augen. Denn Walters Karriere braucht ja Nachschub und auch - in einer der vielen atemberaubend absurden Szenen - für die Biographie ein „Frühwerk" aus seiner Berliner Zeit mit Skizzen hungernder Nachkriegs-Kinder.

Während Waltz die Kopie eines Künstlers mit großer Leidenschaft auf die Leinwand schmeißt, macht dieser Keane ein Vermögen mit den Reproduktionen „seiner" Originale. Nicht zufällig taucht Warhol immer wieder im Film auf: Walter meint stolz, er hätte noch vor Andy die Idee gehabt, mit Kopien Geld zu machen. Dass der Plagiator und Marketing-Spezialist nur albern unzureichend erklären kann, was Seele und Antrieb hinter diesen Werken sind, erinnert ebenso wenig zufällig an die Gegensätzlichkeit zwischen Filmkünstlern und den seriellen Massenproduktionen aus Hollywood. Die Spannweite dieses Subtextes reicht von Kane (nicht Keane), dem hawaiianischen Gott der Schöpfung, bis zum italienischen Gott der seriellen Produktion, dem Schreibmaschinen-Hersteller Olivetti.

Tim Burton, der in den 90er Jahren tatsächlich selbst Keane-Bilder gesammelt haben soll, macht aus dieser wahren Geschichte die letztlich glückliche Emanzipations-Geschichte einer Frau, die wohl ohne den Betrüger an ihrer Seite nicht aus einem Schattendasein herausgekommen wäre. Und die letztlich auch zu ihrem Ausbruch wieder die Leitung eines anderen Menschen brauchte. Die Lachnummer eines tragischen und verzweifelt größenwahnsinnigen Nicht-Künstlers legt Waltz etwas zu dick hin. Doch richtig interessant ist dabei die Erinnerung zurück zu Burtons Vorgänger von „Alice im Wunderland",„Planet der Affen", „Mars Attacks!", „Nightmare Before Christmas" oder „Batman": War dieser transsexuelle Ed Wood (Johnny Depp) im gleichnamigen Film mit seinen rosa Agora-Pullovern nicht Margaret und Walter Keane in einer Person? So nett unterhaltsam „Big Eyes" auch dank toller Haupt- und Nebendarsteller daherkommt, man darf ihn sich merken als Selbstporträt eines Künstler im Zeitalter der filmischen Industrialisierung.

Judgment - Grenze der Hoffnung

Bulgarien, BRD, Kroatien. Mazedonien 2014 (Sadilishteto) Regie: Stephan Komandarev mit Assen Blatechki, Ovanes Torosian, Ina Nikolova, Miki Manojlović 113 Min. FSK: ab 12

In einer trostlosen, armen Ecke Bulgariens an der Grenze zur Türkei zwingen Arbeitslosigkeit, die drohende Enteignung seines Hauses und das Mäkeln eines verwöhnten Sohnes den verwitweten LKW-Fahrer Mityo (Assen Blatechki), Flüchtlinge von der Türkei nach Bulgarien zu schleusen. Der sehr duldsame, stille Mann schmuggelt die Menschen wegen des Geldes über die Grenze, aber er kümmert sich auch besonders um seine arabischen und nordafrikanischen „Kunden", weil er unbewusst eine alte Schuld begleichen will. Denn was heute das Eindringen in die EU ist, war früher in umgekehrter Richtung die Flucht aus dem Ostblock. Mityos alter Kapitän aus der Ostblock-Armee (Miki Manojlović) fungiert jetzt als wohlhabender Anführer der Schleuser.

Der sinnloserweise auch beim synchronisierten Film nur ins Englische übersetzte Titel „Съдилището" (Sadilishteto) meint „Gericht" oder „Urteil" und bezeichnet einen schmal Berg-Grat an der Grenze zur Türkei und direkt am Abgrund. Es ist der - in diesem Film gar nicht so - schmale Grat zwischen den guten und den schlechten Menschen. Und selbstverständlich Schauplatz des Finales. Damit konstruiert der Film eine - auch historisch - gewagte Fallhöhe und verharrt dann doch nur in einer persönlichen Schuld-und-Sühne-Geschichte. Überzeugend ist er nirgendwo. Eigentlich erstaunlich, gelang dem 1966 in Sofia geborenen Regisseur Stephan Komandarev 2008 mit „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" doch treffsicher ein netter Road Movie-Familienfilm.

Der traurigerweise zu einer weiteren Flüchtlingskatastrophe anlaufende „Judgment" könnte Abläufe, Gründe, Details auf der Seite der Schleuser beleuchten. Doch er konzentriert sich vor allem auf das private Drama des gutmütigen Mityos, der die Flüchtlinge nicht wie sein Chef als „Abschaum" ansieht. Die dramatisch sein wollenden Szenen des Menschenschmuggels packen trotz Handkamera und Dunkelheit nicht. Dass die Figuren kaum überzeugen, mag auch an der schwachen Synchronisation liegen. Doch vor allem filmisch agiert Regisseur Stephan Komandarev sehr hausbacken: Das Offensichtliche wird immer noch einmal wiederholt, das düstere Geheimnis ist längst erahnt worden. Wie sie sich aufdrängte, diese schwere Erinnerung, geriet so überdeutlich, dass in der Banalität der Darstellung das Schockende der Geschehnisse an der Grenze wirkungslos bleibt.

14.4.15

Grigris' Glück

Tschad, Frankreich 2013 (Grigris) Regie: Mahamat-Saleh Haroun mit Souleymane Démé, Anaïs Monory, Cyril Guei 95 Min.

Grigris (Souleymane Démé) lebt in Tschads Hauptstadt N ́Djamena, hilft tagsüber seinem Stiefvater Ayoub im Fotoladen und verdient nachts, trotz eines lahmen Beins, als akrobatischer Tänzer in einem Nachtclub etwas dazu. Als der Stiefvater erkrankt und die Krankenhausrechnungen zu hoch werden, schließt sich Grigris einer Gruppe von Benzinschmugglern an. Bald gerät er mit der Prostituierten Mimi (Anaïs Monory), in die er sich verliebt hat, ins Visier von Gangstern.

Regisseur Mahamat-Saleh Haroun, der bereits 2010 in Cannes mit dem großen Preis der Jury für „Un homme qui crie – Ein Mann, der schreit" ausgezeichnet wurde, erzählt die übersichtliche Geschichte recht langsam und wenig spektakulär. „Grigris' Glück" schielt weniger auf den europäischen Arthouse-Markt als der Vorgänger. Die Innenansichten vom Leben im Tschad bleiben wertvoll und interessant, auch wenn der dramaturgisch eher behäbig konstruiert ist.

13.4.15

10 Milliarden - Wie werden wir alle satt?

BRD 2015 Regie: Valentin Thurn 107 Min. FSK: ab 0

Nach „Taste the Waste" über die Wegwerfgesellschaft fasst Regisseur Valentin Thurn nun informationsreich viele Themenkomplexe rund um die Nahrung weltweit zusammen: In Thailand frittierte Insekten essend, fragt er sich, ob es noch genug zu essen gibt, wenn 10 Milliarden Menschen die Erde bevölkern. Bei Bayer CropScience entdeckt er, dass nicht Genpflanzen sondern Hybride, die Bauern abhängig machen, die wirkliche Bedrohung sind. Dabei ist der Hybrid-Reis gar nicht den indischen Überschwemmungen gewachsen. Im vegetarischen Indien haben die Wiesenhof-Erben mittlerweile die westliche Hühnchen-Produktion überholt. Der Film reist um die Welt, um den Phrasen der Industrien und Banker die Lage vor Ort entgegen zu halten, geht der Verteilungsfrage nach. Es ist ein Plädoyer für ökologischen Landbau und gegen den konventionellen - mit konventionellen Filmmitteln. In einer der wenigen Szenen mit Neuigkeitswert lässt der Forscher beim „Cultured Beef Project" einen Hamburger für 250.000 Euro anbrennen - er besteht aus dem Kunstfleisch der Universität Maastricht. Mehr solcher Momente hätten den behäbig lehrreichen Film interessanter gemacht.

The Pyramid - Grab des Grauens

USA 2014 Regie: Grégory Levasseur mit Ashley Hinshaw, Denis O'Hare, James Buckley, Christa Nicola 89 Min. FSK: ab 16

Während der Aufstände in Ägypten buddeln 2013 Archäologen eine bislang unentdeckte, vierseitige Pyramide aus. Schon bei der Öffnung der Pyramide fliegt allen grüner Staub ins Gesicht und fordert ein erstes Opfer. Ein TV-Team und der Kamera-Roboter der Archäologen dringen unter Zeitdruck in die Gänge vor, nach ein paar Schritten verlaufen sie sich, Gewölbe stürzen ein, dürre Katzen zerfleischen die Forscher, ein archaisches Wesen jagt die Überlebenden.

Mit unwahrscheinlichen Klischee-Charakteren der sexy Forscherin, des ruppigen Vaters oder der neugierigen Journalistin versucht das Filmchen in dunklen Gängen Horror und Schrecken zu finden. Das ist mit der mehr schlechten als rechten Behauptung, Found Footage zu sein, nichts für Katzenfreunde und auch nichts für Horrorfans. Etwas Splatter wird von viel Gerade und mäßig gespielter Verzweiflung aufgewogen. Das ist nicht besonders schauerlich, eher wie der Horror-Versuch einer Schüler-AG, die einen Lottogewinn schauerlich in den Sand setzt.

Leviathan (2014)

Russland 2014 Regie: Andrey Zvyagintsev mit Alexey Serebryakov, Elena Lyadova, Vladimir Vdovitchenkov 141 Min. FSK: ab 12

„Leviathan", das packende Drama um einen heißblütigen Vater und Liebhaber, dem ein korrupter, gnadenloser und widerwärtiger Politiker sein Heim an einer nordisch rauen Küste des Landes raubt, ist große Filmkunst und eine ganz bittere Abrechnung mit dem politischen und rechtlichen Verfall des neuen, starken Russlands, gierig unterstützt von der orthodoxen Kirche.

Kolia (Alexey Serebryakov) lebt als einfacher Automechaniker im rauen, schönen Norden Russlands. Zusammen mit Frau und Sohn bewirtschaftet er das Fleckchen Land an der Küste der Barentssee, das bereits seit Generationen im Besitz seiner Familie ist. Doch der feiste, extrem rücksichtslose Bürgermeister Vadim (Roman Madyanov) versucht mit allen Mitteln, auch der einer korrupten Justiz, Kolia zu verjagen. Kolias Jugend- und Armeefreund Dimitri, ein Rechtsanwalt, will Vadim mit einer Akte all seiner Vergehen unter Druck setzen. Doch der so selbstsichere Dimitri muss als geschlagener Hund wieder abziehen - nicht ohne vorher mit Kolias Frau Lilya im Bett gewesen zu sein. Und dann verschwindet diese plötzlich.

„Leviathan" wurde 2014 mit dem Preis für das beste Drehbuch bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet. Mit wunderbaren, farbverfremdeten Aufnahmen, der Musik von Philip Glass, starken Charakteren und einer Geschichte voller Leidenschaft. Die Ereignisse, die unverfrorene Korruption, die brutale Rechtslosigkeit schockieren im gleichen Maße, wie die Bilder faszinieren. Mit „Leviathan" kommt einer der stärksten Filme des letzten Jahres ins Kino.

Top Five

USA 2014 Regie und Buch: Chris Rock mit Chris Rock, Rosario Dawson, J.B. Smoove 102 Min. FSK: ab 12

Der neue Film von US-Komiker Chris Rock ist uneinheitlich und - im positiven Sinne - ungewöhnlich: Eindeutig nur was für Programmkinos.

Chris Rocks Alter ego Andre Allen ist wie er selbst ein ehemaliger Stand Up-Comedian, der eine banale Film-Karriere folgen ließ. Nun führt die kritische Journalistin Chelsea Brown (Rosario Dawson) im Umfeld zu seiner Werbekampagne für die haitianische Befreiungsgeschichte „Uprize" ein ausführliches Interview. Sie begleitet Allen mit kritischen und klugen Nachfragen einen Tag lang durch New York, während parallel seine baldige Hochzeit mit einem Show-Sternchen als Reality-Show fürs Fernsehen inszeniert wird.

Chelsea und Allen sind ehemalige Alkoholiker. Er erzählt ganz offen vom Tiefpunkt seiner Karriere. Als sie zwischendurch einen Beziehungstiefpunkt live erlebt, wird die Fragestellerin zu einer ernsthaften dramatischen Figur. So verläuft „Top Five" zwischen Ernsthaftigkeit und deftigem Humor, manchmal ist es tatsächlich ein Spaziergang durch New York mit großer Leichtigkeit und dann glaubt man Allen sein Glück, wieder als Stand Up auf der Bühne zu sein. Es gibt eine Junggesellenfeier mit Adam Sandler und Woody Goldberg. Der Rapper DMX singt im Knast.

Rock geht als Regisseur und Hauptdarsteller mit seiner Figur Allen die gleichen Wege wie Woody Allen, vielleicht eingefärbt von Rocks „2 Tage New York"-Episode mit der Regisseurin Julie Delpy. Chris Rock, der tatsächlich eher als Scherz-Keks denn als Künstler angesehen wird, belichtet in einem stilistisch uneinheitlichen Film die Probleme eines zweifelnden Komödianten, der endlich ernst genommen werden will. Der Entertainer will soziale und afroamerikanische Themen komisch anschneiden, Es klingt manchmal absurd, wie die Verbindung der Premiere von „Planet der Affen" und der Ermordung von Martin Luther King am Tag danach.

Das Glück an meiner Seite

USA 2014 (You are not you) Regie: George C. Wolfe mit Hilary Swank, Emmy Rossum, Josh Duhamel 102 Min. FSK: ab 6

Was passiert, wenn eine schlampige, unzuverlässige, promiskuitive Chaotin bei einer ordentlichen, erfolgreichen Pianistin mit schwerer Krankheit landet? Nein, dann haben wir nicht das weibliche Remake von „Ziemlich beste Freunde". Hilary Swank und Emmy Rossum spielen hier zwei sehr unterschiedliche Frauen, die sich gegenseitig gut tun und helfen - bis zum traurigen Ende.

Die erfolgreiche Pianistin Kate (Hilary Swank) bewohnt ein steriles, kaltes Luxushaus und wird nach Ausbruch der Nervenkrankheit ALS von ihrem perfekt gestylten Ehemann fürsorglich lieblos gepflegt. Mit der neuen, scheinbar in jeder Hinsicht ungeeigneten Pflegerin Bec (Emmy Rossum) fegt ein frischer Wind durch die Design-Hütte: Die immer wieder und auf jedem Gebiet scheiternde Studentin ist herrlich chaotisch, schlampig, ungezügelt, unverschämt direkt aber ehrlich. Ihr Fluchen irritiert zudem das feine Paar, bei dem immer alles klinisch sauber ist.

Bec ist eine Katastrophe wenn sie Kate auf der Toilette den Hintern abwischen soll, selbst wenn sie einen Smoothie mixen will und dabei die Küche mit Gemüse neu tapeziert. Doch nach anfänglichen, krassen und auch komischen Ausfällen wird der Film mit dem sinnfreien deutschen Titel „Das Glück an meiner Seite" zum Beziehungsdrama. Nicht zwischen Kate und ihrem Ehemann, der ziemlich schnell nach einem Seitensprung rausfliegt. Der Film ist die Geschichte von Kate und Bec, mit ein paar Geschichten drum herum und den persönlichen Dramen von zwei sehr unterschiedlichen Frauen.

Regisseur George C. Wolfe erzählt nach Michelle Wildgens Roman „You're Not You" die Emanizipations Kate von ihrem ordnungsliebenden Ehemann, vom freud- und humorlosen Leben. Dem gegenüber steht recht schematisch Becs wildes Nacht- und Liebes-Leben. Die Freundschaft auf den ersten Blick sorgt dafür, dass beide viel Spaß haben und Bec neben der Verantwortung für Kate auch verantwortlicher mit ihrem eigenen Leben umgeht. Wobei die Pflegerin sogar mehr vom Pflegefall abhängig ist, als umgekehrt.

Das geriet vorhersehbar sympathisch und witzig, wenn die beiden mit einer andern Kranken deren medizinisch verschriebenes Marihuana genießen und Kate endlich mal völlig losgelöst ist. Das ist zum Ende hin unausweichlich rührend und ergreifend. Den ein- aber nicht besonders feinfühligen „You're Not You" könnte man in eine Reihe der Krankenfilme einsortieren, mit dem gerade auf DVD veröffentlichten deutschen ALS-Roadmovie „Hin und weg", der Alzheimer-Geschichte „Still Alice", Stephen Hawkings „Die Entdeckung der Unendlichkeit" oder dem polnische „In meinem Kopf ein Universum". Es ist aber vor allem wie „Ziemlich beste Freunde" nicht so sehr der Umgang mit schrecklicher Krankheit, deren wirkliche Heftigkeit im Hollywood-Stil ausgeblendet bleibt. „Das Glück an meiner Seite" feiert mit tollem Schauspiel das Glück, sich für und mit einem „anderen" Menschen zu öffnen und sich dabei selbst neu zu entdecken.

Run All Night

USA 2015 Regie: Jaume Collet-Serra mit Liam Neeson, Ed Harris, Joel Kinnaman, Boyd Holbrook, Vincent D'Onofrio 114 Min.

Diesmal muss er seinen Sohn retten: Liam Neeson macht quasi im Akkord Action und zeigt dabei auch nach Ende der „96 Hours"-Trilogie keinerlei Verschleißerscheinungen. Seine neue Figur des Killers Jimmy Conlon sieht nach dem Klischee eines verlorenen Trinkers aus: 17 Morde sind eine schwere Schuld, die auch eine Menge Alkohol nicht wegwaschen kann. Doch „Run all Night" bettet diesen alten Sünder in die Freundschaft zweier Männer mit krimineller Vergangenheit ein, von denen einer den Reichtum und der andere die Alpträume auslebt. Und in zwei Vater-Sohn-Geschichten. Mit dem ziemlich unerzogenen, dummen Erben eines Gangster-Imperiums und mit dem besseren Sohn Mike Conlon (Joel Kinnaman), der sich von seinem kriminellen Vater Jimmy losgesagt hat. Doch nun wird Mike Zeuge eines Mordes von Danny Maguire (Boyd Holbrook), des dämlichen Sohnes von Gangsterboss Shawn Maguire (Ed Harris). Jimmy kann seinem Sohn Mike nur das Leben retten, indem er Danny, den Sohn des besten Freundes erschießt.

Nun bleibt Jimmy eine gemeinsame Nacht, um den Sohn aus dieser Falle zu retten. Eine Nacht, in welcher Mike trotz aller Bedrohungen auf der Flucht vor korrupter Polizei und Killern nicht selbst schießen, nicht den gleichen Weg wie der Vater gehen soll. Derweil der anfangs so freundliche, ruhige Patriarch Shawn Maguire im blutigen Racherausch ausrastet. Doch auch Jimmy schraubt seine mörderische Trefferliste noch einmal kräftig nach oben.

„Run All Night" montiert mehrere Erzählstränge schnell nebeneinander, die zusammen eine mörderische und sehr spannende Dynamik entwickeln. Gleichzeitig baut der Action-Film auf sehr, sehr eindrucksvolle Alt-Darsteller und Qualitäts-Mimen, in deren Kreis sich der junge Schwede Joel Kinnaman als Mike Conlon bestens bewährt. Der spanische Regisseur („Non-Stop", „Unknown Identity", „Orphan - Das Waisenkind") macht - in seinem dritten Film mit Liam Neeson - mit seinem deutschen Kameramann Martin Ruhe („The American," „Control") ein paar Sachen reizvoll anders: So geht er bei der Nachricht vom Tode Danny Maguires nicht in emotionale Nachaufnahme der Eltern, sondern entfernt sich, um im nächsten Raum die gerahmten Fotos einer heilen Familie einzufangen. Wogegen später eine Nahaufnahme das Gesicht Neesons mitten in der Action ungewöhnlich lange fixiert. Der Blick eines Killers, der des Mordens müde ist, darf die Leinwand für ein paar Sekunden füllen.

Dass dann ein durchsuchtes Hochhaus gleich in die Luft fliegt, ist hingegen typischer Hollywood-Overkill. Das Drehbuch (Brad Ingelsby) fährt noch einen besonders gefährlichen und motivierten Killer auf und - doch ein Klischee zu viel - einen guten Cop (Vincent D'Onofrio). Im langen Finale gilt: Lieber ein paar Morde zu viel. Zudem kann auch ein Liam Neeson nicht überspielen, dass seine Figur etwas zu positiv für einen rücksichtlosen Killer ist, der zu plötzlich das Richtige tun will.

Nur eine Stunde Ruhe!

Frankreich 2014 (Une heure de tranquillité) Regie: Patrice Leconte mit Christian Clavier, Carole Bouquet, Valérie Bonneton, Rossy de Palma, Stéphane De Groodt 80 Min. FSK: ab 0

Selbstverständlich und wenig subtil heißt die Jazz-Rarität „Me, myself und I". Denn selbstbezogen soll er vor allem sein, der reiche Zahnarzt Michel Leproux (Christian Clavier), und egoistisch sein Wunsch, die auf dem Flohmarkt entdeckte Schallplatte gleich in Ruhe zuhause anzuhören. Doch wird der angebliche Egoist nun im Stil einer Boulevard-Komödie durchgehend von rücksichtslosen Menschen bedrängt: Die Geliebte (Nathalie Leproux) will Schluss machen, die Ehefrau (Carole Bouquet) einen Seitensprung gestehen, der beste Freund, der ihn einst mit der Frau betrog, will Geld haben. Der Sohn, ein selbstgerechter, arbeitsscheuer Gutmensch, quartiert asiatische Flüchtlinge ein. Polnisch-portugiesische Schwarzarbeiter setzen per Rohrbruch die Wohnung unter Wasser. Die Hausgemeinschaft fällt unter Anführung des übergriffigen Nachbarn Pavel zu einer Party ein.

Schließlich nimmt Michel selbst die Absage der Geliebten, das Geständnis der Ehefrau und die Erkenntnis, dass sein Sohn nicht seiner ist, freudig als Gelegenheit hin, „das alles in Ruhe zu verarbeiten zu müssen". Also doch endlich seine Platte zu hören!

Das klingt nicht nur nach Boulevard, das ist es unter Vorlage von Florian Zellers gleichnamigem Bühnenstück tatsächlich. Filmisch mit ein paar Orts- und Perspektivwechseln aufgehübscht, aber der sehr geschätzte, 1947 geborene Regisseur Patrice Leconte („Intime Fremde", „Ridicule - Von der Lächerlichkeit des Scheins", „Das Parfum von Yvonne", „Der Mann der Friseuse", „Die Verlobung des Monsieur Hire") lässt eine vorgebliche Komödien-Stunde lange rätseln: Was soll das? Ein Vorführen der französischen Bourgeoisie, die in ihrem selbstverliebten Kultur-Snobismus völlig den Kontakt zur Realität verloren hat? Zu den Schwarzarbeitern, den illegalen Flüchtlingen in der Zweitwohnung, den eigenen Kindern, der eigenen Frau? Das wäre reichlich platt und auch ebenso verlogen wie Michels Last Minute-Bekehrung zu einem umgänglichen Menschen durch Hexenschuss.

7.4.15

Warte, bis es dunkel wird

USA 2014 (The Town that dreaded sundown) Regie: Alfonso Gomez-Rejon mit Addison Timlin, Veronica Cartwright, Anthony Anderson, Travis Tope 86 Min. FSK: ab 16

Schon „Scream" machte sich einen schrecklichen Spaß daraus, Horrorfan mit tödlichen Folgen in ihren eigenen Horror (-Film) zu schicken. Nun führt der Auftakt von „Warte, bis es dunkel wird" filmische Kabinettstückchen vor, spielt mit Autokino und Schatten, aber dies in hektischer Schnittfolge. Denn als zu Halloween in Texarkana wieder der Film über eine 70 Jahre alte Mordserie vorgeführt wird, beginnen die grausamen Tötungen von lüsternen Pärchen erneut. Ein Mann mit Kapuze ersticht Jamis (Addison Timlin) Freund und lässt sie mit dem Satz „Das ist für Mary" entkommen. Dieses Rätsel gibt der ambitionierten Journalistin eine Aufgabe. Sie versucht, etwas über „das Phantom" herauszubekommen, den nie entdeckten Täter der ähnlichen Mordserie aus den 40ern.

Regisseur Alfonso Gomez-Rejon ist mit „Glee" und „American Horror Story" horror-erfahren. Anfangs noch zurückhaltend in der Darstellung, wird der optisch sehr eindrucksvolle Film zunehmen zum echten Splatter. Ebenso wie eine Menge Blut klebt us-amerikanische Prüderie an diesen mit viel Können aufgenommenen Bildern. Ein christlicher Hass-Prediger ist omnipräsent. So ergötzt sich der Film ebenso an lasziven Frauenposen wie an brutalen Morden. In die Reihe der Serienmörder fügt sich ein mit einem weißen Jute-Sack Maskierter ein, ob er wieder auftaucht ist fraglich: Dieses Gemetzel ist vielleicht zu gut, zu wenig trashig für die Fans.

In meinem Kopf ein Universum

Polen 2013 (Chce Sie Zyc) Regie: Maciej Pieprzyca mit Dawid Ogrodnik, Dorota Kolak, Arkadiusz Jakubik, Helena Sujecka 111 Min. FSK: ab 6

Die Meinungen der Experten über den Gesundheitszustand des kleinen Mateusz (Kamil Tkacz) sind schockierend. Eine Ärztin vergleicht den Jungen mit ihrem Hund und mit Gemüse. Wegen seiner spastischen Bewegungen wird er gleich als geistig behindert abgestempelt. Berührend hingegen, wie liebevoll sich Vater und Mutter um Mateusz kümmern. Den Vorschlag, ihn in ein Heim zu stecken, lehnen sie ab. Es macht richtig Spaß, diese herzlich sympathischen Eltern zu sehen, etwa wenn im Paket aus Deutschland eine Kokosnuss den Vater vor große handwerkliche Probleme stellt. Selbständig robbt Mateusz auf dem Rücken durch die Wohnung und Papa veranstaltet gleich ein Wettrennen in dieser Fortbewegungsart. Auch ohne die manchmal gewählte subjektive Kamera-Perspektive oder die Gedanken des Jungen, die man plötzlich im Off hört, versteht man etwas von der Verzweiflung des im eigenen Körper Eingesperrtseins.

Doch gerade als das Fernsehen das Ende des Kommunismus zeigt, stirbt der Vater und nach einem Zusammenbruch der Mutter schickt Mateusz' Schwester den Spastiker in ein Heim, das dem wachen Geist keine adäquate Betreuung gibt. „Alles ist gut" heißt ausgerechnet dieses Film-Kapitel. Die Betrachtung der anderen Insassen durch Mateusz, seine Bewertung der Brüste der Pflegerinnen erleben wir in schwarz-humorigen Bemerkungen und Zwischenüberschriften. Lange lässt uns dieser bemerkenswerte Film im Ungewissen, ob der in seinem Körper gefangene, sehr gewitzte Verstand jemals Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen wird. Denn selbst hier im Schutz der Wohnung, die er so gut wie nie verlässt, interpretiert die Familie als epileptischen Anfall als Mateusz eine von der Mutter gesuchte Brosche unter dem Schrank herausholen will.

Erst im Alter von 26 wird aus ihm „Unser Mateusz", als eine Sprachlehrerin an seinem Blick erkennt, dass da durchaus ein wacher Geist im unkontrolliert zuckenden Körper steckt. Mit einem Blinzeln für Ja und zweifachem Blinzeln für Nein beginnt Mateusz zu sprechen und kann der Mutter sagen, dass er kein Gemüse ist. Mit dem Durchsetzungswillen des Vaters haut er sogar in den entscheidenden Situationen mit der Faust auf den Tisch.

Ein wenig bodenständiger als Julian Schnabels Meisterwerk „Schmetterling und Taucherglocke" oder das thematisch ebenso verwandte „Die Sprache des Herzen" und die Stephen Hawking-Biografie „Die Entdeckung der Unendlichkeit" ist dieser sehr schöne polnische Film gestaltet. Was ihm nicht schadet. Gerade mit der einfachen Herzlichkeit der Figuren und dem dem eindrucksvollen Spiel des Hauptdarstellers überzeugt die optimistische Geschichte.

Die neue Wildnis - Große Natur in einem kleinen Land

Niederlande 2013 (De nieuwe wildernis) Regie: Mark Verkerk, Ruben Smit 97 Min.

„Die neue Wildnis" stellt im allgemeinen Trend der Naturdokus eine Besonderheit dar: Denn diese „Wildnis" liegt mitten in den Niederlanden, dem am dichtesten besiedelten Land Europas, nahe bei Amsterdam. Auf einem Stück Land, das vor 40 Jahren noch Meeresgrund war, entstand ein Naturschutzgebiet von internationalem Rang: Oostvaardersplassen. Ungezähmt und ursprünglich wirkt es wie in einer weit entfernten Welt.

Zwei Jahre lang waren die Filmemacher „Aug in Aug, mit den Tieren, die unsere Nachbarn sind": Europas größte Wildpferdkolonie, Rothirsche, Füchse, Tausende von Gänse, unzählige Wasservögel und sogar ein Seeadler. Den Erzählern wurden die Tiere dabei scheinbar so vertraut, dass sie ihnen Namen gaben. Mit allen Vor- und Nachteilen des Vermenschlichen. Es die Natur dieser Dokus, die Circle of Life-Dramatik zu bemühen. Das Fressen und Gefressen werden, die Geburt und der Tod. Dabei wechseln sich dramatische Szenen mit Spaß und Lehrreichem ab. Wenn die kleinen Füchse wieder kleine Gänse zum Essen bekommen, wie schon gestern, vorgestern und wahrscheinlich auch morgen, ist das für die kleinen Zuschauer eher lustig als grausam.

Mit sehr eindrucksvollen Szenen und Aufnahmen gelang ein großer Erfolg in den Niederlanden. „Die neue Wildnis" ist nicht frei von Verniedlichung und comichaften Momenten, der gelungene Tierfilm ist vor allem für Kinder geeignet, kann mit seinen Bildern aber auch alle anderen begeistern.

5.4.15

Die Coopers - Schlimmer geht immer

USA 2014 (Alexander and the terrible, horrible, no good, very bad day) Regie: Miguel Arteta mit Steve Carell, Jennifer Garner, Ed Oxenbould, Dylan Minnette, Kerris Dorsey 81 Min. FSK: ab 0

Beim Abendsessen schmiert sich die unerträglich fröhliche Cooper-Familie gegenseitig Erfolgsmeldungen aufs Brot - selbst das Baby hat sein erstes Wort gesagt. Nur Alexander (Ed Oxenbould) hat wieder einen miesen Tag gehabt. Oder genauer: Einen „Terrible, Horrible, No Good, Very Bad Day", wie es auch im Titel von Judith Viorsts Kinderbuch heißt. Deshalb wünscht sich der 12-jährige Junge zu seinem Geburtstag, dass seine Familie auch mal so einen Tag hätte. Was sich dann den Rest des Films erfüllt, zum Staunen von Alexander und zur mäßigen Unterhaltung des Publikums.

Die Komödie breitet einen Tag voller Unfälle, Fettnäpfchen und Probleme aus. Letztere erweisen sich als höchstdramatisch wie der Pickel auf der Stirn des zukünftigen Promking-Bruders oder ein dauernd heulendes Baby. Mama (Jennifer Garner) muss einen Fehldruck im Kinderbuch verantworten, der Amerikanern tatsächlich etwas Körperliches zumutet. Papa (Steve Carell) vergeigt das Vorstellungsgespräch für den neuen Job. Dazu gibt es eine dank Handy-Gespräch versemmelte Führerschein-Prüfung und eine Peter Pan-Schulaufführung, die dank Hustensaft völlig abhebt. Geplant war wohl ein Moment der Steigerung im Chaos, aber „Die Coopers" bleiben in Tempo und in Auswirkung harmlos.

Steve Carell und Jennifer Garner sind die bekannten Gesichter in dieser Satire immer glücklicher Super-Eltern: Ein Komödiant, der schon mal komischer war, und eine Action-Seriendarstellerin. So ergeben „Die Coopers" mit einem penetranten Optimismus, der schon mal Brechreiz hervorrufen kann, tatsächlich eine nette Familienkomödie, wobei „nett" hier nicht wirklich nett gemeint ist. Aber wenn gerade der Fernseher kaputt ist oder große Langweile vorherrscht, dann könnte man ... besser spazieren gehen, als diesen Film zu sehen.

Elser

BRD 2015 Regie: Oliver Hirschbiegel mit Christian Friedel, Katharina Schüttler, Burghart Klaußner, Johann von Bülow 144 Min. FSK: ab 12

Die Freiheit vor der Nazi-Zeit zeigt sich in Bildern von Natur und ausgelassenen Feiern an Bergseen. Georg Elser ist dabei ein eigenwilliger, vergeistigter Handwerker, der sich nicht mit einer Frau zufrieden gibt. Ein Freigeist. Aber auch einer, der sich um die Familie kümmert, weil der Vater daheim alles versäuft. Kaum zurück im heimatlichen Dorf gewinnen dann die Nazis nach der Wahl von 1933 die Oberhand. Es ist interessant zu sehen, wer sich jetzt wendet und wer sich wehrt. Schon vorher prallten Rote auf Braune im Dorf, aber der Pazifist Elser ist kein Parteimitglied und prügelt sich nicht mit: „Gewalt hat noch nie was gebracht!"

Jetzt treten die frechen braunen Fratzen überall unverschämt auf. Elser verliert den eigenen Hof, nimmt aber sogar einen Job in der verhassten Fabrik an, weil mittlerweile der Plan zum Attentat auf Hitler in ihm gereift ist. So fertigt Elser eine Zeitbombe an, versteckt sie in mühsamer, nächtlicher Arbeit im Münchner Bürgerbräukeller und kann die Weltgeschichte doch nicht ändern, weil Hitler am 8. November 1939 ganze 13 Minuten zu früh die Veranstaltung verlässt. Georg Elser wird auf der Flucht verhaftet und landet bei der Gestapo.

Klaus Maria Brandauer würdigte Elser bereits 1989 mit der Hauptrolle in seinem Regiedebüt „Georg Elser – Einer aus Deutschland". Nun nimmt sich Oliver Hirschbiegel Georg Elser vor, der TV-Regisseur, der sich mit dem unsäglichen „Der Untergang" als GröHiVer (Größter Hitler Verhunzer) schuldig gemacht hat. „Elser" ist jedoch vor allem ein Film des erfahrenen Ko-Autors Fred Breinersdorf, von dem auch „Sophie Scholl - Die letzten Tage" aus 2005 stammte. (Dessen Regisseur Marc Rothemund verschwand damals wieder in der Belanglosigkeit flacher Beziehungskomödien.) Nun also noch so eine Geschichte vom deutschen Widerstand, der faktisch seltener auftrat als er auf der Leinwand zu sehen ist. Georg Elser wird in den interessanteren Strecken der, exakt wie „Sophie Scholl", aus der Haft rückerinnernden Erzählung, als kluger Freigeist geschildert. Dass jemand ganz alleine denkt und handelt, können die üblichen Nazi-Schergen nicht verstehen, was zu intensiver Folter führt. Als „Sophie Scholl 2" könnte man dieses Stück Gutdeutschentum bezeichnen. Eine obligatorische deutsche Vergangenheits-Ausleuchtung, die in dieser Form mehr lästige Bewältigung als dringend notwendige Vermittlung darstellt.

Elser nennt zu Beginn seinen Namen nur unter Folter. Das versteht man nicht und schreibt die grausamen Szenen einer zu heftigen Dramaturgie zu. Der Quadratschädel von der Schwäbischen Alb ist in den Händen vom Chef des Reichskriminalamts Arthur Nebe (Burghart Klaußner) und Gestapo-Leiter Heinrich Müller (Johann von Bülow), die Good Nazi und Bad Nazi spielen. Das ist bis zur Hinrichtung von Nebe selbst, der zum Kreis der Attentäter vom 20. Juli 1944 gerechnet wurde, ein uninteressantes Stück Glorifizierung von Widerborstigkeit in aussichtsloser Situation. Die Rückblenden in die Zeit des Machtwechsels, aufgefrischt mit einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte zur verheirateten und geschlagenen Elsa (Katharina Schüttler), machen es allerdings mit vielen klugen Beobachtungen vorstellbarer, wie der Nationalsozialismus seine breite Unterstützung in der Bevölkerung fand. So half auch der technische Fortschritt in Form des Films, selbst das kleinste Dorf zu nazifizieren. Zum Entnazifizieren taugt „Elser", dieser nur stellenweise gelungene und oft langweilende Film, nicht besonders, zum Aufmerksammachen allerdings schon.

Der kleine Tod - Eine Komödie über Sex

Australien, Großbritannien 2014 (The little death) Regie: Josh Lawson mit Josh Lawson, Bojana Novakovic, Damon Herriman, Kate Mulvany, Kate Box 96 Min. FSK: ab 12

Ja, das Sexuelle kann komisch und höchst dramatisch verlaufen. Diese australische Komödie packt gleich alles zusammen, fügt eine ganze Menge speziellen Fetisch sowie reichlich Paarberatung hinzu und kombiniert alles wunderbar zu einem herrlichen, oft schwarzhumorigen Spaß!

Da fühlt er sich ganz schön schmutzig, der liebe Ehemann, der liebend gern an den Zehen seiner Frau leckt. Als die ihm aber von ihrem geheimsten sexuellen Wunsch erzählt, bemüht er sich vor allem kläglich und landet letztlich mit Schädelbruch im Krankenhaus. Ein Happy End! Es sind diese immer wieder originellen Ideen und Wendungen, die „The little death" so vergnüglich machen.

Regisseur Josh Lawson, der auch das Buch verfasste, überschreibt die einzelnen Kapitel über eine Handvoll Paare mit lateinischen Fetisch-Fachbegriffen wie „sexuellen Masochismus" oder „Dacryphilie", was sexuelle Erregung durch Beobachtung einer weinenden Person bedeutet. Ja, ja, sie bekam immer einen Orgasmus mit ihm. Aber wenn sie mal wirklich einen bekäme, würde das mit der Schwangerschaft vielleicht besser klappen. Als nun sein Vater stirbt, bringt der weinende Ehemann die Frau tatsächlich zum Höhepunkt. Sodass sie nun mit allen unmöglichen Tricks probiert, ihn unglücklich zu machen! Wahre Liebe geht in diesem Film oft seltsame Wege. Und das Sexuelle ist in ihm wie im wahren Leben nicht nur nett und kuschelig. So klingelt ein älterer Mann bei allen anderen Figuren des Films und schenkt ihnen einen Lebkuchenmann, den sie begeistert als etwas aus ihrer Kindheit erkennen. So begeistert, dass sie überhören, dass der Mann ein verurteilter Sexualtäter ist, der verpflichtet ist, dies den Nachbarn mitzuteilen. Aber „Der kleine Tod" ist nicht nur ein paar Mal umwerfend komisch, er bleibt auch so nett, das Bedrohliche in viel schwarzen Humor einzupacken.

Cake

USA 2014 Regie: Daniel Barnz mit Jennifer Aniston, Adriana Barraza, Anna Kendrick, Sam Worthington 102 Min. FSK: ab 12

Jennifer Aniston probiert seit Jahren verzweifelt, eine Rolle zu finden, mit der sie gut aussieht und Erfolg hat. Bislang vergebens, da halfen auch ungewöhnliche Formeln und Independent Filmemacher nicht. Beim düsteren Drama „Cake" sorgen chronische Schmerzen bei ihrer Figur Claire dafür, dass sie nie lächelt und ekelhaft herummotzen kann. Claire sieht nach einem Unfall mit - dezenten - Narben im Gesicht und am Bein sehr fertig aus, ist vor allem innerlich „fucked up", wie sich sogar dieser us-amerikanische Film traut zu sagen. Sie brüskiert Therapeuten bis zum Rauswurf auf Heftigste, betrügt ihre Ärzte und fährt nach Mexiko, um noch mehr Schmerzmittel zu bekommen. Ihr Mann ist weg, allein die mexikanische Haushälterin Silvana (Adriana Barraza) hält es noch bei ihr aus.

Nur eines interessiert Claire, außer oberflächlichem Sex mit dem Nachbarn, noch: Eine Frau aus der Selbsthilfe-Gruppe, die sich umbrachte. Nina Collins (Anna Kendrick) erscheint ihr bald in den Träumen, und mühsam - wegen der Schmerzen im Rücken - macht sich Claire an Ninas Witwer Roy (Sam Worthington) ran. Kein Angst, dies wird nicht zu einem dieser Kitsch-Filme, in denen der Verstorbene für seinen Partner einen neue Liebe aussucht. Dazu ist Ninas Geist (= „Ghost") viel zu biestig und Claire zu kratzbürstig traumatisiert. Vor allem geht es um etwas anderes als um das ewige Ziel eines romantischen Happy End. Um etwas viel Schwierigeres, nämlich Frieden mit sich selbst zu finden.

Jennifer Aniston kann wirklich nichts dafür, aber sie versaut es diesmal auch nicht - „Cake" ist ein sehr interessanter Film. Aniston gibt als grummeliger Menschenfeind eine Art weiblichen Bill Murray. Nun ja, erinnert entfernt an ihn. Die Nebenrollen sind ebenso in Ordnung, Adriana Barrazas Silvana erhält wenig Lohn aber zur Belohnung einen großen Auftritt. Vor allem aber setzt Regisseur Daniel Barn, der schon mit „Um Klassen besser" gefiel, die ernsthafte Geschichte (Buch: Patrick Tobin) ohne übertriebene Sentimentalitäten gekonnt um.

1.4.15

Fast Furious 7

Japan, USA 2015 (Fast & Furious 7) Regie: James Wan mit Vin Diesel, Paul Walker, Dwayne Johnson, Michelle Rodriguez, Jason Statham, Kurt Russell 137 Min. FSK: ab 12

„Diesmal geht es nicht nur darum, schnell zu sein." Das klingt wie eine Drohung für dieses Auslaufmodell der Kino-Action, also dem Ottomotor der Unterhaltungslandschaft. Die Macher der Raser-Geschichten haben sich für die 7. Runde mit den Oldtimern Vin Diesel und Paul Walker wenigstens was Neues einfallen lassen, aber das eher schwach zusammenmontiert. Die Handlung erzählt von jemandem, dem ein früherer Teil des FF-Franchise nicht gefallen hat. Gut, da gibt es viele. Doch Deckard Shaw („Transporter" Jason Statham) nimmt es echt persönlich, dass sein kleiner Bruder unter die FF-Räder kam. Ein paar Explosionen heizen die Rachegeschichte an und da das für zwei Stunden lautem Film nicht reicht, schleppt Kurt Russell noch eine typische Agenten-Geschichte mit Weltreise an.
Dass Michelle Rodriguez jemande mit Trauma wegen Gedächtnis-Verlust spielt, irritiert nur kurz. Weiterhin wird hier mit Maschinen und Motoren Film gemacht, nicht mit Menschen oder Gesichtern. Es dauert zwar fast eine Stunde, bis die erste Verfolgungsjagd warmläuft, doch dann hebt der völlig unsinnige und unglaubwürdige Blödsinn völlig ab. Die Emirate sind Kulisse für einen doppelten Flug-Sprung von einem Hochhausturm zum nächsten. Stark, bescheuert. Aber wenigstens Action, denn wenn diese schauspielerischen Anabolika-Bomben reden, wird es ganz schlimm. Denn dialogtechnisch besteht „Fast Furious 7" aus Adrenalin-Geschwafel und lächerlichen Drohgebärden. Bis zum Frontal-Zusammenstoß, den dieser Film hauptsächlich abbildet. Das Team aus Alpha-Tier, Misses Alpha, Hacker, Ex-Bulle und Scherzkeks fährt noch einmal Paul Walker auf, der ja ausgerechnet mit dem Auto tödlich verunglückte.