28.12.15

Unter Freunden (2015)

Frankreich 2015 (Entre amis) Regie: Olivier Baroux mit Daniel Auteuil, Gérard Jugnot, François Berléand, Zabou Breitman 91 Min. FSK: ab 12

Drei alte Greise und ihre aktuellen Partnerinnen bilden den albernen Haufen, der vom Angeber Richard (Daniel Auteuil) angeführt, mit einer Luxus-Jacht nach Korsika schippert. Mit an Bord: übertrieben gute Laune, Anzüglichkeiten, Wahrheits-Spielchen, die bald die Fassade fallen lassen. Unweigerlich folgt die Katastrophe des Unwetters nachdem schon die Toiletten verstopft sind. Nun reden alle Klartext, jahrzehntelange Freundschaften geht über Bord. Und wenn sich der Kritiker anschließt, kaum erholt von dieser cineastischen Seekrankheit, kann er nur Sicherheits-Westen empfehlen: Ganz fest um Augen und Ohren gebunden. Das lahme Boulevard-Stückchen erweist sich als überlange Banalität, die durch überkandidelte Schauspiel- und Kamerabewegungen über und unter Wasser noch mehr bloßgestellt wird.

Kirschblüten und rote Bohnen

Japan, Frankreich, BRD 2015 Regie: Naomi Kawase mit Kirin Kiki, Masatoshi Nagase, Kyara Uchida 109 Min. FSK: ab 0

Erst letzte Woche verzauberte „Unsere kleine Schwester" mit einer atemberaubenden Kirschblüten-Allee und vielen kulinarischen Köstlichkeiten. Nun folgt noch ein japanisches Meisterwerk mit mehr Kirschblüten und einer bewegenden Geschichte um eine besondere Leckerei.

Eine alte, etwas schrullige Frau bewirbt sich beim Imbiss für einen Job. Hier werden Dorayaki verkauft, japanische Pfannkuchen mit einer Füllung aus roter Soße. Kein Job für alte Leute, doch Tokue (Kirin Kiki) macht dem stillen, wortkargen Sentaro (Masatoshi Nagase) hinter der Theke klar, dass die Bohnenpaste namens „An" (so auch der Originaltitel) von ihren Händen in stundenlanger Arbeit hergestellt, seiner industriell gefertigen haushoch überlegen ist. Sentaro wird zum Schüler, staunt darüber, wie Tokue mit den Bohnen spricht, und plötzlich stehen die Kunden Schlange. Dann erfährt Sentaro, dass die neue Mitarbeiterin, die ihm ans Herz gewachsen ist, in einer Lepra-Klinik lebt.

Mit enormer Sorgfalt bereitet Tokue die Bohnenpaste für die beliebten Dorayakis zu: Da wird jede einzelne Bohne vor dem Waschen und Einweichen angeschaut; der Geruch verrät, wenn sie fertig gekocht sind. Die große Wertschätzung der Bohnen, die „extra von den Feldern hergekommen" sind, fiel auch jeder einzelnen Film-Szene anheim. Da ist nicht nur immer wieder der Zauber der Kirschblüten-Allee im Wechsel der Jahreszeiten sehr sehenswert. Das packt, lange bevor sich das bewegende Drama um die Lepra-Kranke zeigt. In einem alten Buch über die furchtbare Ausgrenzung dieser Menschen erklingt das Flehen „Wir wollen auch die Sonne sehen". Genau dieses Gefühl gibt Naomi Kawases Film in seinen Bildern wieder, während er auch Vorurteile und Ängste gegenüber der Lepra in den Gesichtern spiegelt. Kawase, die 2007 in Cannes den Großen Preis der Jury für „Mogari No Mori" erhielt, gelingen wie in ihren vorherigen Filmen („Still the Water" 2014) eindringliche Naturbilder. Zudem ist „An" eine Geschichte von zwei Menschen, die aus verschiedenen Gründen aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Sehr berührend in den traurigen, aber immer mit schönen Bildern und hoffnungsvollen Geschichten.

27.12.15

Sture Böcke

Island 2015 (Hrutar/Rams) Regie: Grímur Hákonarson mit Sigurdur Sigurjónsson, Theodór Júlíusson 93 Min.

Wie bei der enorm wichtigen Wahl zum Schafsbock des Jahres der eine Bruder den anderen mit einem halben Punkt Unterschied schlägt, macht alles klar: Dies ist eine perfekt eingespielte Feindschaft mit wortloser Disharmonie. Gummi (Sigurdur Sigurjónsson) und Kiddi (Theodór Júlíusson) leben in einem abgelegenen isländischen Tal direkt nebeneinander und sprechen seit vierzig Jahren nicht mehr miteinander. Da überbringt halt der Hund die Rechnung für zerschossene Fenster. Doch die komischen Käuze lieben ihre Schafe - tatsächlich, jetzt ganz ohne Spott und hinterhältige Bedeutung. Als eine tödliche Krankheit bei Kiddis Schafen ausbricht, ist das ganze Tal in seiner Existenz, also in seinen Schafen bedroht. Gummi bringt selbst alle seine 164 Tiere um. Ein entsetzliches Bild für die Veterinäre. Der sich der flächendeckenden Keulung
widersetzende Kiddi wird hingegen von der Polizei abtransportiert. Doch als schließlich ein paar letzte Überlebende gerettet werden können, müssen sich die Brüder helfen ... in einem dramatischen Kampf mit den Elementen.

„Sture Böcke" ist nicht nur eine dieser Komödien über schrullige Nordländer oder Kelten. Ohne viele Worte kommt zwar auch dieser nordischen Filme aus, aber sein hohes Maß an Respekt für die Protagonisten verzichtet auch auf billige Scherze. Mit Staunen und wachsendem Interesse nähert man sich diesen Sonderlingen - selbst in einer sonderbaren Gesellschaft - an. Und das Sonderbare wird auch nicht im Stile vieler Wohlfühl-Komödien aufgelöst. Gummi und Kiddi behalten - was bei diesen Namen und ihren Norweger-Pullovern echt schwer ist - die Würde ihrer Eigensinnigkeit. Wofür man dem ruhigen und schönen Film dankbar ist.

Joy - Alles außer gewöhnlich

USA 2015 Regie: David O. Russell mit Jennifer Lawrence, Robert De Niro, Bradley Cooper, Isabella Rossellini, Diane Ladd, Virginia Madsen 124 Min.

Selten mal war dieser dämliche deutsche Zusatz-Titel treffender: „Alles außer gewöhnlich" ist bei dieser, ja: ungewöhnlichen Miss-Erfolgsgeschichte vor allem der frische Stil, mit dem Regisseur und Autor David O. Russell nach „American Hustle" und „Silver Linings" erneut auftrumpft. Mit dabei sind wieder Jennifer Lawrence und Bradley Cooper.

Nur wenige Menschen werden dem Wischmop bisher besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Trotz großer Bemühungen, diesen unansehnlichen Haushaltsartikel mit technischen Neuerungen aufzupeppen. Das Äquivalent dieses fiesen grauen Dingsbums auf den TV-Kanälen ist der HomeShopping-Sender - anrüchig, billig und vor allem schmierig. David O. Russell zeigt jedoch auf packende Weise, wie die von Jennifer „Mockingjay" Lawrence gespielte Joy Mangano nach einer wahren Geschichte mit einem neuen Wischmop zur Queen von QVC wird.

Entgegen Omas Prophezeiungen wurde aus der fantasiereichen Joy keine Erfinderin, sondern eine völlig überforderte alleinerziehende Mutter. Die auch noch den Vater (DeNiro herrlich zerknautscht) von dessen Geliebter zum Kümmern abgeliefert bekommt. Aber im Keller lebt ja schon Joys eigener Ex, dazu oben Mama und Oma. Der Name Joy (dt: Freude) ist ein blanker Hohn angesichts dieser Ansammlung von Blutsaugern im Leben der klaglosen Frau.

In atemberaubendem Erzähltempo mit unterschiedlichen Szenen und Stilen fährt David O. Russell dieses Chaos unglaublich lässig auf: Mama steht unter Dauerberieselung durch TV-Soaps, die Rohre tropfen wieder mal, im lausigen Job gibt es Lohnkürzung, alles bricht zusammen, doch Joy hält stand. Bis sich die Träume in Form der jungen Joy ausgerechnet in der TV-Soap vom Abstellgleis zurückmelden. Die zu neuem Leben erweckte Erfinderin Joy entwickelt einen saugfähigeren Wischmop, den die Hausfrau (wir sind in den 80er Jahren) nicht mehr mit der Hand auswringen muss. Nach zahlreichen Rückschlägen wird der „Miracle Mop" über den gerade emporkommenden Shopping-Sender QVC zum Erfolg.

Dass ein Film über einen Mop zum Erfolg wird, bezweifelt wohl auch die eigene Marketing-Abteilung - trotz Unterstützung durch Mobster DeNiro. Im Trailer hält Jennifer Lawrence öfter ein Gewehr als einen Mop in der Hand, was den Film auf den Kopf stellt. Dabei ist das ganze Figuren-Arsenal vor allem in der ersten Hälfte schrill, kantig und toll anzusehen. Jede der verrückten Figuren könnte einen eigenen Film füllen. Es passiert eine Menge, und das nicht mit dem Tempo üblicher Erzählkrücken aus Hollywood.

Damit ist „Joy" nicht einfach ein Frauenfilm um eine Heldin, die enorm viel überwindet. Wie schon bei den Haar-Szenen von „American Hustle" gelingen auch bei dem erneut bemerkenswerten „Joy" ernsthaft großartige Momente mit hoch lächerlichem Inhalt. Was leider nicht durchgehend gilt, denn irgendwann verlieren sich Figuren, die Soap-Ebene von Kommentar und Unbewusstem war auch schon mal besser verzahnt. Doch auch dieser Russell ist immer noch bemerkens- und sehenswert.

Remember

Kanada, BRD 2015 Regie: Atom Egoyan mit Christopher Plummer, Martin Landau, Bruno Ganz, Jürgen Prochnow 95 Min. FSK: ab 12

„Wir dürfen nicht vergessen" - heißt es auch und vor allem zu den grausamen Verbrechen des Holocaust. Doch was, wenn gerade einer, der das KZ von Auschwitz überlebte, wegen seiner Demenz bald alles vergessen wird. Mit schriftlichen Anweisungen gegen das Vergessen zieht Zev Guttman los, um den Mörder seiner Eltern zu finden. Am Ende des ebenso spannenden wie erschütternden Thrillers „Remember" (Erinnere!) von Atom Egoyan steht eine unfassbare Entdeckung, eine bittere und geniale Pointe.

Schon vergisst Zev Guttman (Christopher Plummer) bei jedem Nickerchen, dass sein Frau Ruth vor zwei Wochen gestorben ist. Doch Max Zucker (Martin Landau), sein Freund im Altersheim, erinnert ihn. Auch an einen gemeinsamen Plan: So lange es noch geht, soll Zev den ehemaligen Auschwitz-Blockführer Otto Walisch ermorden. Der lebt unter dem Namen eines ermordeten Juden als Rudy Kurlander auch in Nord-Amerika. Nur es gibt sechs Rudy Kurlander...

Die Flucht Zevs aus dem Alten- und Pflegeheim nach dem schriftlichen Anweisungen seines Freundes Max und begleitet von dessen Buchungen und Arrangements, geht erst in ein Waffengeschäft zum Kauf einer Pistole. Danach folgen alle denkbaren Schwierigkeiten eines dementen Mannes, der sich wie in „Memento" das Wichtigste auf den Arm schreibt, neben die KZ-Nummer.

Die Schwierigkeit, sich zu erinnern, dieses gesellschaftliche Phänomen alter Nazis, befällt ganz banal neurologisch auch alte Überlebende des Holocaust. Doch Zev findet alle Rudys. Der eine (Bruno Ganz), immer noch offen Antisemit, hat in Afrika unter Rommel gekämpft. Ein anderer (Heinz Lieven), bettlägerig im Krankenhaus, war als Homosexueller selbst Gefangener. Der nächste ist schon tot, doch sein Sohn setzt als faschistoider State Trooper das Erbe fort - samt Schäferhündin namens Eva! Bis nur noch einer übrig bleibt. Doch dessen Geständnis fällt anders aus als erwartet...

Atom Egoyan beschäftigte sich seit seinen ersten Filmen („Family Viewing") in den 80er-Jahren mit Erinnerung. Vor allem an den türkischen Völkermord an den Armeniern, der Aghet („Katastrophe"), die Egoyans Vorfahren traf. Wie im genialen flämischen Demenz-Thriller „De zaak Alzheimer" mit Jan Decleir ist das Vergessen ein individuelles und ein gesellschaftliches Symptom. Bis hin zu den Enkeln der Täter, die in den USA - in „Remember" gar nichts mehr wissen. Mit großem filmischem Vermögen schickt Egoyan hier Zev auf eine Odyssee, deren Ziel er immer wieder vergisst. Mit Thriller-Musik geht es ins Waffengeschäft, die Irritationen der verwirrten Mannes vermitteln geschickt dissonante Klänge. Doch dann wieder versteckt Max sehr raffiniert seine Pistole an der Grenze zu Kanada.

Es ist ein ungewöhnlicher Ansatz, mit Holocaust, mit dem Erinnern und der Rache umzugehen. Aber nie arbeitet Egoyan spekulativ, nie nutzt er die Grauen der Geschichte für seine Handlung aus. Selbst nicht in einer Tarantino-ähnlichen Episode. Im Gegenteil, diese packende und traurige Geschichte brennt die Erinnerung durch eine neue Perspektive noch einmal ein. Ein grandioser Thriller - auch unabhängig vom Thema, doch nur mit ihm funktionierend.

Die Vorsehung

USA 2015 (Solace) Regie: Afonso Poyart mit Anthony Hopkins, Jeffrey Dean Morgan, Colin Farrell 101 Min.

Besser als „Das Schweigen der Lämmer", zumindest von der Geschichte her, ist dieser vorausschauende Anthony Hopkins-Thriller um das Duell zweier Hellseher. Ein sehr raffinierter Plot und eine schwieriges moralisches Dilemma geben der fesselnden Geschichte Substanz.

Ein Serienkiller ist zu clever für das FBI. Wenn fragt man dann? Klar: Anthony Hopkins. Diesmal spielt er allerdings nicht den Psychopathen Hannibal Lector, sondern auf der vermeintlich guten Seite den ehemaligen Profiler John Clancy. Der seit dem Krebs-Tod seiner Tochter total zurückgezogen lebt. Deshalb muss der jüngere Ex-Kollege und Freund Jeffrey Joe Merriweather (Dean Morgan) einige Überzeugungsarbeit leisten, aber es ist vor allem die neue FBI-Agentin Katherine Cowles (Abbie Cornish), die Clancy zurückholt. Wir wissen dank ein paar Schock-Sekunden, dass der hellsichtige Clancy bereits das Ende von Katherine erlebt hat. Aber auch, nach einer Vorfolgungsjagd mit „vorausschauender" Fahrweise, dass nicht alles so eintreffen muss, wie Clancy es vorhersieht...

Klarer Fall ... wenn nicht der wahnsinnige Killer, der mit dem FBI und Clancy spielt, immer ein paar Schritte voraus wäre. Er (Colin Farrell) ist tatsächlich auch ein Hellseher und ermordet nur Todkranke, um ihnen das Leid der Krankheit zu ersparen. Eine Situation, die Clancy nur zu gut versteht, war doch der quälende Tod der Tochter kaum erträglich.

Lange wirkt es, als hätte sich Hopkins als einsamer Star unter Namenlose verirrt. Doch die Geschichte der „Vorsehung" ist unfassbar gut und raffiniert. Der Thriller schockt zeitweise im Stil von „Seven", aber auch damit, dass Dr. Clancy sieht, wie Menschen, die ihn berühren, sterben werden. Hopkins selbst läuft zu Höchstform auf, wenn Clancy die Persönlichkeit der ungläubigen Agentin in ein paar Sätzen brutal entblößt. Das (Wort-) Duell beider Mentalisten mit einem ratlosen Opfer zwischen sich, ist Screwball auf des Messers Schneide. Kamera und Montage wirken zeitweise ziellos, haben dann aber auch große, wilde Momente, die sich und Clancy in die Tat-Situation versetzen. Das ist mit grandiosem Buch und genialer Story besser als „Das Schweigen der Lämmer", aber leider nicht so gut inszeniert.

20.12.15

Die Melodie des Meeres

Irland, Dänemark, Belgien, Luxemburg, Frankreich 2014 (Song of the sea) Regie: Tomm Moore 93 Min. FSK ab 0

Ein wunderbares Geschenk: „Die Melodie des Meeres" - dieser ungewöhnliche und absolut herausragende Zeichentrick wurde zu Recht von der Fachzeitschrift Variety als „einer der schönsten Animationsfilme aller Zeiten" bezeichnet und erhielt den Europäischen Filmpreis 2015 als Bester Animationsfilm. Eine magische Geschichte, die mit keltischen Motiven auch in der Zeichnung überzeugend gegen den glatten 3D-Trend auftritt.

Eine gewaltige Klippe ragt ins stürmische Meer der irischen Küste. Oben trotzt der Leuchtturm den Elementen, mächtig und stark wie sein Wärter. Doch der Tod seiner Frau hat ihn innerlich gefällt, auch wenn sich der Witwer das nicht vor seinen beiden Kindern anmerken lassen will. Streng ist er und verschlossen, wie auch der zehnjährige Ben. Der Kleine erlebte wie seine Mutter bei der Geburt der Schwester Saoirse starb. Das macht ihn nicht zum Freund des Mädchens, das nicht spricht und auch sonst recht seltsam ist. Immer wieder läuft sie ins Meer, neugierig von Seehunden beäugt. Bis es zu viel wird und die Kinder zur Oma in die Stadt müssen. Da Saoirse hier auf unheimliche Weise dahinschwindet, macht Ben sich mit ihr auf den Rückweg. Die verzauberte Odyssee führt sie zu keltischen Barden und wird begleitet von Angst einflössenden Eulen. Nur der plötzliche erklingende Gesang von Saoirse kann sie retten, aber sie wird immer schwächer...

Die fantastische Geschichte nach dem Drehbuch von William Collins wird auch noch von einer sehr menschlichen Hexe und der irischen Variante der kleinen Meerjungfrau erzählen. Reich ist die zauberhafte und kunstvolle „Melodie des Meeres" aber auch in ihren mal ornamentalen, mal ziselierten Zeichnungen: Die gewaltige Klippe vor dem Leuchtturm könnte ein Kreisbogen sein. Oder vielleicht der Kopf eines Riesen, der aus Meer ragt? Tomm Moores Animation ist wie schon bei seinem Debüt „Das Geheimnis von Kells" einerseits betont flächig, dabei aber ungemein detailreich. Wie in den Elementen der Handlung ist der keltische Einfluss nicht zu übersehen. Und mehr als nur Dekoration, wie es in einem Disney-Film wäre. Selbstverständlich zeigt - bei einem Film aus dem Land der Barden - die Filmmusik von Bruno Coulais & Kila besondere Qualitäten und die Lieder gehen wie die Geschichte und Bilder direkt zu Herzen. Dazu hat der Titelsong im irischen Original Hitqualitäten. Der Film hat noch viel mehr, ein ganz breiter Erfolg ist ihm und seinen sicher beglückten Zuschauern deshalb zu wünschen.

Mr. Holmes

Großbritannien, Frankreich, USA 2015 Regie: Bill Condon mit Ian McKellen, Laura Linney, Milo Parker, Hiroyuki Sanada 104 Min. FSK ab 0

Welch eine Tragik: Der Meisterdetektiv Sherlock Holmes, der sich an jedes Detail in seinen Fällen erinnern konnte, dem keine Kleinigkeit entging, er erinnert sich nicht mehr. Regisseur Bill Condon („Breaking Dawn - Biss zum Ende der Nacht", „Chicago", „Gods and Monsters") gelingt mit Sir Ian McKellen als altem „Mr. Holmes" erneut ein Meisterwerk.

Der 93-jährige Sherlock Holmes (Ian McKellen) verbringt seinen Lebensabend zurückgezogen auf seinem Landsitz in Sussex, im Exil. Dies als Strafe, wofür weiß er nicht mehr. Denn Holmes ist nicht nur gebrechlich, sondern auch dement. Nur Roger (Milo Parker), der aufgeweckte und neugierige Sohn der Haushälterin Mrs. Munro (Laura Linney) inspiriert ihn noch, seinen letzten Fall zu lösen und seine erste Geschichte selbst zu schreiben. Vom Fall, der ihn vor 30 Jahren dazu brachte, sich aus dem Detektivgeschäft zurückzuziehen. Es ging um eine schöne Frau und Japan spielte eine Rolle. Dabei führt die Spur - wie bei allen guten Detektivgeschichten - zu ihm selbst zurück: Holmes, der doch nur eine Figur aus billigen Groschenromanen war, wie er selbst kommentiert, entdeckt die Tragik seines eigenen Lebens die Diktatur der reinen Logik, an der Menschen zugrunde gingen.

Wie erwartet, begeistert Regisseur Bill Condon („Gods and Monsters") in der raffinierten Verfilmung des Romans „A Slight Trick of the Mind" von Mitch Cullin mit dem Charakter- und Gandalf-Darsteller Sir Ian McKellen als Mr. Holmes. Schon vor 17 Jahren arbeiteten sie zusammen in dem großen humanistischen Meisterwerk „Gods and Monsters" über James Whale, den Regisseur des großen humanistischen Meisterwerks „Frankenstein". So wie damals der schwule Regisseur mit dem verfolgten Monster verschmolz, verbinden sich nun die Facetten des brillanten Analytikers mit denen des hilflosen alten Mannes, die des Autors mit seiner Figur, die er selbst nie war.

Die Erinnerungslücken füllt der Film mit spannend assoziativen Bildern. Überhaupt begeistert neben dem brillanten Schauspiel von McKellen und auch des jungen Milo Parker, neben der wunderbaren Kamera-Arbeit von Tobias A. Schliessler die Verknüpfung unterschiedlicher Erzählebenen. In Anfällen von Ohnmacht, in spontan aufblitzenden Erinnerungen wirkt diese ungemein kunstvolle Montage (Schnitt: Virginia Katz) selbstverständlich harmonisch. Das ist klassischer Hollywood-Stil in edelster Form mit einer spannenden und einerberührenden Geschichte über die Einsamkeit eines Menschen, der einst der berühmte Detektiv Sherlock Holmes war. So ist „Mr. Holmes" immer auch großes Gefühlskino, vor allem in der Freundschaft zwischen altem Mann und Jungen, in der von Laura Linney verkörperten Mutterliebe. Ein bewegendes, exzellentes Werk über Demenz, über Trauer und Abschied.

Die Peanuts - Der Film

USA 2015 (Peanuts) Regie: Steve Martino 89 Min. FSK ab 0

Die Infantilisierung oder Verkindlichung der Peanuts hört sich albern an, denn die Peanuts-Figuren um Charlie Brown sind schließlich Kinder und kein Erwachsener taucht bei ihnen auf. Die Reduktion auf einen Kleinkinder-Film ist trotzdem umso ärgerlicher. Denn die kleinen, seit Jahrzehnten erfolgreichen Comic-Geschichtchen von Charles M. Schulz (1922-2000) stehen ja nicht auf den Kinderseiten der Zeitungen. Sie enthalten oft durchaus alterweise Lebensbetrachtungen und freundliche Zuspitzungen menschlicher Verhaltensweisen.

In der mittlerweile sechsten Kino-Verfilmung der Zeichnungs-Miniaturen muss also wieder der Spagat zur Abend- beziehungsweise Nachmittags-füllenden Spielfilmlänge geleistet werden. Pechvogel Charlie Brown, der sympathische Star des Scheiterns, verliebt sich in einer Episode in das Mädchen mit roten Haaren. Das reicht selbstverständlich auch noch lange nicht, verzweifelt wird zudem die Leinwand mit großen Szenen us-amerikanischem Zeitvertreibs vollgestopft. Nur die surrealen Einlagen von Snoopy mit seinen Flieger-Eskapaden erheben sich dabei etwas vom Teletubbie-Niveau dieses völlig unnötigen und seinen Ursprung verratenden Filmchens.

Das erstmalig bei den Peanuts eingesetzte 3D-Verfahren sorgt zusammen mit der Computer-Animation für Baby-gerecht niedliche Figuren, ein totaler ästhetischer Missgriff. Da hätte man den ausdrücklichen Wunsch des Schöpfers Schulz, nach seinem Tod keine neuen Peanuts-Comics mehr zu veröffentlichen, auch auf die Filme erweitern sollen. Doch leider hat man sich nicht dran gehalten.

13.12.15

Unsere kleine Schwester

Japan 2015 (Umimachi Diary) Regie: Hirokazu Kore-eda mit Haruka Ayase, Masami Nagasawa, Kaho, Suzu Hirose 127 Min. FSK: ab 0

Schon dieses alte japanische Haus in Kamakura, einer Küstenstadt bei Tokio, ist ein Traum mit kleinem Garten und Pflaumenbaum, mit geflickten Pergament-Schiebetüren. Dort leben die Schwestern Sachi, Yoshino und Chika alleine, nachdem vor 15 Jahren der Vater die Familie für eine andere verlassen hat und dann auch noch die Mutter abhaute. Nun erfahren die jungen Frauen vom Tod des Vaters und erstmals von der jüngeren Stiefschwester Suzu (Suzu Hirose). Spontan bietet Sachi (Haruka Ayase) der 14-jährigen Waisen an, bei ihnen einzuziehen, was Suzu erst zögerlich, dann strahlend und dann herrlich aufblühend annimmt.

Schon in seinem ersten internationalen Erfolg „Nobody knows" ließ Regisseur Hirokazu Kore-eda 2004 eine Gruppe von Kindern selbständig ohne Erwachsene zusammen leben. Was damals dramatisch, rührend und erschreckend war. Nun ist es, wenn auch ganz leise dramatisch, pures Glück, diese kleine Gemeinschaft mitzuerleben. Das Zusammenleben ist nicht idyllisch - sie streiten sich auch gerne mal, aber wenn es drauf ankommt, halten sie zusammen. Wie bei der Riesen-Spinne in der umkämpften Dusche.

Dabei entdeckt man viele Verbindungen der anscheinend so unterschiedlichen, aber allesamt fröhlichen Schwestern, die sich dann doch in kleinen Details immer wieder sehr ähnlich sind. Da ist das Helfersyndrom bei Sachi, der Krankenschwester auf einer Palliativ-Station, und bei Suzu, die bis zuletzt für den sterbenden Vater sorgte. Und die gleichen kulinarischen Vorlieben, vor allem bei einem Film, in dem andauernd gegessen wird. Im Zyklus der Jahreszeiten wird die leichtlebige Yoshino erwachsen und Sachi, die wegen der Verantwortung für ihre Schwestern genau wie Suzu zu wenig Kindheit hatte, söhnt sich mit der verantwortungslosen Mutter aus.

Die faszinierend undramatische Folge von wunderbaren Szenen, jeweils abgeschlossen durch eine kleine Piano-Melodie (Musik: Yoko Kanno), basiert auf dem preisgekrönten Manga „Umimachi Diary" von Akimi Yoshida und dem Geiste vieler wunderschöner Familien-Filme von Altmeister Ozu Yasujirō (1903-1963). Hirokazu Kore-eda erinnert nicht nur mit Details wie den Aufnahmen in Knie-Höhe der traditionellen japanischen Sitzhaltung an sein Vorbild, er schreibt sogar seine Bücher in der Lieblings-Bar von Ozu!

Das Ergebnis ist der Glücks-Fall eines Wohlfühlfilms, der sein Wohlfühlen von Anfang an verströmt. Eine grandiose junge Darstellerin, Suzu Hirose, in der Rolle des aufgeweckten Mädchens, ein unfassbarer Kirschblüten-Tunnel, Generationen von Pflaumenwein unter dem Fußboden, ein Feuerwerk auf dem Meer, die Kimonos zum Volksfest, die Weisheit des sanften Blicks auf die Figuren und vor allem immer wieder herzerweichende Freundlichkeit und Güte zwischen den Menschen beglücken durchgehend. Dazu korreliert die typisch japanische Obacht im Leben mit der Sorgfalt einer meisterhaften Inszenierung. „Woran werde ich mich am Ende noch erinnern", fragt der Film über Abschiede und Neuanfänge. Erinnerung an Schönheit, selbst noch in der Trauer, lautet eine Antwort. Im Film und durch den Film.

Hilfe, ich hab meine Lehrerin geschrumpft

BRD, Österreich 2015 Regie: Sven Unterwaldt jr. mit Oskar Keymer, Anja Kling, Lina Hüesker, Axel Stein 101 Min. FSK: ab 0

Eine Schule, in der Wissen erfahren wird und nicht in die Schüler reingestopft. Wäre schön, aber ein mäßig witziges Pauker-Filmchen mit Gags und Tricks von vorgestern kann dafür wirklich keine Werbung machen: Felix' Schulleiterin Dr. Schmitt-Gössenwein (Anja Kling) ist streng, ungerecht, unausstehlich - und plötzlich nur noch so groß wie eine Ratte. Blöd für Felix (Oskar Keymer), der gerade auf dieser Schule seine letzte Chance bekommt. Jetzt muss er mit der geschrumpften Pädagogin zusammenarbeiten, um auch noch die Schule vor einem rücksichtslosen Investor zu retten.

Grobe Pauker-Karikaturen, eine angestaubte Schule mit Otto Walkes als Hausgeist und die üblichen Schüler-Schikanen, angereichert mit Uralt-Tricktechnik aus den USA. „Hilfe, da schrumpft wieder ein Film irgendwas" wäre der bessere Titel für diese einfallslose, mehr als schwach gespielte und einfach nur langweilige Kinderkomödie. Vor allem die TV-Dauereinblendung Anja Kling fällt durch sehr unangenehmes Über-Chargieren in großer und kleiner Form auf. Doch das unnötig verdrehte und dadurch zu lange Buch gibt ihr auch erst nach fast einer Stunde etwas Menschlichkeit. Wenn dann das Finale im Keller der Schule für wenige Minuten ganz fern an Willy Wonka und sein Schokoladenfabrik erinnert, fragt man sich noch wehmütiger, weshalb solche uninspirierten Kindernerv-Töter überhaupt entstehen müssen.

12.12.15

Die Kinder des Fechters

Finnland, Estland, BRD 2015 (Miekkailija) Regie: Klaus Härö mit Märt Avandi, Ursula Ratasepp, Lembit Ulfsak, Liisa Koppel 94 Min. FSK: ab 0

Es ist das Jahr 1953, die Erschütterungen des Weltkriegs sind weiterhin spürbar, Stalin ist noch nicht tot: Der junge Fechter Endel (Märt Avandi) meldet sich als Sportlehrer in einem kleinen, sowjetisch besetzten Küstenstädtchen in Estland. Das sei hier nicht Leningrad betont der Direktor, was denn so ein Studierter hier wolle. Verstecken will Endel sich, sagt er nicht. Aber die deutsche Wehrmacht hatte ihn unter Zwang eingezogen und in der Sowjetunion reichten harmlosere Dinge, um für immer in sibirischen Straflagern zu verschwinden.

Nun versucht Endel an einer heruntergekommenen Schule die Reste einer umfassenderen musischen und sportlichen Schulausbildung aufleben zu lassen. Die mühsam hergerichteten Ski werden allerdings vom Militär geklaut. Obwohl es als „bourgeoiser Zeitvertreib" nicht gern gesehen wird, erfreut sich dann der Fechtunterricht großer Begeisterung. Zuerst mit Weidenruten und dann dank Endels alter Freunde in Leningrad mit richtigen Masken und Floretts. Die Kinder, die meist keine Väter mehr haben, gewinnen Selbstvertrauen und Vertrauen in Endel. Bis seine Klasse zu einem Wettkampf nach Leningrad will, wo Stalins Geheimpolizei nach ihm sucht. Und auch der kleine, opportunistische Sekretär, der dem Diktator nachahmt, schnüffelt in alten Akten...

Fechten ist hier nicht nur Hoffnung, es ist auch Ästhetik und Metapher: Ein gutes Gefühl für den richtigen Abstand sei überlebenswichtig, meint Endel. Größeren Abstand von den Geheimdiensten wäre ratsam, doch gemäß des Clubs der toten Fechter stellt er sich im (Sport-) Finale gegen die Häscher.

Das alles ist samt Liebesgeschichte wenig überraschend, aber mit starkem Hauptdarsteller und guter historischer Inszenierung vermitteln „Die Kinder des Fechters" den Staat der Angst unter Stalin. Die Synchronisation übersetzt sinnvollerweise die fremde Sprache der sowjetischen Besatzer nur in Untertiteln. Erfrischend ist dann auch der Blick mal in eine andere Ecke der Welt und hoffnungsvoll, dass auch der fürchterlichste Goliath und Diktator irgendwann am Ende ist, spätestens am Lebensende.

Madame Bovary (2014)

USA, BRD, Belgien 2014 Regie: Sophie Barthes mit Mia Wasikowska, Henry Lloyd-Hughes, Ezra Miller, Paul Giamatti, Rhys Ifans 119 Min. FSK: ab 6

Etwas muss der Gesellschafts-Roman „Madame Bovary" von Gustave Flaubert von 1856 ja haben, dass er alle Jahre mal wieder verfilmt wird. Nach der anämischen Isabelle Huppert in Claude Chabrols Variante von 1991 stürzt sich die zu allem fähige Mia Wasikowska (klasse im Horror „Crimson", in Cronenbergs „Maps to the Stars" oder in Jarmuschs „Only Lovers Left Alive") in die Zwänge eines Ehefrauen-Lebens des 19. Jahrhunderts. Die fröhliche Emma wird aus dem Kloster an den Landarzt Bovary (Henry Lloyd-Hughes) verheiratet und ist umgehend frustriert. An ihrem langweiligen und ambitionslosen Mann, an der gesellschaftlichen Öde des Dorfes, der Beschränktheit der Menschen. Ablenkung bringen Luxus und Affären, doch der Niedergang an Schulden und schlechtem Ruf folgt zwangsläufig.

„Madame Bovary" ist kein Drama der Freiheitsberaubung. Dazu ist Emma Bovary zu offen für die neue Lebenssituation, in die sie geworfen wird. Die Bovary war außerdem nie die einfache Identifikations-Figur, sie lässt sich zu schnell verführen, von den Männern, vom Konsum an Kleidern und Ausstattung. Egozentrisch, unsensibel und nicht besonders weise. Aber auch ihre Verzweiflung am Dorfleben ist nachvollziehbar und ergibt die Ambivalenz, die Flauberts Roman in immer neuen Verfilmungen lebendig hält. Vor allem die Schauspielkunst von Mia Wasikowska bringt diese Figur in vielen Facetten nahe.

Mit großen Auslassungen - etwa die Geburt der Tochter - und ein paar starken Szenen vertraut Regisseurin und Ko-Autorin Sophie Barthes weitgehend dem Stoff und ihren Darstellern. Vor allem Rhys Ifans als verführerischer Ausstattungs-Dealer Lheureux fällt noch auf. Die Ausstattung hingegen versucht nicht, Eindruck zu schinden. Sie will „echt" wirken, was auch größtenteils gelingt. Das ist in der Kombination Wasikowska / Flaubert immer noch wirkungsvoll, aber etwas Neues bringt es nicht.

Carol

USA, Großbritannien, Frankreich 2015 Regie: Todd Haynes mit Cate Blanchett, Rooney Mara, Sarah Paulson, Kyle Chandler 119 Min. FSK: ab 6

Liebe hinter Glas

Der große Favorit für die Golden Globes ist mit fünf Nominierungen „Carol" von Todd Haynes („I'm Not There", „Dem Himmel so fern"). Cate Blanchett und die großartig wandlungsfähige, schon in Cannes hierfür ausgezeichnete Rooney Mara sind selbstverständlich für ihre Hauptrollen nominiert. Dazu Bester Film, Beste Regie und Beste Musik. „Carol" ist schon vom Format her klassisches Hollywood, „wie man es heute nicht mehr macht". Allerdings mit einer großen, ergreifenden Liebesgeschichte, die Hollywood damals nie gemacht hätte

Es ist 1952, Eisenhower wird bald vereidigt, Senator Joseph McCarthy verängstigt die US-Gesellschaft mit seiner Kommunisten-Hatz, dabei liegt Josef Stalin in den letzten Zügen und eine Frau darf sich in den USA durchaus von ihrem Mann trennen. Carol (Cate Blanchett) kann nicht nur finanziell für sich sorgen. Die reiche, selbständige und selbstbewusste Frau fällt der stillen, jüngeren Kaufhausverkäuferin Therese Belivet (Rooney Mara) direkt auf. Und vice verca. Die so unterschiedlichen Frauen freunden sich an, aber am ersten gemeinsamen Abend platzt der noch nicht ganz geschiedene Ehemann herein und schnappt sich gegen die Vereinbarungen die gemeinsame Tochter.

Ärgerlich, verletzend, aber fast undramatisch diese Störung. Wie der ganze, wunderbar gestaltete und fotografierte Film. Ein stiller Liebesfilm im elegantesten Stil, den man zur Zeit im Kino finden kann. Die Stimmung schwebend wie bei Wong Kar-Wais „In the mood for love". Dabei sind die Grenzen für das selbstbestimmte Leben einer Frau oder gar einer Liebe zwischen zwei Frauen deutlich zu spüren. Doch eben komplett unausgesprochen, sowie auch filmisch nur angedeutet. Vor allem mit den allgegenwärtigen Glasscheiben, die - verregnet, beschlagen oder verdreckt - sich immer vor die Figuren schieben. Besonders vor das einfache Ladenmädchen - nicht im Sinne Krakauers - Therese, dieses unentschiedene Wesen „von einem anderen Stern", wie Carol bemerkt.

Wie sich Therese durch schmerzhafte Erfahrungen doch zu einer Fotografin wandelt und dafür vielleicht ihre Liebe aufgibt, ist eine der Entwicklungen im wunderschönen Fluss der Bilder. Todd Haynes machte übrigens aus der Bühnenbildnerin der Vorlage von Patricia Highsmiths frühem, noch unter Pseudonym veröffentlichtem Roman „The Price of Salt" eine Fotografin - sinnvoll für diesen großartigen Augenfilm, der seinen leicht vergilbten Farbton mit echtem Super16-Film erzeugte.

Todd Haynes zeigte sich in „Dem Himmel so nah" mit Julianne Moore als Meister des klassischen Melodrams. Nun entschied er sich für eine schwelgerisch ruhige Entwicklung. Filme mit solch stimmiger Sorgfalt und perfektem Stil werden nur noch selten gemacht. Komplexe Kompositionen und Ausleuchtungen sorgen unbewusst für ästhetisches Wohlbehagen. Dabei ist jedes Detail bedeutungsvoll, um das große Drama fein leise zu erzählen. Denn was unaussprechlich erscheint, gilt immerhin als „Unsittliches Verhalten" und reicht aus, um Carol der Psychotherapie zu überschreiben und ihr das Sorgerecht umgehend zu entziehen. Da funktioniert auch der alte amerikanische Traum, die Freiheit bei einem Roadtrip gen Westen zu suchen, nicht mehr. Wobei „Carol" gerade im Stillstand, im Gefängnisses aus unsichtbaren Glas-Wänden, als bewegende Geschichte mit betörenden Bildern und traumhaft stimmigem Soundtrack von Carter Burwell exzellent funktioniert.

8.12.15

Knock Knock (2015)

USA, Chile 2015 Regie: Eli Roth mit Keanu Reeves, Lorenza Izzo, Ana de Armas, Ignacia Allamand 100 Min. FSK: ab 16

Der Flug über das Hollywood-Zeichen und in eine schicke Villa in den Hügeln um Los Angeles ist bei allen penetrant herumhängend Bildern glücklichen Familienlebens schwer von bedrohlicher Musik unterlegt. Und tatsächlich erschreckt, was für ein erbärmliches Thriller-Filmchen Exorzisten- und „Hostel"-Regisseur Eli Roth hier abliefert: Ehemann und Papa Evan (Keanu Reeves), mit einer Armverletzung irgendwie impotenter und sexuell frustrierter Vierziger, ist für ein paar Tage allein zu Haus. Da erwischt ihn ein dreister Überfall zweier sehr knapp bekleideter, völlig durchnässter Frauen mit plumper, dummer Anmache, auf die wohl eher ein geistig schwacher Sechzigjähriger reinfallen würde. So ist die angelegte Spannung, wie lange er den jungen Frauen im Bademantel widerstehen kann, auch eine Ungeduld, wann diese grobe Entwicklung endlich vorankommt. Nach einer sexuellen Eskapade findet er am nächsten Morgen die beiden Monster in einer verwüsteten Küche und ist fortan sadistischen Spielchen der dummen Gören ausgesetzt. Den Tiefpunkt stellt der soziale Tod auf Facebook dar, während das Haus verwüstet und voller aufgemalter Penisse ist.

„Knock Knock" hat in der motivlosen Invasion was von Hanekes „Funny Games", ist aber dabei unendlich banaler. Die Bestrafung eines untreuen Ehemannes für „Eine verhängnisvolle Affäre" erscheint vorgestrig, die Frauen-Figuren wirken hohl, auf ihr chaotisches Treiben kann Keanu Reeves schauspielerisch nicht antworten. Spannung gibt es eher sporadisch, die meiste Zeit beherrscht Kopfschütteln die Szenerie. Genau so sinnloses wie dieses Spiel ist der ganze Film.

Der Perlmuttknopf

Frankreich, Chile, Spanien 2015 (El botón de nácar) Regie: Patricio Guzmán 82 Min.

Der „Silberne Bär" der letzten Berlinale ist schon in der Einordnung ein kaum zu beschreibendes großartiges Meisterwerk: Der angesehene chilenische Regisseur Patricio Guzmán erzählt eine Geschichte, die vom Meeresgrund Patagoniens bis in die Weiten des Universums reicht. Und von den Ureinwohnern der zerklüfteten Insellandschaft, mythisch wirkenden Wasser-Nomaden, bis zu den brutalen Menschenrechts-Verletzungen der Pinochet-Diktatur. Es ist in poetischen Bildern und Texten ein wunderbares Wassergedicht. Eine ethnologische Reise in die Vergangenheit mit alten Fotos und Erinnerungen der wenigen Überlebenden dieses Volkes. Und ein Essay über Zeit, Wissenschaft und das Wesen der Menschen. Das führen Radioteleskope zur Erkenntnis, dass „Fortschritt die Sehnsucht nach etwas ist, was sie schon mal wusste".

In das unbeschreiblich schöne Kaleidoskop der Aufnahmen eines Naturvolkes und seiner Umgebung mit tausenden Inseln, dort wo die Anden ans Meer stoßen, schleichen sich zuerst die Grauen der Ausrottung der Urbevölkerung ein. Damit Siedler aus dem Norden Viehzucht treiben konnten, wurden Jägern Kopfprämien gezahlt. War gerade noch das Knirschen der Gletscher ein markerschütterndes Ereignis, so finden sich im Wasser plötzlich Spuren der von Pinochet Ermordeten, die lebendig aus Flugzeugen geworfen wurden.

„Der Perlmuttknopf" ist der zweite Teil einer Dokumentarfilm-Trilogie über die Geschichte Chiles. Die Meisterschaft von Patricio Guzmán, der im Berlinale-Wettbewerb auch noch den „Preis der ökumenischen Jury" erhielt, zeigt sich in der perfekten Einheit seines Films, der unvergleichlich vielschichtig und gleichzeitig so perfekt geschlossen ist.

Dämonen und Wunder - Dheepan

Frankreich 2015 (Dheepan) Regie: Jacques Audiard mit Jesuthasan Antonythasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby 115 Min. FSK: ab 16

Die Goldene Palme von Cannes 2015. Ein Film von Regisseur Jacques Audiard, der mit den sagenhaften Filmen „Ein Prophet" und „Geschmack von Rost und Knochen" begeisterte. Eine packende, aktuelle Flüchtlingsgeschichte. Es gibt viele Gründe, „Dämonen und Wunder - Dheepan" zu sehen. Dazu noch - im Hintergrund - die unglaubliche Geschichte des Hauptdarstellers Jesuthasan Antonythasan, der selbst tamilischer Widerstandkämpfer und Kindersoldat war, nach Frankreich floh und dort Schriftsteller wurde.

Mit Ausweisen einer verstorbenen Familie steigen ein Mann, eine Frau und eine gerade im tamilischen Flüchtlingslager gefundene neunjährige Waise nachts in Boote. Sie versuchen, dem Bürgerkrieg in Sri Lanka zu entkommen. Direkt danach sieht man ihn, Dheepan (Jesuthasan Antonythasan), aus traumhaften Lichtspielen auftauchend, als Straßen-Verkäufer von Nippes in Paris. Der Übersetzer beim Flüchtlingsamt hilft ihm, das Richtige zu sagen, und so wird Dheepan ohne Französisch zu können, Hausmeister in einer von Kriminellen kontrollierten Sozial-Siedlung.

Jacques Audiards packender Film „Dämonen und Wunder - Dheepan" schafft es, fühlbar zu machen, wie fremd dem Immigranten diese Welt ist. „Wie im Kino" stehen Dheepan und seine Schein-Frau Yalini (Kalieaswari Srinivasan) nachts am Fenster, sehen den Partys und Deals der Drogenhändler zu. Ja, diese heruntergekommene Vorstadt-Siedlung ist ein seltsamer Ort, aber auch hier herrscht Krieg wie in Sri Lanka, diesmal der Kampf der Dealer um das Territorium.

Durch einen Pflege-Job beim kranken Vater des Gangster-Bosses kommt Yalini auf die andere, verführerische Seite der Siedlung und nach einem Überfall durch Konkurrenten wird aus dem intensiven, bewegenden Sozialdrama ein knallharter Thriller.

Nicht nur die ergreifende Geschichte von Dheepan und seiner neuen Familie in der gewagten, aber gelungenen Kombination von Sozialdrama und Thriller, macht „Dämonen und Wunder" so gut. Es sind die immer wieder atemberaubenden Bilder und Szenen von Regisseur Jacques Audiard und seinem Kameramann Époine Momenceau, durchmischt von indischen Klänge und verfremdenden Geräuschen, die etwas Herausragendes gestalten. Dabei überwiegen im Vergleich zu Audiards früheren Filmen die Dämonen, wenn die Seilschaften des Bürgerkrieges auch hier versuchen, Dheepan wieder einzuspannen.

Doch ein kleines Wunder ist zumindest das intensive Schauspiel von Jesuthasan Antonythasan, der mit 16 Jahren den Liberation Tigers of Tamil Eelam (kurz LTTE) beitrat. 1993 migrierte er nach Frankreich, schlug sich mit Gelegenheitsjobs unter anderem als Hausmeister durch, bevor er unter dem Namen Shobasakthi einige seiner Kurzgeschichten, Theaterstücke, politische Essays und Literaturkritiken veröffentlichte.

Mistress America

USA 2015 Regie: Noah Baumbach mit Greta Gerwig, Lola Kirke 85 Min. FSK: ab 6

Noah Baumbach ist so etwas wie der neue Woody Allen - mit etwas weniger Slapstick, aber großem Gefühl für die Lebenswelten der intellektuellen Stadt-Amerikaner seiner Generation. Er schrieb Bücher für Wes Anderson („Der fantastische Mr. Fox" 2009, „Die Tiefseetaucher" 2004), aber auch zu „Madagascar 3: Flucht durch Europa". „Greenberg" war 2010 die erste Zusammenarbeit mit Baumbachs späteren kreativen und Lebens-Partnerin, der auf die Erde geplumpsten Göttin Greta Gerwig. Ihre sagenhafte „Frances Ha" stellte dann 2012 den Durchbruch für Regisseur und Schauspielerin dar. Nach dem etwas älter angelegten „Gefühlt Mitte Zwanzig" schrieben Baumbach/Gerwig nun mit „Mistress America" eine jüngere Version von „Frances Ha" über das komplizierte Gefühlsleben einer Literaturstudentin in New York.

Greta Gerwig spielt diesmal die selbstüberschätzte Twitter-Prominente Brooke. Eigentlich zu alt für das Studium, wirkt sie auf ihre zukünftige Stiefschwester Tracy Fishko (Lola Kirke) wie ein Star der New Yorker Studenten-Szene. Die schüchterne, einsame College-Anfängerin wird dann auch sofort vereinnahmt und zur Assistentin der Möchtegern-Restaurantbesitzerin, die nicht kochen kann. Als der stetige Rede- und Handlungs-Fluss der umtriebigen Brooke mit der Absage ihres Freundes abbricht, macht sich ein unharmonisches Quartett auf die Reise zu Brookes reichem mittlerweile verheiratetem Ex-Ex-Freund, um einen Kredit zu erbetteln. So wie es ein Hellseher geraten hat!

Wieder ist eine ungewöhnliche, ungleiche Frauen-Freundschaft der rote Faden einer verrückten Geschichte, die mit Lubitsch-artigen Screwball-Szenen auftrumpft, mit spielerisch leichtem und prickelndem Ensemble-Feuerwerk. In einem Käfig voller selbstverliebter Narren ist Tracy die mitschreibende Beobachterin, eine sensible Verwandte von „Francis Ha". Ihr intensives Verhältnis zu Brooke zerbricht so schnell, wie es entstand. So erfreulich frisch und individuell alle Figuren wirken, es entsteht doch ein genaues Zeitbild: Die Lebenswelten der 18- bis 30 Jährigen sind unendlich reich an Möglichkeiten und Ablenkungen, aber trotzdem fehlt etwas - eine echte Freundschaft beispielsweise. So mischen Baumbach und Gerwig ihrer Komödie der jungen New Yorker von heute eine Menge Melancholie bei, ein Markenzeichen aller Baumbach-Filme. Das Markenzeichen von Greta Gerwig, nämlich mit dieser wunderbar unverstellten Tapsigkeit nicht perfekt zu sein, macht auch diesen Film wieder unbedingt sehenswert.

7.12.15

Der kleine Prinz (2015)

Frankreich 2015 Regie: Mark Osborne 107 Min. FSK: ab 0

Mark Osborne, der Regisseur von „Kung Fu Panda" zauberte eine sehr überraschende und gelungene Adaption von Antoine de Saint-Exupérys Geschichte „Der kleine Prinz" auf die Leinwand: Nach einem kurzen Zeichenprolog lernen wir ein Mädchen mit durchgeplanter Kindheit kennen, die nur aus Lernen und Optimierung für ein erfolgreiches Arbeitsleben besteht. Aber der sonderbare Nachbar in dem bruchfälligen Schlösschen bringt nicht nur mit einer Explosion samt umherfliegendem Propeller das quadratisch-praktische Wohnviertel sowie diesen Plan durcheinander. Von hier flattert dem Kind per Papierflieger eine Seite von „Der kleine Prinz" herüber. Obwohl im Lehrplan für einen Freund erst im kommenden Sommer, einmal pro Woche 30 Minuten Zeit wäre, lässt es sich in eine fantastische Welt entführen, findet ausgerechnet in einem Haufen von Geldmünzen Spielfiguren.

So wie der Kleine Prinz das Mädchen rettet, befreit das Kind die Märchenfigur in einem dramatisch düsteren Finale aus einer Welt der grauen Herren, in der im Dienste der Energie-Konzerne aus Sternen Büroklammern gepresst werden. Dabei ist nicht nur gelungen, wie die kleinen Parabeln von den verschiedenen Planeten von Antoine de Saint-Exupéry in gegenwärtige Lebenswelten von überforderten Kindern geholt werden. Auch die Verzahnung einzelner Elemente wie dem Flugdrachen im Garten des alten Mannes und den Vögeln, die den Prinzen von Planet zu Planet tragen, zeigen eine Sorgfalt, die bei solchen Kinderfilm-Produktionen nicht immer selbstverständlich ist.

Mark Osborne arbeitet mit zwei ganz unterschiedlichen Animations-Stilen: Die etwas gewöhnliche Computer-Animation für die graue Gegenwart des Mädchens und Stop-Motion mit der Haptik von Papier bei den fantastischen Fabeln vom kleinen Prinz, die den Buchzeichnungen nachgeahmt wurden. Allmählich nähern sich die Geschichten im Stil einander an, jedenfalls sieht das Mädchen ihre Welt nun mit anderen Augen. Das ist nicht nur für kleine Kinder traumhaft, rührend und als Interpretation im Geist des Originals sehr gelungen.

By the sea

USA 2015 Regie: Angelina Jolie mit Brad Pitt, Angelina Jolie, Mélanie Laurent, Niels Arestrup 108 Min. FSK: ab 12

Angelina Jolie und Brad Pitt an der französischen Küste. Also quasi ein Home-Video der Familie Jolie-Pitt, das ist doch ein Hit! Aber auch in ihrem dritten Spielfilm als Regisseurin erweist sich Angelina Jolie als erstaunliche Künstlerin, die es nicht nötig hat, dem Massengeschmack hinterher zu drehen: „By the sea" ist ein bestechend exzellent gefilmtes und gespieltes Beziehungs-Drama.

Mit einer „Göttin" rollen sie herein in die kleine Urlaubsbucht, ein DS-Cabrio bringt den amerikanischen Schriftsteller Roland (Brad Pitt) und seine depressive Frau Vanessa (Angelina Jolie) Anfang der Siebziger Jahre zu der französischen Strand-Bar und dem etwas höher gelegenen Hotelgebäude. Der Raum mit Blick aufs wird sofort ummöbliert, Roland baut seinen Schreibtisch am Fenster auf. Hier müsste sich doch die Schreibblockade überwinden lassen. Der bodenständige Wirt Michel (Niels Arestrup) ist ihm in den folgenden Tagen Gesprächs- und auch Trinkpartner. Mit dem Notizbuch im Hosenbund wird ergründet, was Liebe denn so sei, erzählt der stille Witwer Michel von seinem Verlust und Roland deutet Probleme an.

Denn Vanessa sonnt sich auf dem Balkon depressiv und negativ im eigenen Leid, leblos wie eine Mumie. Bis ein junges Paar ins Nebenzimmer zieht und ein Guckloch in der Wand Vanessa magisch anzieht. Eine frische Liebe mit gesunden Sexleben, das hatten sie auch mal. Irgendwie anrührend und stimulierend, selbst wenn sich das zynische amerikanische Paar den naiven Franzosen sehr überlegen fühlt. Man und vor allem Vanessa beginnt mit den jungen Nachbarn zu spielen ...

„By the sea" ist ein stiller Film, bei dem man viel von der Action im Kino nebenan hört. Es liegt eine erstickende Schwere in den sonnenüberfluteten Bildern. Nicht nur Premmingers „Bonjour Tristesse" wird Jolie beeinflusst haben, man fühlt sich gleich angenehmst in eine ganze Retrospektive französischer Arthouse-Filme des Sechziger- und Siebziger-Jahre versetzt. Das sieht in den Bildern von Haneke-Kameramann Christian Berger und mit schönen Ausstattungsdetails wie der roten Olivetti-Schreibmaschine Valentine nicht nur gut aus. Es stimmt auch mit der Geschichte überein.

Derart reizvoll gestaltet Jolie ihre Geschichte, dass die Auflösung der Beziehungstragik nur wenig die Spannung zu halten braucht. Kleine Details wie der Fischer, der allmorgendlich aus der Bucht rudert und abends zurückkehrt, erzählen sich als Sinnfragen selbst. „Peeping Jolie" und schließlich beide am Guckloch zum Nebenzimmer campierend ist ebenso reizvoll wie die kunstvollen Spiegel-Motive in der sehr sicheren Inszenierung.

Jolie selbst zeigt sich versteckt hinter riesigem Hut und enormer Sonnenbrille als unberührbare, verblühende Schönheit. Der Selbstmord ist wie ihre Pillen und das Meer immer nur einen Schritt weit entfernt. Leben kommt in Vanessa nur bei bösen Psychospielchen und genügend Alkohol. Vor allem Brad Pitt kann sich als großartiger Schauspieler beweisen. Diesmal trotz Schnurrbart, langen Koteletten und Goldkettchen mit den Nuancen eines unglücklich in die eigene Frau Verliebten. Wenn die noch die Autorin, Regisseurin und Produzentin Angelina Jolie ist, kann man die Anhänglichkeit durchaus verstehen.

1.12.15

Im Rausch der Sterne

USA 2015 (Burnt) Regie: John Wells mit Bradley Cooper, Sienna Miller, Daniel Brühl, Omar Sy 102 Min. FSK: ab 6

Er ist der Beste und dazu noch besessen. Deshalb kann niemand dem Sterne-Koch Adam Jones (Bradley Cooper) eine zweite Chance verwehren, obwohl sein plötzlicher Abgang in Paris vor zwei Jahren ein Knaller war. Nun belagert Adam in London seinen ehemaligen Freund Tony (Daniel Brühl), um dessen Restaurant zu bekommen. Er bedrängt die junge Köchin Helene (Sienna Miller) bei einem befreundeten Konkurrenten, bis die bei ihm anfangen muss. Und beleidigt einen Fast Food-Zauberer, der sogar für einen Job bei Adam zahlen würde.

Dieser Protagonist ist ein jederzeit unsympathischer Typ, dazu cholerisch, rücksichtlos und egozentrisch. In seiner Küche herrscht ein Kasernenton; was nicht perfekt ist, fliegt in den Müll oder an die Wand. Ein Konkurrent charakterisiert Adam treffend als Süchtigen, der auch ohne Alkohol oder andere Drogen noch immer süchtig nach seinem eigenen Erfolgskick bliebe. Die Psychologin (Emma Thompson), bei der sich das schillernde menschliche Wrack wöchentlich auf Drogen testen lassen muss, braucht etwas länger und mehr Worte.

So verfolgt man Adams Kampf um drei Michelin-Sterne, die vorsichtige Annäherung einer alleinstehenden Kollegin, die handfesten Forderungen ehemaliger Drogendealer und zwischendurch immer mal die Herdplatte. Sehr viel Aufwand treibt der Film beim Darstellen von Zutaten und Zubereitung, die Ingredienzen in Form von Darsteller und Kamera sind auch nicht schlecht. Trotzdem wird man nie richtig warm mit Adam Jones und gerade der im deutschen Titel versprochene „Rausch" tritt nicht ein. Das trifft es das „Burnt" (verbrannt) vom Originaltitel besser: Inhaltlich könnte es packend sein, wie sich Adam aus seinem Panzer raustraut, den er sich nach einer persönlichen Verletzung zulegte. Mit der simplen Moral, ohne Liebe gibt es keine Sterne, ohne gegenseitige Liebe und (Be-) Achtung der Mitmenschen. Dabei interessiert - trotz seltsamem Dialekt - Daniel Brühls Figur des schwulen Restaurantchefs Tony viel mehr. Hier ist das Drama nur angedeutet, nicht ausgewalzt. Irgendwie bekommt man hier Lust auf eine einfache Portion Pommes oder auf Jon Favreaus genial lustvollen Kochfilm-Spaß „Kiss the Cook".

30.11.15

Krampus

USA 2015 Regie: Michael Dougherty mit Toni Collette, Adam Scott, Allison Tolman 98 Min.

Eine hässliche Schlacht um Sonderangebote zeigt im Vorspann den Horror der Weihnacht. Der wahre Horror kommt, als der kleine Max (Emjay Anthony) aufgrund der zerstrittenen Verwandtschaft den Glauben an das Weihnachtsfest verliert. Plötzlich ist - der Stimmung drinnen entsprechend - draußen alles eingefroren. Strom, Telefon und Internet sind tot. Zudem einige Personen auf den zugeschneiten Straßen. In der hasserfüllten us-amerkanischen Großfamilie lichten sich die Reihen durch mysteriöse Zugriffe von außen, während „Omi" düstere Prophezeiungen in einem seltsamen österreichisch-schweizer Dialekt ausspricht. (Hier entgleist die Synchronisation diesmal komplett.) Ja, da schickt er schon seine Vorboten, der Krampus, die unter anderem in Süddeutschland und Österreich verbreitete, „schrecklichere" Variante des Knecht Ruprecht. Mörderische Lebkuchen-Männchen und menschenfresserische Clowns aus der Spieldose spielen die Hauptrolle in diesem völlig unausgewogenen, grob inszenierten Weihnachtshorror. Effekte sind wichtiger als Emotionen, was in gefühlsduseligen Zeiten befreiend sein könnte. Doch dies ist auch in der Horror-Kategorie ein zäher Film, ein erbärmlicher Flop.

Alle Jahre wieder - Weihnachten mit den Coopers

USA 2015 (Love the Coopers) Regie: Jessie Nelson mit Diane Keaton, John Goodman, Olivia Wilde, Alan Arkin, Amanda Seyfried, Marisa Tomei 107 Min.

Weihnachtskitsch der besonders hochdosierten Form mit der gleichen Nachwirkung wie billiger Glühwein: „Weihnachten mit den Coopers" ist Weihnachten mit Hollywoods verstaubten Ideen und Schneeseligkeits-Dekos. Diesmal passt gar nicht zusammen, was schließlich und ohne jede Überraschung am Ende Weihnachten zusammen feiern muss: Oma und Opa wollen ihre Trennung noch geheim halten. Die Tochter schleppt eine Zufallsbekanntschaft zum Schein als Verlobten an. Ur-Opa bringt die sehr junge Kellnerin mit, in die er sich verliebt hat. Die Schwester fühlt sich immer ungeliebt und klaut deshalb ein teures Geschenk.

Das hört sich furchtbar abgeschmackt an und ist als Film noch viel schlimmer. Dass Ko-Produzentin Diane Keaton, John Goodman, Alan Arkin, Amanda Seyfried und Marisa Tomei mitspielen, vergrößert noch das Entsetzen. Und sie holen auch reihenweise nichts auch ihren schematischen Figuren raus, was teilweise daran liegt, dass altersmäßig nichts zusammen passt. Nur Olivia Wilde gibt sich als verletzte linke Atheistin Eleanor in Großaufnahme richtig Mühe, den konservativen Patrioten in Uniform abzuschleppen.

Unverfroren werden in Schnee-Deko haufenweise kleiner Dramen aufgereiht und gleich mit Vergangenheit und schwierigen Kindheiten beschwert: Arbeitslosigkeit, Trennung, Einsamkeit, Krankheit. Also jetzt auf inhaltlicher Ebene, nicht was man den Machern im Geiste der zukünftigen Weihnacht wünscht. Und bei der Eskalation am Weihnachtsabend kippt selbstverständlich noch jemand um - nicht im Publikum, da schläft man fest. Wenn dann noch der Weichspüler Sting die Tonspur verklebt, kommt unüberwindbar auf, dass dieser Glühwein keine gute Idee war.

Das brandneue Testament

Belgien, Frankreich, Luxemburg 2015 (Le tout nouveau testament) Regie: Jaco Van Dormael mit Pili Groyne, Benoît Poelvoorde, Laura Verlinden, Catherine Deneuve 115 Min. FSK: ab 12

Die Deneuve geht mit einem Gorilla ins Bett, ein Scharfschütze trifft die Liebe seines Lebens und Gott ist ein tyrannischer Prolet. Der witzigste und geistreichste Film des Jahres dreht Religion auf links und schleudert altbekannte Vorstellungen durch eine verrückte Bilderwelt. Nach „Mr. Nobody" (2009) mit seinen Parallelwelten einer Liebe, den Lebensweisheiten eines mongoloiden Jungen „Am achten Tag" (1996) und dem fantastischen Spaß „Toto der Held" (1991) begeistert der Belgier Jaco Van Dormael mit einem neuen Meisterwerk und überraschenden Einsichten in Schöpfungsgeschichte, Theodizee sowie dem Geschlecht Gottes.

Gott lebt in Brüssel und ist kein netter Kerl. Er läuft in Morgenmantel und Badelatschen rum, schlägt seine zehnjährige Tochter Ea (Pili Groyne) mit dem Gürtel und wird kongenial verkörpert von Benoit Poelvoorde („Mann beißt Hund"). Der Sohn, kurz J. C. genannt, ist ihm schon vor einiger Zeit weggelaufen. Die Tochter würde das auch tun, aber die Wohnung hat keine Tür. Dafür ein Büro ohne Fenster mit unüberblickbar hohen Regalen und einem schäbigen Computertisch in der Mitte. Dort schuf Gott die Welt - mit einem schäbigen Computerprogramm.

Neben den bekannten Geboten hat dieser mürrische und sadistische Kerl sich noch tausende weitere, gemeine Gesetze ausgedacht: Die Sache mit dem Marmeladenbrot, das immer auf der falschen Seite landet, zum Beispiel. Irgendwann hat Ea die Nase voll von den Quälereien, schickt eine verräterische Email an alle Menschen und haut von zuhause ab. Der große Bruder hat ihr den Notausgang verraten: Durch die Waschmaschine bei 40 Grad, Synthetik mit Schleudern.

Nun landet Ea in der Welt - sprich: Brüssel - und sucht sich ihre Apostel. Auch ein Tipp von Jesus! Ein alter Obdachloser schreibt alles auf im „brandneuen Testament". Die herrlichen Geschichten der sechs neuen Apostel, die sich nach und nach im berühmten Abendmahl-Gemälde von Leonardo da Vinci hinzugesellen - unter ihnen Catherine Deneuve, sind zu schillernd, um sie zusammenfassend zu verstümmeln. Aus den hunderten von Ideen-Perlen nur der Traum der wunderschönen Aurélie (Laura Verlinden), die als Kind in der Metro einen Arm verlor und nun von ihrer nicht mehr vorhandenen Hand ein traurig-schauriges Tänzchen vorgeführt bekommt - zu Musik von Händel!

Die neue „Messiasine" Ea kann selbst nicht besonders viel, nicht einmal weinen. Etwas Telekinese, übers Wasser gehen selbstverständlich, die Melodie der Menschen in ihrem Herzen hören und ihnen schöne Träume bereiten. Was sie in der Welt bewirkt, ist allerdings atemberaubend: Die erste Email verriet allen Menschen ihr Todesdatum - mit aberwitzigen und rührenden Konsequenzen. Und mit dem sofortigen Ende aller Kriege! Gott ist entsetzt, denn jetzt machen die Menschen, was sie wollen, und das ist gar nicht so schlecht. Mit einigen ihrer neuen Apostel zieht Ea nach Ostende, um deren Ende zu feiern ...

Ein Lachen, das sich wie Perlen über eine Marmor-Treppe ergießt. Solch wunderbare Metaphern gießt Jaco Van Dormael in noch schönere Bilder. Wobei in der neuen Schöpfung einer neuen Göttin (die großartige Yolande Moreau aus „Louise Hires a Contract Killer") alles bestens harmoniert, dies ist kein aufgesetzter Stilwille, hier wird keine geniale Idee nur für sich selbst ins Bild gesetzt. Dass eine unverschämt mutige - nur nebenbei: exzellent gespielte und inszenierte - Idee den Blick auf die Welt verändert, ist selten. Jaco Van Dormael ist dies mit seiner berührend komischen und nachdenklichen Film-Schöpfung gelungen.

Wie auf Erden

Schweden 2015 (Sa ock pa jorden) Regie: Kay Pollak mit Frida Hallgren, Jakob Oftebro, Niklas Falk 130 Min.

Ein himmlischer Erfolgsfilm voller Emotionen platscht plump auf die Erde: Das emotionale schwedische Sangesfestival „Wie im Himmel" war 2004 eine schöne Sensation, wird aber mit dem einfallslos kalkulierten Nachfolger auf enttäuschende Weise geerdet.

Das künstlich herbei konstruiertes Chaos um die verschneite Haus-Geburt von Lenas Kind zeigt, dass eigentlich alles beim alten ist: Die ehemalige Kassiererin Lena (Frida Hallgren) ist begeisterte Sängerin und ansonsten ein wirrer Dickkopf. So wie sie ihrer im ersten Teil ziemlich plötzlich verstorbenen Kantoren-Liebe hinterher trauert, vermisst der besoffene Priester Stig (Niklas Falk) Lenas Kirchenchor im leeren Gotteshaus. Dabei steht nach einer Renovierung die feierliche Wiedereinweihung bevor. Zu der ein besonderes Ekel, das einst Lena ausnutzte, Händels Messias vor den TV-Kameras aufführen soll. Doch die aufmüpfige Frau lässt sich schnell zu Kantorin benennen und will das schwierige Stück mit den Dorfbewohnern selbst einstudieren ... ohne Noten lesen zu können!

Zudem ist die immer noch um ihren Kantor Daniel trauernde Lena auch noch von lauter Neidern, missmutigen Menschen und übergriffigen verzweifelten Männern umgeben. Doch die manisch optimistische Frau macht aus den Proben eine offene Therapie-Sitzung, akzeptiert eine witzige Instrumentierung und schmeißt die Bänke aus der immer voller werdenden Kirche raus. Genau diese lebensbejahende Frische Lenas ist das einzig Positive was aus dem Erfolgsfilm „Wie im Himmel" gerettet wurde.

„Er soll nicht in einem Dorf aufwachen, wo man nichts auf sich halten darf." So begründet Lena ihren Kampf für eine freundlichere Umgebung, bei dem - trotz großer Vorbehalte gegenüber der Kirche - die Musik vom Kirchenchor den menschlichen Kitt hergeben muss. Lena wird in diesem Frauenfilm geschlagen, beleidigt und vor allem unterschätzt. Doch letztlich besiegt sie sogar ihre eigene Unsicherheit, die sich selbstverständlich hinter dem wilden Gehabe versteckt.

Das unkonventionell arrangierte „Halleluja" ist noch nett kunterbunt. So hätte der Film auch sein wollen, aber er ist nur durcheinander. Nicht so sehr, dass auch diesmal jemand plötzlich sterben muss, ist das Schlimmste an diesem bipolaren Stück mit aufgesetzten Schwierigkeiten bei künstlichem Regen. Die Bilder wirken wahllos oder sind sogar kontraproduktiv, wenn etwa Lena nach dem Happy End in einem bedrohlich schwarzen See schwimmt - im letzten Bild! Dramaturgisch stolpert der Film entlang ihrer verrückten Ideen und ist einiges zu lang. Viel Musik gibt es erst spät, dafür bringt der unausweichliche „Prince Charming" (der norwegische Schauspieler Jakob Oftebro) einen Schneewittchen-Stiefel vorbei.

Kay Pollak hatte vor dem handwerklich nicht herausragenden Überraschungs-Erfolg „Wie im Himmel" 18 Jahre lang keinen Film gemacht. Nun gab es nur eine Pause von zehn Jahren - eindeutig zu wenig!

24.11.15

Ewige Jugend

Italien, Frankreich, Schweiz, Großbritannien 2015 (Youth) Regie: Paolo Sorrentino mit Michael Caine, Harvey Keitel, Rachel Weisz, Paul Dano, Jane Fonda 124 Min. FSK: ab 6

„Ewige Jugend" verspricht nicht nur das Wiedersehen mit Michael Caine, Harvey Keitel und Jane Fonda. Die melancholisch-komische Zauberberg-Geschichte ist auch der neue Film von Regisseur Paolo Sorrentino, mit „La grande bellezza" Super-Sieger von den Europäischen Filmpreisen 2013 (Bester Film, Beste Regie) bis zum Oscar 2014. Zudem waren auch die Vorgänger-Filme „Cheyenne - This must be the Place" mit Sean Penn, „Il Divo" über Giulio Andreotti, „L'amico di famiglia" und „Le conseguenze dell'amore" sensationell gut.

Für sein neuestes Meisterstück versetzt Sorrentino alte und junge Stars aus verschiedenen Sphären in ein exklusives Wellness-Hotel der Schweizer Alpen: Der alte Komponist Fred (Michael Caine) hat sich nicht nur hierhin sondern überhaupt zurückgezogen. Da hat selbst ein Bote der Queen keine Chance, der bettelt, weil Prince Phillip „Simple Songs", den Klassiker von Fred, zum Geburtstag unbedingt von ihm persönlich in der Royal Albert Hall dirigiert hören will. Freds alter Freund Mick (Harvey Keitel) will noch eine Menge schaffen - der berühmte Regisseur arbeitet mit einem Team junger Drehbuchautoren an einem neuen Film. Doch ausgerechnet sein Star Brenda Morel (Jane Fonda in einer grandiosen Bette Davis-Diva-Szene) wird ihm die Absage präsentieren. Der seltsame Schauspieler Jimmy (Paul Dano) bereitet sich auf eine Rolle vor, deren erster Auftritt für einen von vielen wunderbaren Momenten im Hotel der Skurrilität sorgen wird. Stichwort: Er ist wieder da... Auch dabei ist am Rande ein sehr, sehr dicker, göttlicher Fußballer, der nicht von Essen und Bällen lassen kann. Oder die Miss Universe, die alten Herren himmlische Momente schenkt, aber allen Klischees zum Trotz klüger ist, als die versammelte selbstverliebte Intellektualität.

Wie so oft greift bei Sorrentino die Handlung viel zu kurz, seine Filme sind vor allem Szene und Stimmung. War „La grande bellezza" noch ein großes Zerfließen in Melancholie, ist „Ewige Jugend" fast schon Action: Da gibt es Spannungen und eine tragische Vorgeschichte bei Fred und seiner Tochter - oder Assistentin - Lena Ballinger (Rachel Weisz), deren Mann gerade mit einem lächerlichen Pop-Sternchen durchgebrannt ist. Und dann diese unglaublichen Träume im Stile Fellinis, diese fantastischen und surrealen Momente, die „Ewige Jugend" unbedingt sehenswert machen. Wenn Fred auf einer einsamen Almwiese Kühe und Vögel dirigiert, wenn Mick in einem atemberaubenden Moment all den Frauen seiner Filme begegnet.

Bei allen großen Schönheiten und Träumen ist die „Ewige Jugend" auch ziemlich lakonisch komisch: Selbstverständlich unterhalten sich die alten Freunde Fred und Mick über den Stand ihrer Prostata, wobei der Komponist nur freundlich mitjammert, denn tatsächlich erfreut er sich bester Gesundheit. So gemischt ist auch die Gefühlslage von Menschen, die Angst vor dem Leben, der Jugend (so der ironische Originaltitel „Youth") dort draußen haben.

Mit Dialogen, die etwas von der Leichtigkeit alter Franzosen (Rohmer) haben, mit Sauna-Gängen, die an Gemälden alter Meister erinnern und einzigartigen Traum-Szenen vom Markusplatz unter Wasser begeistert Sorrentino immer wieder. Dass man sein neuestes Opus mit überbordendem Bilderbogen nicht auf Anhieb auf eine kurze Quintessenz reduzieren kann, ist keineswegs ein Makel.

The Gift

USA 2015 Regie: Joel Edgerton mit Jason Bateman, Rebecca Hall, Joel Edgerton 109 Min. FSK: ab 12

Neurotisch den Fremden gegenüber, das könnte ein Psychogramm des us-amerikanischen Wohlstandsbürgertums sein. Aber der alte Schulbekannte Gordo (Joel Edgerton), der das frisch nach Los Angeles gezogene Pärchen etwas übergriffig aufsucht, ist nicht wirklich angenehm. Vielleicht einfach ungeschickt im sozialen Umgang, meint Robyn (Rebecca Hall). Ihr Mann Simon (Jason Bateman), der gerade einen neuen Superjob antritt, erinnert sich an den Spotnamen aus Highschool-Zeiten: Gordo Weirdo. Gordo, der Spinner. Ja, Gordo wirkt leicht neurotisch mit seinen unverhältnismäßigen Geschenken und erfüllt das Profil des versteckten Serienkillers. Aber es ist auch nicht nett, wie Simon mit ihm umgeht. In der Schulzeit muss der erfolgreiche und unangenehm selbstbewusste Macher ein Ekel gewesen sein, ein „Bully", der Mitschüler fertig gemacht hat.

„The Gift" ist einer dieser neurotischen Thriller mit unheimlicher Bedrohung aus der nächsten Umgebung. Aber einer, dem man ganz langsam bei der Entwicklung zusehen kann. Einer mit überraschender Wende, die psychologisch nachvollziehbar ist, anstelle der üblichen Steigerungen, die nur innere Leere überdecken wollen. Nebenbei enthält „The Gift" den interessanten Aspekt, wie die alten Schul-Bullys heute weiter leben. Vor allem präsentiert der gelungene Thriller eine ganz gemeine Rache ohne die üblichen Action-Elemente und damit umso raffinierter.

23.11.15

Die Highligen Drei Könige

USA 2015 (The night before) Regie: Jonathan Levine mit Seth Rogen, Joseph Gordon-Levitt, Anthony Mackie, Lizzy Caplan, Miley Cyrus, Michael Shannon 110 Min.

Der erste Weihnachtsfilm der Saison bekommt hier immer eine Breitseite, die einer Invasion von Lebensmittelmotten in die viel zu früh angekarrten Lebkuchen und Printen aller Discounter entspricht. Doch diesem völlig bekloppten, durchgeknallten und chaotisch gelungenen Christmas-Punk sei verziehen. Wenn Seth Rogen als jüdischer Weihnachts-Boykotteur einen weißen Messias ans Kreuz nagelt, kann endlich ein Film dem „Leben des Brian" den heiligen Gral reichen.

Seit 2001 kurz vor Weihnachten Ethans (Joseph Gordon-Levitt) Eltern starben, feiern seine Freunde Isaac (Seth Rogen) und Chris (Anthony Mackie) Heiligabend rituell mit einem festen Ablauf aus Party, Karaoke und chinesischem Essen. Nun hat Chris als Sportler Karriere gemacht und Isaac wird bald Vater, also steht die Tradition vor dem Aus. Das letzte Fest soll noch einmal rauschend werden, denn Ethan hat endlich Karten für die jahrelang gesuchte geheimnisvolle Weihnachtsparty „Nutcracka Ball" klauen können. Isaacs kumpelhafte Frau Betsy (Jillian Bell) stattet die Jungs mit einem berauschenden Weihnachtspäckchen aus und los geht der Kultur-Clash aus verkitschten christlichen Traditionen und Exzessen im Stil von „Hangover".

Ohne Drogen und ein paar Liter Glühwein bleibt dieser unbeschreibliche Film schwer zu fassen: Nett wie die Jungs in ihren Acryl-Pullovern mit Davidstern (Isaac), einem schwarzen Nikolaus (Chris) und Rentieren (Ethan) schwitzen. Grandios wie Seth Rogen wieder eine mehrfache Überdosis von allem möglichen spielt. Das konnte er (auch mit James Franco) 2008 schon gut in „Ananas Express" von Judd Apatow. Selbstverständlich wird dieser „highe" Weihnachtsfilm nach mäßigem Start deftig im Stile von „Bad Santa". Aber aller, auch stilistischer Konfusion wird dann noch eine Liebesgeschichte, die Zweifel des werdenden Vaters, die Wandlung eines Steroide spritzenden Sportlers, ein Drogen dealender Engel (himmlisch: Michael Shannon), eine iPhone-Verwechslung mit belastendem Material auf beiden, etwas schwule Romantik (mit James Franco) und ein Auftritt von Miley Cyrus untergemischt. Das ist Christmas Carol auf Speed. Das ist ein Great Gatsby, der Geist der Weihnacht spielt und high auf Gras die Wahrheit verkündet. Also alles großartig wahnsinnig und komisch, wobei es schade und schön ist, dass alles gut ausgeht.

Nach dem ernsthaft komischen „50/50" - ebenfalls mit Joseph Gordon-Levitt - legt Jonathan Levine einen Film für Weihnachtshasser (samt Grinch) und in Bezug auf das „Highlige" Fest unentschieden Bisexuelle hin. Ein Meilenstein der feierlichen Beklopptheit.

Bridge of Spies

USA 2015 Regie: Steven Spielberg mit Tom Hanks, Mark Rylance , Alan Alda 142 Min. FSK: ab 12

Tom Hanks holt sich im Kalten Krieg einen Schnupfen und aus Spielberg wird Spiegelberg. Menschen und Verfassungen in allen ihren Facetten vermittels eines Spiegelkabinetts zu zeigen, ist beileibe nicht der einzige großmeisterliche Trick des Regisseurs. Trotz einigem Pathos gelingt ihm die alte Geschichte vom unscheinbaren Helden mit Mitteln des alten Hollywoods erneut.

„Hängt ihn!" Die Meinung des Mobs ist klar: Der russische Spion muss sterben. Schließlich ist kalter Krieg, Senator Joseph McCarthy schleift bei seiner Kommunisten-Hatz seit Jahren die Bürgerrechte, Ethel und Julius Rosenberg wurden 1953 wegen Spionage trotz weltweiter Proteste auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Da hat der sowjetische Spion Rudolf Abel (Mark Rylance) 1957 keine Chance, bekommt aber mit dem Anwalt James Donovan (Tom Hanks) wenigstens Pro forma eine. Nach einer Weile des Unterschätzens hält er seine erste große Rede auf „das Regelwerk". Das Regelwerk, dass ihn, den irisch-stämmigen Anwalt, und sein Gegenüber, den deutschstämmigen CIA-Agenten, zu Amerikanern macht.

Tatsächlich rettet Donovan den stillen Spion vor der Hinrichtung - der Versicherungs-Anwalt vermittelt dem Richter, dass man die Rückversicherung eines Gefangenen für einen eventuellen Austausch später noch brauchen könnte. Der sehr deutliche Schnitt von den Spionage-Kameras der US-Piloten zu der Fotoausrüstung des Spions macht klar: Beide Seiten machen genau das gleiche. Trotzdem verweigert der Richter dem Angeklagten Rechte, die jeder Amerikaner haben sollte. Siehe Guantanamo.

Im zweiten Teil von „Bridge of Spies" muss Donovan selbst seinen Spion in nicht offiziellem Auftrag gegen einen abgestürzten US-Piloten austauschen. Die Verhandlungen finden während des Mauerbaus in einem erbarmungswürdigen Ost-Berlin statt und gestalten sich eher kafkaesk als dramatisch. In der chronisch ungeheizten DDR holt sich der Privat-Diplomat Donovan einen Schnupfen, während er auf Amts-Gängen sitzt, durch die Fahrräder rollen. Der neue Film von Stevens Spielberg gibt hier einen Vorgeschmack auf den im Februar folgenden neuen Film der Coens „Hail Cesar": Die Brüder haben an der letzten Fassung des Drehbuchs mitgearbeitet und man kann sie gut hinter einigen schrägen Scherzen erkennen. So etwa die Erkältung, die Tom Hanks im chronisch ungeheizten Ost-Berlin anfällt.

Doch dies ist noch Spielberg, hier werden „Republik-Flüchtlinge" an der frisch gemauerten Mauer erschossen, hier trennt der Stacheldraht eine junge Liebe, hier sollen wir vor dem naiven Umgang mit der Atombombe erschaudern. Der Gefangenen-Austausch auf der Glienicker Brücke wird der historischen Bedeutung gemäß groß aufgezogen. Dem Meister aller Klassen von Unterhaltung („Indiana Jones"), Schrecken („Der weiße Hai"), SciFi-Kitsch („E.T.") und immer mehr Bürgerrechts-Unterricht („Die Farbe Lila", „Schindlers Liste", „Lincoln") gelingen grandiose Szenen harter Schatten im Stil der schwarzen Serie. Wenn die Menschen im Zug, weil sie den Verteidiger des Feindes erkannt haben, besonders bedrohlich blicken, schaut Hitchcock vorbei. Dass nach dem Mord an der Mauer ein anderer Blick aus der Bahn in New York spielende Kinder an den Zäunen zeigt, ist sehr dick amerikanisch. Was den Genuss am geballten Können Spielbergs nur kurz trüben kann.

Tom Hanks ist wie immer übersehbar gut und verschwindet trotzdem fast völlig hinter seiner Figur. Die bescheiden auftritt, aber immerhin schon Assistent bei den Nürnberger Prozessen war und später in Verhandlungen mit Kuba tausenden Menschen die Rückkehr in die USA ermöglichte. Während „Bridge of Spies" den Kalten Krieg als fast erstrebenswert übersichtlich darstellt, bleiben die inneren Bedrohungen für unsere demokratischen Verfassungen immer gleich gefährlich. So ist dieser Spielberg mit allen Reminiszenzen hochaktuell - nicht nur wegen der Coen-Scherze.

21.11.15

44. Filmtage Hückelhoven 2015

Das älteste Filmfestival der Region öffnet sich für Flüchtlinge

Das älteste Filmfestival der Region verschreibt sich neuerlich eine Verjüngungskur: Die 44. Ausgabe der „Belgisch-Niederländisch-Deutschen Filmtage Hückelhoven" findet am kommenden Wochenende (20.-22. November) in der Aula des Gymnasiums statt. Dabei erfährt das einzigartige Zusammentreffen von Schulklassen aus dem Dreiländer-Eck mit den besten Filmen aus ihren Ländern, diese fröhlich gelebte Völkerverständigung in einer Atmosphäre zwischen Filmfestival und Schullandheim, eine konsequente Erweiterung. Der Blick geht von der Region in die Welt hinaus.

Laut der jahrzehntelangen Mitveranstalterin Gisela Münzenberg wurden die Filmtage Hückelhoven aus dem Ansinnen heraus ins Leben gerufen, mit Hilfe des Mediums Film den euregionalen Gedanken bei jungen Menschen aus der Region zu fördern. Doch nach den Schengen-Verträgen seien diese Grenzen sehr verschwommen, der euregionale Gedanke sei bei den Jugendlichen ohnehin gefestigt. In der Zukunft sollen deshalb „über den Film unterschiedliche Schwerpunkte erfasst werden". Einher geht eine Abkehr vom streng paritätischen Programm, bei dem immer jeweils drei Filme von den jeweiligen Ländern gespielt werden, hin zu einer freieren Struktur.

So ist in diesem Jahr geplant, anhand von Dokumentationen über das Leben von Flüchtlingskindern im Gespräch mit deren Regisseuren und Darstellern die aktuelle Flüchtlingsproblematik zu thematisieren. Dieses und andere Themen sind für die Teilnehmer unabhängig von ihrer Nationalität interessant und relevant. Mit dabei sind die Aachener Filmemacher Miriam Pucitta und Michael Chauvistré́ mit ihren bekannten Dokumentationen „Um zu leben", über jugendliche Menschen bei ihrer Flucht, die in Aachen endet, und „Eine Banane für Mathe", der zeigt, was aus den jungen Flüchtlingen geworden ist, die vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen sind.

Im traditionellen Dreiländer-Programm ist „Victoria" mit dabei, der an einem Stück gedrehte Überflieger der deutschen Filmpreise, sowie der ganz große Abräumer der niederländischen Filmpreise (Gouden Kalf) „Gluckauf". Letzterer ist passenderweise auch ein regionales Produkt, spielt er doch direkt nebenan, im ehemaligen Bergarbeiter-Territorium von Heerlen. Also ein idealer Film auch für den Veranstaltungsort Hückelhoven, der die gleiche Industrie-Geschichte hat.

Die Filmtage beginnen am Freitag um 15 Uhr mit Kino für Kinder und „Quatsch und die Nasenbärbande" von Veit Helmer. Insgesamt werden bis Sonntagnachmittag neun Filme sowie acht kurze und mittellange Beiträge gezeigt und diskutiert.

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„Die Filme sollen helfen, uns die Beweggründe und Geschichten von Flüchtlingen näher zu bringen. So hoffen wir auch, beim Abbau von Vorurteilen und Ängsten gegenüber Flüchtlingen einen Beitrag leisten zu können."

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www.filmtage-hueckelhoven.de

17.11.15

HalloHallo

Schweden 2014 (Hallå Hallå) Regie: Maria Blom mit Maria Sid, Johan Holmberg, Calle Jacobsson, Gunilla Nyroos 98 Min. FSK: ab 0

Diese schwedische Lebens-Komödie beginnt mit einem Aufschrei. Dem Aufschrei der Krankenschwester Disa (Maria Sid), die auf ihrem Hintern eine Skischanze herunterrutscht. Die frisch verlassene Mutter von zwei Kindern begrüßt alle immer mit dünnem „HalloHallo" und ist vor lauter Unsicherheit kaum anwesend. Sie lässt sich von aggressiven Patienten bewerfen und von den Eltern terrorisieren und begehrt ihnen gegenüber das erste Mal auf. Was dringend nötig war, denn Disas Weinerlichkeit hält man schon beim Zuschauen kaum aus. Sobald jedoch mit einem Selbstverteidigungskurs und neuen Freunden etwas Leben ins Spiel kommt, lebt auch die Darstellerin, der finnischen Star Maria Sid, erfreulicherweise auf, was ihr gewinnendes Lächeln und in der Verwandlung ihr großes Können zeigt.

Der Dialog ist komisch, wenn der Leiter vom Selbstverteidigungs-Schule Disa einen Intensivkurs empfiehlt, aber richtig gut ist es erst, wenn die vormals verhuschte, kleine Frau ihre Wut an den bemitleidenswerten anderen Kursteilnehmern rauslässt. Dass die Pflege der Haustiere einer bettlägerigen alten Frau mit den Kindern und den Freunden zu einem echten Moment des Glücks führt, ist fast schon zu kitschig, doch man gönnt ihn Disa und diesem sympathischen Film.

15.11.15

The Diary of a Teenage Girl

USA 2015 (The diary of a teenage girl) Regie: Marielle Heller mit Bel Powley, Kristen Wiig, Alexander Skarsgård, Madeleine Waters 102 Min.

Unmöglich oder revolutionär? Das sexuelle Coming Out einer 15-jährigen in San Franciscos Hippie Hoch-Zeit 1974 irritiert und begeistert. Auf jeden Fall gelungen ist die Umsetzung von Phoebe Gloeckners Buch „The Diary of a Teenage Girl", einem Roman mit Graphic-Novel-Einsprengseln.

„I had sex today" - die Begeisterung der 15-jährigen Minnie Goetze (Bel Powley) über ihren ersten Sex möchte man in der Zeitlupens-Schwebe des strahlenden Sonnenscheins gerne teilen. Toll, wie das unkonventionelle, intuitiv selbstsichere Mädchen ihr intimes Tagebuch in einen Kassetten-Rekorder spricht - im vollen Bus! Doch in der Rückblende stellt sich heraus, was selbst die sexuell aufgedonnerte Freundin „krank" findet: Minnie war mit dem fast 20 Jahre älteren Freund ihrer Mutter im Bett. Initiiert vom Mädchen, aber der unreife Monroe (Alexander Skarsgård) leistete keinen ernsthaften Widerstand. Schon vorher fasste er sie beim Kuscheln auf der Couch scheinbar zufällig an die Brust.

Das „Diary of a Teenage Girl" ist keiner der ungezwungenen aufgeklärten skandinavischen Jugendfilme, hat aber auch nichts mit verklemmten Lolita-Fantasien zu tun, mit denen zuletzt der französische „Vater meiner besten Freundin" anwiderte. Denn durch eine Phase des „Das geht ja gar nicht"-Gefühls beim Zusehen kommt Minnie selbständig, aufrecht und emotional gereift heraus. Nicht des Desinteresse der Mutter, die sich selber mit Kiffen und Koks auslebt, nicht das Ende der Affäre mit dem peinlichen Monroe schadet Minnie. Auch die „Nymphomaniac"-Verführungen fremder Typen mit der Freundin machen vor allem Spaß. Denn in dieser ungefährdeten Emanzipation bestraft Minnie gering geschätzte Männer mit ihrem selbstbestimmten Sex. Erst das Verlieben in eine lesbische Freundin führt zum Zusammenbruch.

Doch auch wenn vor allem das Sexuelle diskutiert werden wird, „The Diary of a Teenage Girl" ist Komödie, kein Drama, und das lustvoll inszenierte Coming out einer Comic-Künstlerin: Zusehends lösen sich Animationen aus dem Spielfilm und begleiten die Zeichnungen Minnies. Wenn eine füllige „50 feet woman" durch die Stadt trampelt, sind dies explizite Erwachsenen-Comics. Mit dem Charme der Crumb-Figuren, den irgendwie auch die Hauptdarstellerin Bel Powley hier herumträgt. Erstaunlich und sehr gut, denn an ihre Rolle als Schwester der jungen Queen Elizabeth aus „A Royal Night" erinnert Powley gar nicht mehr. Auch den Altersunterschied meistert die 23-jährige Schauspielerin großartig glaubhaft.

Mia Madre

Italien, Frankreich 2015 Regie: Nanni Moretti mit Margherita Buy, John Turturro, Giulia Lazzarini, Nanni Moretti 106 Min.

Da tobt auf der Straße der alte Klassenkampf, brutal niedergedrückt von den Wasserwerfern des Kapitals. Und während die Regisseurin Margherita (Margherita Buy) ihr Team inquisitorisch befragt, auf welcher Seite sie eigentlich ständen, tobt in ihr ein ganz anderer Kampf. Denn Margheritas Mutter Ada (Giulia Lazzarini) liegt im Sterben. Und wenn sie der Kranken etwas Gutes mitbringen will, hat der perfekte Bruder (Nanni Moretti) schon das perfekte Mal zubereitet.

Das normale (Arbeits-) Leben einer Frau also, die an allen Fronten perfekt sein will, aber zweifelt, überhaupt irgendwas richtig zu machen. Die erwachsen werdende Tochter zickt und vernachlässigt das Lernen. Den Liebhaber Vittorio wirft Margherita mal vorsorglich raus, es ist gerade alles zu viel. Der Kommentar dazu kommt später ruhig und treffend: Sie würde alles negativ sehen und so auch die Menschen vergiften, die sie liebten.

Nein, Margherita ist keine Heldin und auch nicht tragische Figur. Sie ist vor allem ... Mensch. Und Regisseurin, was daran liegt, dass Nanni Moretti nicht nur hervorragende, berührende und wunderschöne Filme macht, sondern auch immer persönliche. Unvergessen, wie er mit seiner Vespa in „Liebes Tagebuch" („Caro diario") durchs sommerlich verlassene Rom rollte und danach die Erfahrung der eigenen Krankheit humoristisch aufarbeitete. Nun steht der Tod der eigenen Mutter zentral, denn als Moretti 2011 seinen kirchenkritischen „Habemus Papam" inszenierte, starb seine Mutter. Übrigens auch Lehrerin, wie die Mutter in „Mia Madre" .

Aber „Mia Madre" ist auch ein Film über Arbeitslosigkeit und es ist klar, auf welcher Seite der Proteste Margherita und Moretti stehen. Und es ist Komödie mit John Turturro als herrlich exzentrischem US-Star Barry Huggins, der an seinen italienischen Wurzeln arbeitet, aber eigentlich noch mal zur Schauspielschule müsste. „Mia Madre" lässt viel Abschied und Trauer spüren, erfreut aber zwischendrin mit wunderschön leichten Szenen und großartigen Musikstücken im Hintergrund. Geschickt spielt Moretti mit den (Alb-) Träumen Margheritas, wobei das Wachwerden auch nicht toll ist, wenn die Wohnung unter Wasser steht. In einer endlos langen Schlange vor einem Kino stehen - zu Cohens „Famous Blue Raincoat" - die nahen Menschen ihres Lebens und Margherita selbst in jungen Jahren.

Eine ganze Menge Leben verkörpert Margherita Buy, dieser italienische Star mit dem sehr jungen Gesichtsausdruck, mit immer wieder mädchenhaft unsicherem Blick. Unsicher selbst auf dem Set, mit tränenerfüllten Augen immer mehr mit ihren Gedanken und ihren Gefühlen bei der Mutter.

Nun ist „Mia Madre" leider nicht die Mutter alle Moretti-Filme, so wie „Todo sobre mi madre" (Alles über meine Mutter) einer der besten Filme des Spaniers Pedro Almodóvar war. Das bleibt die andere Abschiedsgeschichte Morettis, „Das Zimmer meines Sohnes" aus dem Jahr 2001. „Mia Madre" ist jedoch eines der stillsten Werke des ansonsten so ADHS-verdächtigen, „typisch" italienischen Aktivisten Moretti. Was wiederum eine besondere Qualität von und wohl der passendste Stil für „Mia Madre" ist. Nanni Moretti, der in „Habemus Papam" den Psychologen des Papstes spielte und in „Der Italiener" Silvio Berlusconi, wirkt hier völlig ausgeglichen als vorbildlicher Bruder. In Cannes gab es für „Mia Madre" den Preis der ökumenischen Jury.

Ich und Earl und das Mädchen

USA 2015 (Me, Earl and the dying girl) Regie: Alfonso Gomez-Rejon mit Thomas Mann, RJ Cyler, Olivia Cooke, Hugh Jackman 106 Min. FSK: ab 6

„Meine Mutter hat gesagt, ich soll mal vorbeikommen, weil du ja bald sterben musst..." So ein Satz zu der bis dahin eher entfernten Mitschülerin Rachel (Olivia Cooke) wird wohl nicht der Anfang einer besonderen Freundschaft sein. Doch bei „Ich und Earl und das Mädchen" ist alles anders. Nicht nur weil der schüchterne, aber filmverrückte Teenager Greg (Thomas Mann) mit seinem Freund Earl (RJ Cyler) in umwerfend komischen, kurzen Parodien die Filmgeschichte umkrempelt. Oder der Regisseur Alfonso Gomez-Rejon, davon angesteckt, mit immer wieder neuen Gestaltungsideen die Geschichte sehr lebendig hält. Es ist vor allem die völlig offene Art, wie Greg und Rachel miteinander und mit der Krebserkrankung umgehen. Das ist im Gegensatz zu den bescheuerten Geschichten, die sich Greg ausdenkt, berührend und erfrischend ehrlich.

Wobei das Gelingen des in vieler Hinsicht sehenswerten Meisterwerkchens in der perfekten Balance zwischen unverkitschter Rührung und ausgeflipptem Humor liegt. Die Filmchen von Greg und Earl sind schon im Titel sensationell: „Death in Tennis" (statt „Death in Venice" nach dem anderen Thomas Mann!), „Apocalypse Wow!" oder „Sockwork Orange", komplett von Socken gespielt. Dazu gibt es Farben wie im „Grand Budapest Hotel" von Wes Anderson, immer wieder überraschende Schwenks und Greg redet gekonnt im eigentlich unnachahmlichen Werner Herzog-Englisch. Ja, hier erzählt ein Filmfan die Geschichte eines Filmfans, doch es bleibt eng verwoben mit der anderen Geschichte um Rachel unaufdringlich. Ein schöner, passender Mehrwert, wenn selbstverständlich auch in Text und Musik Truffauts unvergessener Jugendfilm „Sie küssten und sie schlugen ihn" zitiert wird. Das ganz eigenständige, poetische Finale ist dann noch mal Perle und Erkenntnis-Schatz, den man gut in das DVD-Regal der wirklich wichtigen Lebensweisheiten stellen kann.

Bei all dem Guten ist man sich ganz sicher: Dies ist ein Film von einem ganz großen, dies kann nur von Charlie Kaufmann oder Spike Jonze sein. Doch der Name zum Merken lautet Alfonso Gomez-Rejon. (Sowie Jesse Andrews, der Drehbuch und den Roman „Ich und Earl und das sterbende Mädchen" schrieb.) Gomez-Rejon drehte einige Folgen „Glee" und „American Horror Story", sowie den optisch sehr anspruchsvollen Teenie-Horror „Warte, bis es dunkel wird". Nun wartet man ungeduldig auf den Nachfolger dieses großartigen „Ich und Earl und das Mädchen".

Familienbande (2015)

Irland 2015 (You're ugly too) Regie: Mark Noonan mit Aidan Gillen, Lauren Kinsella, Erika Sainte, George Pistereanu 81 Min. FSK: ab 6

Rau ist diese Gegend Irlands, rau der Typ. Doch die Flüche und das Spucken seiner Pflege-Tochter Stacey (Lauren Kinsella) gehen selbst dem gerade entlassenen Häftling Will (Aidan Gillen) zu weit. Was dank toller Schauspieler selbst in dem nicht unbedingt seltenen Genre ungleicher Paarungen von Anfang an packen kann: Denn Will kümmert sich nach Jahren erstmals um Stacey, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Er ist zwar ein ungezwungen wirkender, spontaner Typ mit sehr schönem, lässigem und unangepasstem Humor, doch das sind alles keine Vater-Qualitäten. Wobei es momentan jeder mit der trotzig trauernden Stacey schwer haben würde. Äußerlich lässt sich der sympathische Teenager nichts anmerken, aber immer mal wieder fällt sie vor lauter emotionalen Stress in Ohnmacht.

So landen die beiden in einem wenig reizvollen Trailer-Park mitten in trister Torflandschaft. Dass in der humorlos und falsch betitelten „Familienbande" trotzdem keine Tristesse aufkommt, liegt an den reizvollen Ecken und Kanten aller Personen, den grandios motzigen und rotzigen Dialogen. Dazu entsteht noch eine ungewöhnliche Freundschaft zu neuen Nachbarn, bei denen der Mann erstaunlich oft und offen auf die Attraktivität seiner ohnehin schon zu verführerischen Freundin hinweist. Will bedient sich derweil bei den Amphetaminen für seine Tochter und irgendwann erfahren wir mit Stacey, dass er nur wegen ihr auf Bewährung aus dem Knast kam. Wenn das Tribunal der Sozialdienstler nicht zufrieden ist, muss er die letzten sechs Monate noch absitzen.

Das ist jedoch nicht die einzige Überraschung des ruhigen und wunderbar intensiv auf seine Figuren konzentrierten Films. Der es sich erlaubt, keine einfache Lösung vorzugaukeln. Was ein Beispiel dafür ist, dass das Wohlfühlen aus den Wohlfühlfilmen auch aus einer genau passenden Machart erwachsen kann. Aus guter Geschichte von Autor und Regisseur Mark Noonan, aus klasse Kamera und hervorragenden Schauspielern. Aidan Gillen, der Darsteller des Will ist nicht nur hier extrem präsent. Wer den „Game of Thrones"-Teilnehmer als verführerischen Schurken in „Maze Runner 2" erlebt hat, wird sich sofort erinnern.

10.11.15

Die Highligen Drei Könige

USA 2015 (The night before) Regie: Jonathan Levine mit Seth Rogen, Joseph Gordon-Levitt, Anthony Mackie, Lizzy Caplan, Miley Cyrus, Michael Shannon 110 Min.

Der erste Weihnachtsfilm der Saison bekommt hier immer eine Breitseite, die einer Invasion von Lebensmittelmotten in die viel zu früh angekarrten Lebkuchen und Printen aller Discounter entspricht. Doch diesem völlig bekloppten, durchgeknallten und chaotisch gelungenen Christmas-Punk sei verziehen. Wenn Seth Rogen als jüdischer Weihnachts-Boykotteur einen weißen Messias ans Kreuz nagelt, kann endlich ein Film dem „Leben des Brian" den heiligen Gral reichen.

Seit 2001 kurz vor Weihnachten Ethans (Joseph Gordon-Levitt) Eltern starben, feiern seine Freunde Isaac (Seth Rogen) und Chris (Anthony Mackie) Heiligabend rituell mit einem festen Ablauf aus Party, Karaoke und chinesischem Essen. Nun hat Chris als Sportler Karriere gemacht und Isaac wird bald Vater, also steht die Tradition vor dem Aus. Das letzte Fest soll jedoch einmal rauschend werden, denn Ethan hat endlich Karten für die jahrelang gesuchte geheimnisvolle Weihnachtsparty „Nutcracka Ball" klauen können. Isaacs kumpelhafte Frau Betsy (Jillian Bell) stattet die Jungs mit einem berauschenden Weihnachtspäckchen aus und los geht der Kultur-Clash aus verkitschten christlichen Traditionen und Exzessen im Stil von „Hangover".

Ohne Drogen und ein paar Liter Glühwein bleibt dieser unbeschreibliche Film schwer zu fassen: Nett wie die Jungs in ihren Acryl-Pullovern mit Davidstern (Isaac), einem schwarzen Nikolaus (Chris) und Rentieren (Ethan) schwitzen. Grandios wie Seth Rogen wieder eine mehrfache Überdosis von allem möglichen spielt. Das konnte er (auch mit James Franco) 2008 schon gut in „Ananas Express" von Judd Apatow. Selbstverständlich wird dieser „highe" Weihnachtsfilm nach mäßigem Start deftig im Stile von „Bad Santa". Aber in aller auch stilistischer Konfusion wird dann noch eine Liebesgeschichte, die Zweifel des werdenden Vaters, die Wandlung eines Steroide spritzenden Sportlers, ein Drogen dealender Engel (himmlisch: Michael Shannon), eine iPhone-Verwechslung mit belastendem Material auf beiden, etwas schwule Romantik (mit James Franco) und ein Auftritt von Miley Cyrus untergemischt. Das ist Christmas Carol auf Speed. Das ist ein Great Gatsby, der Geist der Weihnacht spielt und mit Gras das Wahrheit verkündet. Also alles großartig wahnsinnig und komisch, wobei es schade und schön ist, dass alles gut ausgeht.

Nach dem ernsthaft komischen „50/50" - ebenfalls mit Joseph Gordon-Levitt - legt Jonathan Levine einen Film für Weihnachtshasser (samt Grinch) und in Bezug auf das „Highlige" Fest unentschieden Bisexuelle hin. Ein Meilenstein der feierlichen Beklopptheit.

Virgin Mountain

Island, Dänemark 2014 (Fúsi) Regie: Dagur Kári mit Gunnar Jónsson, Ilmur Kristjánsdóttir, Sigurjón Kjartansson 95 Min. FSK: ab 12

Man sollte ihm einen Nobelpreis für das Anderssein verleihen! Der isländische Regisseur Dagur Kári begeisterte schon mit seinem Debüt „Nói Albinói" (2002), dann mit der Geschichte eines jungen, unkonventionellen Legasthenikers in „Dark Horse" (2005) und etwas weniger mit seiner englisch-sprachigen Kneipen-Romantik „Ein gutes Herz" (2009). Jetzt ist er mit „Virgin Mountain" wieder in vertrauten nordischen Sphären. Die Geschichte vom gutmütigen aber extrem zurückgezogenen Mittvierziger Fúsi könnte ein Trauerspiel sein. Der sehr massige Kerl lebt noch bei seiner Mutter und wird von den Kollegen an der Gepäckabfertigung eines Flughafens gemobbt. Doch mit herrlich trockenem und leisem Humor darf Fúsi sich aus seinem Schneckenhaus trauen. Zuerst bekommt der Metall-Fan einen völlig unpassenden Line Dance-Kursus geschenkt, trifft dabei aber auf die kleine, attraktive Sjöfn. Es ist keineswegs einfach mit der manisch-depressiven Frau, doch irgendwann zersägt Fúsi sogar seine Wüstenlandschaft auf Spannplatte, mit der er dauernd Rommels Niederlage von El Alamein nachspielt.

Es ist groß, wie Gunnar Jónsson den zu sensiblen Riesen Fúsi spielt. Sympathisch sein die kleinen Spleens wie die Fern-Freundschaft mit dem Radio-DJ, der ihm jeden Abend einen Musikwunsch erfüllt. Die Geschichte von Regisseur und Autor Dagur Kári bewegt sich perfekt zwischen den Abgründen von Weinerlichkeit und grobem Humor. Sie überrascht immer wieder, jedoch ebenso feinfühlig, wie sich Fúsi emanzipiert. Ob er das Ägypten seiner Sandkasten-Spiele tatsächlich sehen wird, ist bei diesem schönen Psychogramm eigentlich unwichtig. Die ganze Entwicklung ist ein großes Vergnügen.

Erinnerungen an Marnie

Japan 2014 (Omoide no mânî) Regie: Hiromasa Yonebayashi 104 Min. FSK: ab 0

Auch wenn die Anime-Legende Hayao Miyazaki („Mein Nachbar Totoro", „Chihiros Reise ins Zauberland", „Prinzessin Mononoke") sich zurückgezogen hat, das legendären Ghibli Animationsstudio verzaubert weiterhin mit Animationsfilmen, die unser Verständnis dieser Technik sprengen. „Erinnerungen an Marnie" erzählt vom stillen, asthma-kranken Waisenmädchen Anna, das von ihrer Pflegemutter Yoriko den Sommer über zu Verwandten aufs Land geschickt wird. Dort entdeckt Anna ein altes Schloss am Ufer, das nur bei Ebbe zu Fuß zu erreichen ist. Immer wieder zieht es das Mädchen dort hin und schließlich trifft sie ein mysteriöses blondes Mädchen. Marnie wirkt in feinen Kleidern wie aus einer anderen Zeit. Doch dann, als Anna von einem Schwächeanfall erwacht, ist das Haus völlig verlassen.

Dieser neue, wunderbare Film der Gibli-Studios erzählt seine Kindergeschichte sehr ruhig und erstaunlich erwachsen, wie in einem alten Roman. Wenn Anna und Marnie das bedrohliche, verlassene Silo erkunden, in dem früher angeblich Kinder eingesperrt wurden, hat der märchenhafte Film etwas von gutem britischen Horror. Doch findet er bald wieder zu seinem leichten melodramatischen Klang, der in der finalen Auflösung in voller Harmonie mündet. Anna findet mit Reisen in Vergangenheit und Fantasie einen Weg, das Trauma vom Tod ihrer Eltern zu verarbeiten. Regisseur Hiromasa Yonebayashi („Arrietty – Die wundersame Welt der Borger"), der bei Hayao Miyazaki in die Schule ging, erzählt eine traurige und sehr, sehr schöne Geschichte. Die Vorlage stammt von der englischen Kinder- und Jugendbuchautorin und Illustratorin Joan G. Robinson (1910 - 1988).