9.12.14

Winterschlaf

Türkei, Frankreich, BRD 2014 (Kis Uykusu) Regie: Nuri Bilge Ceylan mit Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbag, Ayberg Pekcan 196 Min.

Mit „Winterschlaf" präsentiert der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan seine anatolischen „Szenen einer Ehe" und erneut ein großes, ein Meister-Werk, das in Cannes die Goldene Palme und den Fipresci-Preis erhielt: Alles dreht sich um Aydin (Haluk Bilginer), einen reichen, ehemaligen Schauspieler, der in einem malerischen und touristischen Dorf Kappadokiens ein kleines Hotel betreibt und ein paar der in den charakteristischen Kalkstein gehauenen Wohnungen besitzt. Mit ihm leben seine jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen) und - nach einer Trennung - die ältere Schwester Necla (Demet Akbag). Während der Winter einbricht, entdeckt man immer mehr negative Facetten des charmanten Seniors. Wie er sich im Hintergrund hält, während der Streit seines Angestellten Hidayet mit einem aggressiven Mieter und Schuldner eskaliert, ist symptomatisch. Aydin schreibt zwar moralisch belehrende Kolumnen für eine Regionalzeitung, doch immer öfter lässt sein eigenes Handeln moralische Richtlinien vermissen. Ausgerechnet an einem örtlichen Wohltätigkeitsprojekt entzündet sich ein Streit der distanziert nebeneinander lebenden Eheleute. Nun erweist sich der alte Herr mit gemeinen Psychospielchen als Tyrann. Derweil schneien die bizarren Hügel der eindrucksvollen Landschaft immer mehr ein...

Ganz beiläufig wird in dem über drei Stunden fesselnden Film Nächstenliebe, Mitgefühl und gesellschaftliche Verantwortung durchdekliniert. Man muss schon ganz uninformiert sein, um nicht im sich erhaben gebenden Patriarchen, der innerlich eher klein und erbärmlich ist, an aktuelle Politiker des Landes zu denken. Dass mit Haluk Bilginer ein sehr bekannter türkischer Soap-Star den hier renommierten Schauspieler Aydin gibt, der auch noch eine Geschichte des türkischen Theaters schreibt, ist ein netter Insider-Witz. Der noch einmal die Figur aushöhlt.

Nuri Bilge Ceylan ist einer der großartigsten Regisseure unserer Zeit, der gleichzeitig äußerst sensibel und scharf Menschen nachspürt, aber auch mit seinen Bildern ganz nahe an der Malerei ein einzigartiger Leinwand-Künstler ist. Schon 2002 gewann er in Cannes den Großen Preis der Jury für „Uzak", ebenso 2011 für „Once Upon a Time in Anatolia", die Beste Regie dann 2008 mit „Drei Affen". Die Goldene Palme für „Winterschlaf" ist mehr als verdient.

Wie Ceylan in „Winterschlaf" anhaltend packt, ist in vieler Hinsicht bemerkenswert: Da sind draußen die Aufnahmen der Landschaft, die ganz stark Ceylan, den Fotografen zeigen. Wer im Internet nuribilgeceylan.com wird immer noch mit dieser verschneiten Straße in Istanbul begrüßt und in der Abteilung Fotografie sind viele seiner faszinierenden, archaischen Landschaften, denen er nun die Kegel und Höhlen von Kappadokiens hinzufügt. Innen drin dann die Gespräche. Lange Gespräche. Mit der verbitterten Schwester, mit der eingeschüchterten Frau. Und doch sind sie keine Minute zu lang, diese kleinen Dramen, diese spannungsgeladenen intellektuellen Zerfleischungen und Selbstentblößungen. Dazu weitere Szenen großartigen Schauspiels auf Basis eines sehr klug das Menschliche erspürenden Drehbuchs. Etwa wenn der stolze Schuldner die Spende, den Ablass der zu aufdringlich gutherzigen Nihal einfach ins karge Kaminfeuer wirft. Und dann das großartige Schlussbild, in dem Aydin, den immer eine Sehnsucht nach Freiheit in Form von wilden Pferden und Motorrad-Touristen streifte, endlich in freier Natur ganz ohne Worte in Selbsterkenntnis zerfließt.