26.11.14

The Green Prince

BRD, Israel, Großbritannien, USA 2014 Regie: Nadav Schirman 105 Min. FSK: ab 12

Spannender als die meisten Agentenfilme und informativer als alle Nachrichten ist diese Dokumentation über Mosab Hassan Yousef, dem Sohn eines hochrangigen Hamas-Führers, der unter dem Codenamen „The Green Prince" länger als ein Jahrzehnt der wichtigste Informant für Israels Geheimdienst Schin Bet war.

Mit 17 Jahren wurde Mosab im Gefängnis rekrutiert und verriet nach der Erfahrung, wie brutal Hamas in den israelischen Gefängnissen mit den eigenen Leuten umgeht, als Informant Freunde und Familie. Die erstaunliche Dokumentation von Nadav Schirman verbindet die Aussagen von Mosab Hassan Yousef mit seinem israelischen Kontaktmann, dem Schin Bet-Agenten Gonen Ben Itzhak. Auch nach der Enttarnung und nach Mosabs Flucht blieben die beiden im Kontakt. Vor allem die Erzählungen von Mosab - nach seinem Buch „Sohn der Hamas: Mein Leben als Terrorist" - sind erschreckend und schockierend, das teils nachgedrehte Bildmaterial kann und braucht nicht mitzuhalten.

Der Koch

BRD, Schweiz 2014 Regie: Ralf Huettner mit Hamza Jeetooa, Jessica Schwarz, Hanspeter Müller-Drossaart 106 Min. FSK: ab 12

Martin Suters Romane verkaufen sich gut wie Fast Food und werden fast automatisch verfilmt. Jetzt noch das Erfolgsrezept der Kochfilme untergemischt, müsste eine Sensation in der Dimension von Maggi entstehen. Doch auch das ist Geschmackssache. Maravan (Hamza Jeetooa) floh als Kind dem Bürgerkrieg Sri Lankas und lebt wie 40.000 Exil-Tamilen in der Schweiz. Die Küchenhilfe will eigentlich Gerichte aus der Heimat, aber anders zubereiten, entdeckt dabei mit den molekular gekochten Rezepten der Großmutter ein besonderes Kapitel ayurvedischer Küche. Die aphrodisierenden Happen machen aus der anfangs abweisenden, verschlossenen Kollegin Andrea (Jessica Schwarz) eine sinnlich losgelöste, lustvolle Partnerin. Zusammen versorgen sie zuerst ein blockiertes Sexualtherapeuten-Paar und danach deren Kunden mit erregendem Erfolg. Der wird fernsehgerecht nur kreischend und mit einem BH im Pool angedeutet. Maravan und Andrea kochen sich in die bessere Gesellschaft hoch und treffen da wenig überraschend den Waffenhändler, der sich am Morden der tamilischen Heimat bereichert. So gerät der Film nach einer Stunde zum Politthriller.

Man meint „Madame Mallory und den Duft von Curry" zu riechen bei der angedeuteten exotischen Verführung über den Gaumen. Doch Bestseller-Koch Suter will auch mal politisch, was mit dem Konstrukt um den sehr angepassten, sehr ernsten Maravan mäßig gelingt. Allerdings erzählen im Film ohne das groß Aufgesetzte eher die kleinen Begegnungen mit Flüchtlingen aus aller Welt in der reichen Schweiz etwas (Be-) Treffendes. Maravan, dem die pure Lust ohne romantische Seite nichts gilt, und der herzlose Schweizer verachtet, kann mit seinen Rezepten Einiges verwandeln, aber nicht die Welt verändern. Was wohl auch für Kochfilme gilt.

Auf das Leben!

BRD 2014 Regie: Uwe Janson mit Hannelore Elsner, Max Riemelt, Sharon Brauner, Aylin Tezel, Andreas Schmidt 90 Min. FSK: ab 12

„Als ich klein war, wollte mich dieses Land mit allen Mitteln ermorden. Jetzt wo ich alt bin, stecken die mich in ein Zimmer mit Gittern und ohne scharfe Ecken und Kanten, nur damit ich mich nicht umbringe." „Eine positive Entwicklung, würde ich sagen." Es sind Dialoge wie dieser, die im neuen Films von Film- und Tatort-Regisseur Uwe Janson zünden.

Die alte Cabaret-Sängerin Ruth Weintraub (Hannelore Elsner) wird „geistig und organisch gesund" in die Psychiatrie gesteckt, weil sie sich nach Pfändung und Umzug in ein furchtbares Wohnsilo umbringen wollte. Es rettet sie der wohnungs-, ziel- und auch bald arbeitslose Möbelpacker Jonas (Max Riemelt). Jonas hat sich bei den ersten Anzeichen von Multipler Sklerose, an der auch seine Mutter starb, von seiner Freundin abgesetzt und flieht jetzt der Angst. Nun ähnelt Jonas aber auf verblüffende Weise Ruths großer Liebe, dem Filmstudenten Victor, was eine Flut von Erinnerungen auf die alte Dame und den verzweifelten Jungen niederprasseln lässt.

Selten wurde eine Rückblende exakter eingesetzt wie hier mit einem rückwärts laufenden Filmprojektor, der Victors Film über die junge jiddische Sängerin Ruth (Sharon Brauner) zeigt. Von da aus geht es in einem schwarzweißen Albtraum noch weiter zurück zur Deportation ihrer jüdischen Eltern und der eigenen Flucht mit Hilfe von Partisanen. Die stolze Frau, Paraderolle für Elsner, die ihr Leben lang als Holocaust-Überlebende stark war, knickt kurz ein, hat dann doch aber genug Energie, um das Selbstmitleid von Jonas zu vertreiben.

„Ich kenn mich damit nicht aus, mit dem ganzen jüdischen ..." „Keine Sorge, ist nicht ansteckend." So sarkastisch, wunderbar spöttisch, wäre die dringend notwendige Erinnerung ein Spaß, wenn die Albträume vom Holocaust nicht so furchtbar wären. Uwe Janson versucht nach einem Buch von Thorsten Wettcke beides zu verbinden und kann auf gute Darsteller bauen. Das ist teils trauriger Liebesfilm, teils einfacher, zu einfacher Mutmacher von und für Überlebende. Dabei sind die problematischen Eckdaten gut gesetzt: Mathieu Carrière als Judenjäger und in der Nachkriegsrepublik gefeierter Fotograf des Schreckens. Das Problem eines Pazifisten mit der Rache einer Entrechteten. Doch mit einem schmissigen Lied und einer sehr ästhetischen Schluss-Einstellung das Weiterleben feiern, ist als Lösung wirklich sehr einfach.

Produzentin Alice Brauner setzt mit „Auf das Leben" die Erinnerungs-Arbeit ihres Vaters fort, des legendären, mittlerweile 96 -jährigen Produzenten hunderter Filme und CCC-Studio-Gründers Atze Brauner. Die junge Ruth spielt übrigens sehr schwungvoll und lebendig Sharon Brauner, eine Nichte Atze Brauners.

Das Verschwinden der Eleanor Rigby

USA 2014 (The Disappearance of Eleanor Rigby: Them) Regie: Ned Benson mit Jessica Chastain, James McAvoy, William Hurt, Isabelle Huppert, Jess Weixler 123 Min. FSK: ab 6

Sie und er im Glück. Sie verlässt ihn. Er und sie leiden. Er versucht, sie wieder zu finden. Nicht die neueste Geschichte der Welt, aber Ned Benson gelingt es, den alten Hit mit zwei tollen Schauspielern und neuen Blicken auf New York wieder in die Herzen zu bringen. Die schöne und bewegende Geschichte um „Das Verschwinden der Eleanor Rigby" hat außerdem noch eine außergewöhnliche Vorgeschichte, von der wir hoffentlich bald mehr sehen werden.

„All the lonely people, where do they all come from?" Wie Eleanor Rigby (Jessica Chastain) und Conor Ludlow (James McAvoy) in ihre Einsamkeit gerieten, erfahren wir erst, nachdem wir mittendrin sind im romantischen Leiden und Sehnen. Dem leichten, romantischen Spaß der Eingangsszene einer von Glühwürmchen umspielten Liebe auf der Sommerwiese folgt im kalten Sonnenschein der Sprung von einer New Yorker Brücke in den Fluss. Die tieftraurige Eleanor wird zwar gerettet, doch aus dem Krankenhaus verabschiedet sie sich auf Nimmerwiedersehen von Conor. Der erreicht sie tatsächlich nicht mehr und auch sein kleines Restaurant geht den Bach runter. Während Eleanor sich bei Eltern und Schwester vor der Stadt einquartiert, was nur wir wissen, zieht Conor zum Vater, dem erfolgreichen Restaurant-Chef, der noch verschlossener ist als er.

„Das Verschwinden der Eleanor Rigby" bestand noch vor einem Jahr aus zwei Filmen, die mit „Her" und „Him" (sie und er) bezeichnet, beim Toronto Filmfestival mit getrennten Perspektiven hintereinander über 190 Minuten überzeugten. Sowohl in der Reihenfolge „Him and Her" als auch als „Her and Him". Jetzt vermisst man direkt die ganze Stunde, die im Zusammenschnitt namens „Them" (sie beide) fehlt, so berührend und glaubwürdig legt Regisseur und Autor Ned Benson die alte Leier noch einmal auf.

Vor allem Jessica Chastain wirkt in der Darstellung von Zerbrechlichkeit ungeheuer stark. Wie sie den leeren Blick durch das ziellose Leben von Eleanor schleppt, der Sinnlosigkeit trotzt, ist ein bitter-trauriges Vergnügen. Dazu ist das Umfeld der beiden Hauptdarsteller eindrucksvoll besetzt: William Hurt als Eleanors Papa und Psychoanalytiker, der all sein Können in einer Szene eines späten Geständnisses zeigt. Isabelle Huppert (mit furchtbarer Dialekt-Synchro) als distanzierte Mutter, immer mit einem Glas Rotwein in der Hand.

„Ich kenne dich nicht." „Ich mich auch nicht." Mit solchen, eher das Alltägliche als das Existenzielle treffenden Dialogen erdet Benson die Liebesgeschichte im Vergleich zu künstlichen perspektivischen Spielereien wie von Alan Ayckbourn („Smoking" / „No Smoking"). „Eleanor Rigby" wirkt einen Touch echter als Hollywood-Dramen, spielt mit Handkamera auf Straßen, die nicht alle abgesperrt wurden und findet trotz des oft abgefilmten New Yorks frische und tolle Aufnahmen. Und auch das großartige andere Lied in diesem anderen Liebes-Film, der nach einem Lied benannt ist, eine sagenhafte Pianoversion von Bowies „Wild is the wind", ist ein Glücksmoment in dieser ganzen Reihe von Scherbenhaufen, die sich Leben nennen. (Selbstverständlich gibt es auch eine Erklärung der Beatles-Referenz im Titel.) „Eleanor Rigby" hat nicht die Nettigkeit anderer romantischen Komödien oder Tragödien, ist ziemlich bitter. Wir halt das Leben manchmal. Und die Kunst macht es trotzdem zum bitter-süßen Genuss.

24.11.14

The Zero Theorem

Großbritannien, Rumänien, Frankreich, USA 2013 (Zero Theorem) Regie: Terry Gilliam mit Christoph Waltz, David Thewlis, Mélanie Thierry, Lucas Hedges, Matt Damon, Tilda Swinton 107 Min. FSK: ab 12

Verrückt dieser doppelte Waltz in einer Kinowoche, doch der alte Monty Python und Film-Hippie Terry Gilliam schießt in „The Zero Theorem" den Begriff „verrückt" sowieso in eine neue Dimension. Gilliams „Brazil 2.0" ist ein Update des Science Fiction-Klassikers, ein Kammerspiel in der virtuellen Einsamkeit.

Wer ist seltsamer? Dieser sonderbare Lohn-Hacker Qohen Leth (Christoph Waltz), der in einer alten Kirche haust und dem es vor dem Draußen graust, oder dieses neonbunte Draußen mit Menschen, die verzweifelt grell dagegen ankämpfen, zwischen all den Werbe-Bildschirmen unterzugehen? Qohen jedenfalls, der von seinem wahnsinnig dummen Vorgesetzten Joby (David Thewlis) immer Quinn genannt wird, verabscheut die moderne Welt. Er ist ein Mönch unter allen ziellosen Party-People, die immer mit einem Phone oder Pad in der Hand beschäftigt sind. Auf seinem skurrilen Arbeitsplatz wimmelt es von unsinnigen Tätigkeiten, die wunderbar piepsen und scheppern. Dies nur eines von vielen Elementen dieser Zukunfts-Welt, die stark an Gilliams „Brazil" erinnert.

Der extreme, glatzköpfige Nerd Qohen, der immer in einem auf den Kopf gestellten Pluralis Majestatis von sich als „Wir" redet, fühlt keine Freude, fühlt nichts. Dafür wartet er. Auf einen Anruf, der ihm den Sinn des Lebens kundtun soll. Abgesehen von der allen bekannten Antwort „42" eröffnet sich dem verrückt genialen Zahlen-Akrobaten ein neuer Ansatz: Der mysteriöse Chef des alles bestimmenden Über-Konzerns „Man-Com" (Matt Damon) taucht aus dem Nichts auf vor ihm. Perfekt getarnt im Zebrastreifen-Anzug auf Zebrastreifen-Sessel. Und meint, Qohen solle das Zero Theorem lösen. Also beweisen, dass die Summe aller Existenz letztlich Null ist. Alles ist Nichts also. Eine Aufgabe, an der schon viele scheiterten, und die auch Qohen in den Wahnsinn treiben wird. Aber war er nicht schon wahnsinnig? So bleibt unklar, ob die sehr nette Cyber-Prostituierte Bainsley (Mélanie Thierry) und der Management-Sohn Bob (Lucas Hedges) real oder nur Programme sind...

Und was ist mit Tilda Swinton als keifende, rappende Dr. Shrink-Rom? Ein wunderbar schräger Auftritt jedenfalls, zusammen mit herrlich lächerlichen futuristischen und retro Technik-Gadgets. Die Ziehharmonika-Schläuche am zentralen Gehirn stammen aus der Sanitär-Sauerei vom „Brazil"-Terrorist DeNiro als Harry Tuttle. Die Plakatwände versprechen wieder das (Urlaubs-) Paradies, diesmal nur elektronisch personalisiert. Ja, auch der Wechsel zwischen traumhaften Szenen und dem Absturz aus der Traum-Romantik wiederholt sich. Ein Kinderspielplatz mit einer meterhohen Wand voller Verbotsschilder ist bitter wie das echte Leben. Die Dauer-Überwachung im Schwarzweiß hochaktuell und kein Snowden von gestern.

„Der Sinn des Lebens" beschäftigte schon die britische Komikertruppe Monty Python, auch die gleichnamige Sketch-Sammlung war vom Scheitern an dieser Frage bestimmt. Damals war Terry Gilliam vor allem für die Animationen der Python-Truppe verantwortlich und irgendwie wirkt das Cyber-Kammerspiel „Zero Theorem" wie die bunten Papp-Bildchen damals. Es hat eindeutig das niedrigste Budget Gilliams seit langem. Seine letzten Filme „Brothers Grimm", „Tideland" und „Doctor Parnassus" konnten nur künstlerisch überzeugen. Weit zurück liegen Erfolge wie „Brazil", „Time Bandits" oder „König der Fischer" (mit dem gerade verstorbenen Robin Williams). Der Film „Zero Theorem" selbst verhält sich zu früheren von Gilliam nun allerdings so steril wie Cyber-Sex zum schwitzigen, feuchten und unkontrollierbaren echten. Wenngleich er immer noch prall vom Kitzel verrückter und spaßiger Ideen steckt. Gilliam folgt also nicht seinem Protagonisten Qohen, der sich mit dem schönen Schein zufrieden gibt und aufhört, (zuviel) zu grübeln.


Kill the Boss 2

USA 2014 Regie: Sean Anders mit Jason Bateman, Charlie Day, Jason Sudeikis, Christoph Waltz, Jennifer Aniston, Jamie Foxx, Chris Pine, Kevin Spacey 108 Min.

Den ersten Teil der Waltzer-Wochen sollte man sich nur antun, wenn man wirklich keinen, aber auch gar keinen Auftritt vom Oscar-Sieger Christoph Waltz verpassen will: Der Österreicher spielt in „Kill the Boss 2" einen besonders zynischen Unternehmer, lateinisch auch Heuschrecke genannt. Und im Zusammenspiel mit vier besonders lauten Klamaukanten wird aus der erbärmlichen Komödie ein Thriller: Denn mit Spannung wartet man immer drauf, dass Christoph Waltz wieder einen Kurzauftritt hat - den Rest des nervigen Spaß-Krampfes hätte man am Schneidetisch unter denselben fallen lassen sollen. Höchstens noch die Minuten mit Kevin Spacey wären der Rettung wert.

Wieder wollen sich Nick, Dale und Kurt (Jason Bateman, Charlie Day und Jason Sudeikis) von den Arbeitgebern verabschieden und diesmal eine eigene Firma gründen. Der Investor Bert Hanson (Christoph Waltz) verspricht einen Riesenauftrag für die Brauseköpfe der drei Wirrköpfe, doch bei Lieferung verweigert er die Zahlung - um Wochen später die bankrotte Firma aufkaufen zu wollen. Der neue Plan der Trottel ist noch bescheuerter, sie wollen den ekligen Sohn Hansons kidnappen. Was allein gelingt, weil der nur zu gerne selbst mitmacht und den Großteil der Lösegeldes einsacken will.

Bis auf die - in so einem dämlichen Film erstaunliche - Erkenntnis „Nicht harte Arbeit, Geld verdient Geld" hat die überdrehte Klamotte nichts mit dem klassenkämpferischen Originaltitel „Horrible Bosses 2" zu tun. Es sind eher horrende Rollen, in denen Jason Bateman, Charlie Day und Jason Sudeikis mit einer penetranten Ignoranz gegenüber Timing oder Rhythmus konstant quatschen und Quatsch machen. Hier werden schmutzige Witze kleiner Jungs mit Millionen aufgeblasen, wenn drei äußerlich erwachsene Unternehmer das Geschäft ihres Lebens machen wollen, aber nur der Sekretärin hinterher glotzen und große, ungelernte Busen einstellen. Die zwei Idioten und ihr Mitläufer Nick nerven als ein erstaunlich dauerplapperndes Komödien-Trio. So bleibt nur Hoffnung auf die Handvoll Gastauftritte, doch dabei gibt es dann Jennifer Aniston als unheilbare Sexsüchtige. Es gibt immer ein Schlimmer ... und wahrscheinlich sogar einen Teil 3.

19.11.14

Die Legende der Prinzessin Kaguya

Japan 2014 (Kaguyahime No Monogatari) Regie: Isao Takahata 138 Min. FSK: ab 0

Mit einem überraschenden Kunstwerk bereichert das Animations-Studio Ghibli die Kino-Landschaft: Die liebevoll zart gestaltete Umsetzung eines japanischen Volksmärchens erzählt vom Kind, das ein Bambus-Sammler in einem Stamm findet. Kaguya ist ein frecher Wildfang, überrascht aber auch immer mit ganz erstaunlichen Fähigkeiten. Sie wächst rasant. Als der Bambus dem Mann mal Goldstücke, mal feine Tücher beschert, schicken sie ihre Ziehtochter in die Stadt. Der Gouvernante und Lehrerin im neuen Palast entflieht sie bei jeder Gelegenheit, doch ganz von selbst beherrscht sie das Koto-Spiel. Die Erziehung zur Prinzessin für die höhere Gesellschaft raubt fast komplett ihre Natürlichkeit. Bis hin zur schmerzhaften Entfernung der Augenbrauen und dem Schwarzmalen der Zähne. Denn eine Prinzessin soll doch nicht lachen. Dieses unglücks-reiche Leben im goldenen Käfig gewinnt bei der scheinbar einfachen Zeichnung die Kraft eines echten Dramas. „Die Legende der Prinzessin Kaguya" zeigt wieder einmal, dass Animation nicht gleichzeitig Kinderfilm bedeutet.

Der neueste Ghibli-Film ist eine große epische Nacherzählung einer mythischen Geschichte - oder eines Märchens, wie es Disney sagen würde. Doch im Gegensatz zu aktuellen Kinotrends kommt „Die Legende der Prinzessin Kaguya" nicht bombastisch daher. Ganz unüblich für das Studio Ghibli sind Zeichenstrich und Farben reduziert. Die Farbflächen zwischen den deutlichen Linien sind wie in einer Aquarell-Skizze nicht ganz vollständig ausgefüllt. Das wirkt auf den ersten Blick naiv, verbirgt aber gleichzeitig eine Kunstfertigkeit, die zunehmend fasziniert. Wie der Strich ist auch die Musik von Joe Hisaishi sehr reduziert, ganz selten erklingt eine Erinnerung an Arvo Pärt. Zudem wird die japanische Geschichte mit authentischem Stil präsentiert, so wie die „afrikanisch" gemalten Erlebnisse von „Kiriku".

Anfangs, in der Kindheit von Kaguya geht die Lieblichkeit der Zeichnungen einher mit putzigen Kinderfiguren, ganz ähnlich wie bei Miyazakis „Ponyo". Doch dies ist keine Kindergeschichte, denn das Leben der Prinzessin droht zum Melodram zu werden. Die märchenhafte Aufgabe an fünf Bewerber, ihr die schönfärberisch beschriebenen Schätze zu bringen, führt zu spaßigen Szenen, wenn sich die eitlen Reichen als schäbige Betrüger erweisen. Doch die Gefahr, die eigene Freiheit zu verlieren, ist Kaguya immer anzusehen.


Keine gute Tat

USA 2014 (No Good Deed) Regie: Sam Miller mit Idris Elba, Taraji P. Henson, Leslie Bibb 84 Min. FSK: ab 16

Ein entlaufener Krimineller, ein Sturm, eine einsame Frau, deren liebloser Mann auf einer Reise ist. Die Bestandteile für diesen heftigen Thriller sind übersichtlich. Dabei macht der Film mit brutalen Szenen klar, zu was seine psychopathische Hauptfigur Colin (Idris Elba) fähig ist. Aber auch, wie überzeugend freundlich und charmant er sein kann. So umgarnt er auch in der Sturmnacht die einsame Mutter Terry (Taraji P. Henson), die seine Verletzungen nach einem Autounfall verpflegt und die nassen Klamotten trocknet. Dass sie sich ein verführerisches Monster ins Haus geholt hat, macht die Spannung für die letzte Stunde des Films aus. Anders als im grandiosen „Labour Day" mit Kate Winslet und Josh Brolin in den Hauptrollen soll es hier nicht auch noch erotisch spannend werden, baut das Kind hier nicht zusätzlich eine Dreiecks-Beziehung auf. Einfach konstruiert, grob ausgeführt und mit überlauten Schockeffekten begrenzt effektiv. Dazu extrem vorhersehbar und sehr, sehr flach auch bei den Figuren. So dürfte „Keine gute Tat" keine gute Kasse machen.

18.11.14

Höhere Gewalt (2014)

Schweden, Frankreich, Dänemark, Norwegen 2014 (Turist / Force Majeure) Regie: Ruben Östlund mit Johannes Bah Kuhnke, Lisa Loven Kongsli, Clara Wettergren, Kristofer Hivju, Fanni Metelius 118 Min.

Schüsse in den Bergen. Doch nichts Dramatisches, eigentlich. Die Explosionen sollen nur kontrolliert Lawinen abgehen lassen. Allerdings entblößt so eine Lawine unfreiwillig die wahren Interessen des schwedischen Familienvaters und Ski-Touristen Tomas (Johannes Bah Kuhnke). Als die weiße Wand auf die Restaurant-Terrasse zurollt, schnappt Tomas sein Handy und rennt weg. Zurück im leichten Staubnebel bleiben Frau Ebba (Lisa Loven Kongsli) sowie die beiden Kinder.

Von nun an zeigt sich ein anderes Bild als das des Fotografen am Lift, der ein Familien-Idyll ins ideale Licht setzte. Ebba zweifelt mehr und mehr an der Beschützerrolle ihres Gatten und das ist erst der Anfang einer kompletten Demontage des Mannes. Das Zähneputzen vorm Spiegel mit einer elektrischen Zahnbürste für jeden der vier Familienmitglieder wird zum Blickduell der beiden Ehepartner. In der eisigen Streit-Stimmung bekommen die einsamen und stillen Gänge des riesigen Luxushotels etwas vom „Shining"-Schauer. Wie schon Ursula Meier in ihrem „Winterdieb" wird das touristische Setting völlig verfremdet. Da fliegt eine Spielzeug-Drohne wie ein Ufo durch die Nacht, um später mitten im Zimmer mitten in die größte Gespräch-Beklemmung zu platzen. Die Rollenspiele im Schnee von Regisseur Ruben Östlund sind nämlich immer wieder auch herrlich absurd und damit ganz nah am Landsmann und Regie-Kollegen Roy Andersson, etwa in der wortlosen Nebenrolle des Putzmannes vom Hotel. Kurze Stücke aus Vivaldis „Winter" geben dem Ganzen eine Würde und Höhe, welche die Musterfamilie nie erreichen kann.

Die Stille draußen im Schweigen der Beziehung erinnert - auch wegen der Schwarzblenden - an die emotionale Vergletscherung der Gesellschaft in Michael Hanekes ersten Filmen, nur dass hier eine Beziehung aus heiterem Ski-Urlaubshimmel vergletschert. Die so typischen Szenen eines nicht ganz gelungenen Urlaubs, wenn beispielsweise ein unfähiger Busfahrer in den Serpentinen die Kurve nicht kriegt, passen perfekt in den Subtext der Beziehungskrise und weitergehend in einen gesamtgesellschaftlich versuchten Rollenwechsel.

Ein Schotte macht noch keinen Sommer

Großbritannien 2014 (What we did on our holiday) Regie: Andy Hamilton, Guy Jenkin mit Rosamund Pike, David Tennant, Billy Connolly, Amelia Bullmore, Emilia Jones 96 Min. FSK: ab 6

Wieder mal streiten die Eltern - diesmal nicht bis die Polizei kommt und die Kinder den Elektro-Schocker ausprobieren dürfen. („Papa, tut der Strom sehr weh?") Denn Abi (Rosamund Pike) und Doug (David Tennant) leben ja auch nicht mehr zusammen und nun streiten die Anwälte wegen der Scheidung. Aber jetzt fahren sie, zu fünft in ein Auto und den Stau gequetscht, von London zum Großvater Gordie McLeod (Billy Connolly) in Schottland. Der wird 75, hat es am Herzen und nun auch Krebs im End-Stadium. Deshalb will man ihm noch einmal die heile Familie vorspielen. Lottie, ein zu erwachsenes, zehnjähriges Mädchen (Emilia Jones) notiert fürsorglich, was die Kinder alles nicht sagen dürfen. Also jetzt nicht lügen, nur ein paar Sachen nicht erwähnen.

Doch schon bei der Ankunft im voll vernetzten Haus des Onkels, einem Börsen-Zocker, stellen die Kinder schnell fest, dass die intelligente iCloud bei den McLeods keinen Leopard malen kann. Dafür bereitet sie mit den Klatsch-Lampen beim falschen Applaus für erlittene Violinen-Vorspiele viel Spaß und enthüllt auf allen verbundenen Bildschirmen später ein Familiengeheimnis, das längt Youtube-Hit war.

„Ein Schotte macht noch keinen Sommer" ist ein wunderbarer Film, der äußerst unauffällig daher kommt: Zuerst verraten die Dialoge Haarsträubendes und im Film sehr Komisches. Sie zeigen den kleinen und großen Wahnsinn in diesem Familien-Chaos. Dann entzieht sich Großpapa Gordie McLeod seiner eigenen Geburtstagsfeier mit 250 Gästen für einen Nachmittag am Meer mit den Enkeln. Wie hier die 81 Prozent alten Wikinger-Gene von Gordie mit der Begeisterung des Kleinsten für die Nordmannen entflammt, ist in herzlich unkonventioneller Kuriosität so groß wie die schönsten Szenen in „Harald & Maude".

Im flotten Wechsel der Szenen und Stimmungen ist die Komödie mit Tiefgang erst mal sehr unterhaltsam. Kaum setzen die Geigen für besonders viel Sentiment an, kommt schon der nächste Schnitt mit neuem Moment. So wird auch die Highland-Landschaft (Wie hoch sind die Highlands? Höher als die Lowlands!) nicht übermäßig bemüht. Trotzdem versteht man Gordie mit seiner Liebe zu den Lakes und der Küste nur zu gut. Denn dieser „Schotte" spielt alles exakt so weit an, bis man kapiert, was wirklich wichtig ist im Leben.

Dass alle lächerlich seien und es deshalb sinnlos wäre, zu urteilen oder sich zu ärgern, lautet die schottisch-buddhistische Quintessenz des Alten. Die Weisheiten der Kinder kommen ihr immer wieder putzmunter und spontan zu Hilfe. Wie dabei im Vorbeigehen oft umwerfend witziger Szenen zwei Ehen wieder auf die richtige Bahn kommen und sogar eine zickige Sozialarbeiterin besänftigt wird, ist nur eines von vielen Kunststücken des wundervollen Films. Ein schöneres Ende kann man sich nicht wünschen.

17.11.14

Die Tribute von Panem - Mockingjay Teil 1

USA 2014 (The Hunger Games: Mockingjay - Part 1) Regie: Francis Lawrence mit Jennifer Lawrence, Josh Hutcherson, Liam Hemsworth, Woody Harrelson, Julianne Moore, Philip Seymour Hoffman 125 Min.

Da spottet er, der Spotttölpel: Über alle, die sich vom Marketing übertölpeln lassen: Ein Film zum Preis von zwei? Warum nicht. Ich doch günstig, oder? Günstig für die Produzenten und die Kinos. Die Zuschauer bekommen wie bei all diesen Erfolgs-Serien einen halben Film und müssen dann noch ein Jahr auf ein halbes Finale warten...

Nachdem schon Teil Zwei der überraschend politischen und gegen Kriege aufgestellten Jugendunterhaltung (nach der Trilogie von Suzanne Collins) eine Hängepartie war, funktioniert auch die erste Hälfte von Teil Drei nicht als eigenständiger Film. Es ist vor allem die Nacherzählung der wichtigsten Ereignisse im Befreiungskampf von Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence): Die Sache mit den zynischen Hunger-Games ist aufgeflogen. Jetzt herrscht offener Krieg zwischen dem Capitol und den Aufständischen unter Führung vom District 13. Doch es ist auch hier nicht alles gold, was rebelliert.

Plutarch Heavensbee (noch einmal: Philip Seymour Hoffman), der ehemalige Regisseur der Hunger-Games, inszeniert nun Katniss als mediale Ikone für den Widerstand und deren Präsidentin Alma Coin (Julianne Moore). Zwar gibt es kein unten und oben im unterirdischen Ameisenstaat des District 13. Und auch die dem Capitol entflohenen Paradiesvögel wirken negativer als die von ihnen kritisierte Gleichmacherei. Doch die Mechanismen von Propaganda, Masse und Macht funktionieren überall perfekt. Und wieder zielen sie auf den Krieg.

Die unfreiwillige, zweifelnde Heldin Katniss erlebt Tag und Nacht Albträume. Die Folgen des Krieges sind eindrucksvoll schrecklich ins Bild gebracht. In die wie im zweiten Weltkrieg zerbombten Städte legt der Film einen Teppich aus tausenden Toten. Das Hospital mit hunderten Verwundeten ist auch ohne Nahaufnahmen schockierend - und wird in einem besonders barbarischen Akt von Präsident Snow (Donald Sutherland) bald eingeäschert. Der Wahnsinn des Krieges im Innern der Freunde von Katniss tut das Seinige, um den Kriegstreibern von Heute in Politik und Medien einen Denkzettel vorzuhalten. Besonders Peeta, der nur im kritischen Zustand aus den Gehirnwäsche-Laboratorien von Snow befreit werden konnte, erschreckt Katniss. Den beiden Liebenden für die Zeit der Zirkus-Show - und etwas länger - lässt der Film auch das Schlussbild, eines der wenigen großen Bilder. Was ein gutes Ende an sich wäre, doch nebenan muss noch eine Menge erzählt werden.

Für Romantik ist bei den Hunger Games Teil 3.1 kein Platz mehr, auch nicht für Action oder Heldentum. Die Stimmung ist düster. Wie sonst, wenn man mit in den Luftschutzbunker muss und bei jedem Bombeneinschlag zittert. Dass in Momenten von Katniss' größter Erschütterung immer eine neuseeländische Sanges-Drossel lossäuseln muss, geht zu weit. Dabei ist „Panem" doch selbst immer am besten, wenn er die Momente der zynischen Manipulation bitter vorführt. Aber ein selbstreflexiver Zwitter ist dieses Mockingjay-Vögelchen nun doch nicht, dazu plappert es zu viel und zu erfolgreich nach. Wie die ganze Geschichte ihre Kurve zum nicht wirklich fröhlichen Ende bekommt, wird man erst in einem Jahr sehen. Und dann auch sinnvoller mit einem kompletten dritten Teil.


Bocksprünge

BRD 2014 Regie: Eckhard Preuß mit Eckhard Preuß, Jule Ronstedt, Julia Koschitz 86 Min. FSK: ab 0

Abschreckende Gesichter, Sprüche, die einen weglaufen lassen, Rollen, die selbst als Parodie nur Kopfschütteln erzeugen ... „Bocksprünge" ist schon auf den ersten Blick ein ziemlicher Bockmist. Wenn man nur kurz drüber nachdenkt, wird es ganz furchtbar. Im billig produzierten TV-Format spielt sich ein behäbiges Boulevard-Stückchen ab: Während Udo (Regisseur und Selbstdarsteller Eckhard Preuß) mitten im Seitensprung mit der besten Freundin seiner Frau ist, schneit diese rein und setzt den Beischlaf fort, während die Freundin unterm Bett mithört. Nicht der Sex aber der abgelauschte Klatsch ist schmerzlich. Denn so erfährt die Freundin, dass ihr Mann die Tochter seines Chef geschwängert hat...

Derart krampfhaft zusammengezwungen tummeln sich drei Paare in Dramen mit Herren und Damen bis zur uninteressanten Auflösung, während Udo bis zur Catterfield, die einen Gastauftritt hat, mit allen im Bett war. Dass dieser ein angefetteter Mittvierziger mit alberner Frisur und Pumuckl-Look ist, macht den ganzen Mist noch unbegreiflicher. Irgendwie sieht das alles nach einer verlorenen Wette aus. So was wäre auch der einzige Grund, sich so was anzutun. Die Schauspieler sind wohl eher gute Freunde als gut besetzt. Erkenntnisgewinn null, Spaßgewinn null, Zeitverlust 84 Minuten. Nicht witzig!

Einer nach dem anderen

Norwegen, Schweden, Dänemark 2014 (Kraftidioten / In Order of Disappearance) Regie: Hans Petter Moland mit Stellan Skarsgård, Bruno Ganz, Pål Sverre Valheim Hagen, Jakob Oftebro, Birgitte Hjort Sørensen 117 Min. FSK: ab 16

Ein über alle Maßen sorgfältiger Schneeräumer kommt von der Bahn ab und zieht eine blutige Spur durch den Schnee. So sieht es aus, wenn Tarantino mit den Coen-Brüdern in den Ski-Urlaub fährt.

„Bürger des Jahres" ist er, der umsichtige Schneeräumer Nils (Stellan Skarsgård). Die Ehrung ist dem stillen Norweger unangenehm, wohl fühlt er sich auf seiner Monster-Maschine im Angesicht von vielen Tonnen Schnee. Ein paar Gramm vom anderen Schnee stellen dann sein Nils auf den Kopf: Aus heiterem Himmel wird sein Sohn ermordet, er ist auf dem kleinen Provinzflughafen in einen Drogenschmuggel geraten. Was nun folgt, lässt blutige Rache-Filme blass aussehen und coolste Killer wie nervöse Anfänger. „Einer nach dem anderen" lässt gleich eine ganze Branche aussterben und unterhält nach der Devise „Jeder Schuss ein Lacher". Trockener und tiefschwarzer Humor passen hier sehr gut zusammen.

Während seine Ehe aufgrund des traumatischen Ereignisses den Bach runter geht, forscht Nils wenig zimperlich nach den Hintergründen des Mordes. Dabei stellt er sich einerseits sehr geschickt an, ein wahres Naturtalent im Killer-Gewerbe. Zudem vermutet bei den Profis auch niemand den effektiven Sensemann hinter der Fassade eines braven Schneeschippers. So beginnt parallel ein heftiger Bandenkrieg zwischen den hippen einheimischen Gangstern und der serbischen Bande unter Führung von Bruno Ganz.

Die skandinavische Produktion von Hanns Petter Moland („The Beautiful Country", „Ein Mann von Welt") heißt international „In order of disappearance" und „in der Reihefolge des Verschwindens" tauchen auch die Namen der Schauspieler auf, deren Figuren vom wütenden Schneepflugfahrer Nils dahingerafft werden. Das sind reihenweise Gangster mit einem Twist, oder Spleen oder Tick. Oder gleich alles gleichzeitig. Hier gehen schon die richtig schmissigen Gangster-Namen humorvoll schief, wenn der Chinese ein dänischer Killer ist. Ein veganischer Clown ist Oberboss der einen Truppe, will seinen Sohn organisch ernähren und biologisch oder freilaufend erziehen, während er die Mutter verprügelt. Doch da ist die Sache schon zu einem brutalen Bandenkrieg über sich selbst hinausgewachsen.

Ein großartig aufspielender Stellan Skarsgård als gnadenloser Rächer und gnadenlos witzige Dialoge, etwa wenn sich die Deppen der Drogen-Mafia gar nicht uninteressant darüber unterhalten, wie staatliche Wohlfahrt mit dem Klima des jeweiligen Landes korreliert. Zwischendurch bekommt ein Spielberg-Zitat mit mörderischem (Schnee-) Truck eine ganz besondere Wucht. Neben der klasse Story dieser originell ausgeführten Thriller-Komödie beeindruckt „Einer nach dem anderen" auch mit der Schönheit des Schneepflügens und dem Spiel von Bruno Ganz, der zuletzt als serbischer Drogenboss mit vernarbtem Kehlenschnitt nur ganz leise Kommandos brummt. Eigentlich eine furchtbare Karrikatur, ganz nah an seinem größten Führer-Versteller aller Zeiten. Die kindliche Begeisterung jedoch, mit der sich die Figur von Ganz am Rande des Gemetzels an kleinen Dinger erfreut, ist ein großes Vergnügen.

12.11.14

Ich darf nicht schlafen (2014)

USA, Großbritannien, Frankreich, Schweden 2014 („Before I go to sleep") Regie: Rowan Joffe mit Nicole Kidman, Colin Firth, Mark Strong, Anne-Marie Duff 92 Min. FSK: ab 12

Und ewig grüßt das Murmeltier ... aus der Perspektive des Murmeltiers erzählt. Was für eine vortreffliche Idee. Nur leider trägt dieser Albtraum Namen und Gesicht von Nicole Kidman. Sie spielt Christine, eine Frau, die jeden Morgen in einer fremden Wohnung neben einem Fremden aufwacht. Christine hat anterograde Amnesie, sie vergisst jede Nacht, was an den Tagen vorher geschah. Schuld ist ein Unfall vor zehn Jahren, erzählt ihr Mann Ben (Colin Firth) jeden Morgen mit Engelsgeduld. Er zeigt die Fotos ihrer Ehe, von der gemeinsamen Hochzeit und weist auf die Bedienungsanleitung für ein täglich neues Leben, die auf Tafeln und Post-Its an der Wand hängt.

Doch kaum verabschiedet sich Ben zur Arbeit, kümmert sich noch ein anderer Mann aufwändig um die verwirrt in die Welt blickende Frau mit passendem wirren Haar. Dr. Nash (Mark Strong) erinnert Christine mit einem Telefonanruf an das Videotagebuch, das sie heimlich führt und im Kleiderschrank versteckt. So bringt sie sich selbst auf den Wissensstand von gestern, bevor sie mit Dr. Nash losfährt, um zu erfahren, was in der Vergangenheit eigentlich geschah. Denn Ben verschweigt anscheinend eine Freundin und sogar ein gemeinsames Kind.

So ein alltäglicher nächtlicher Gedächtnisverlust bedeutet hier keine romantisch komischen „50 erste Dates" wie es Drew Barrymore und Adam Sandler vorspielten. Aber „Ich. Darf. Nicht. Schlafen." ist auch erstaunlich weit von „Memento" entfernt, Christopher Nolans sensationellen Thriller über Gedächtnisverlust, der einem nie mehr aus dem Gedächtnis geht. Sehr konventionell erzählt Regisseur Rowan Joffe in „Ich. Darf. Nicht. Schlafen." den gleichnamigen Roman von S.J. Watson nach. Wer erlebt hat, wie verzweifelt und raffiniert Leonard in „Memento" seine neuen Erkenntnisse letztlich sogar auf der eigenen Haut festgehalten hat, kann Gähnen angesichts der jetzt lahmen und lückenhaften Dramaturgie nicht unterdrücken. Wobei „Ich. Darf. Nicht. Schlafen." nicht ohne Spannung ist und im ambivalenten Spiel von Colin Firth auch ein paar Abgründe anlegt. Doch bis auf die letztliche Enthüllung nimmt die Spannung vor allem ab - eine schlechte Entwicklung für einen Thriller. Nicole Kidman spielt sich hier etwas Wächsernes zusammen, was ihr den Ehrentitel „Vroni von Hollywood" einbringen könnte. Vor allem, da es von ihrem Gesicht abhängt, das Schreckliche dieser allmorgendlichen Verlorenheit zu vermitteln (das nur Morgenmuffel voll zu verstehen vermögen), kann man diesen Film wegen einer ausnahmsweise zu zurückhaltenden Kidman vergessen.





10.11.14

Bevor der Winter kommt (2013)

Frankreich, Luxemburg 2013 (Avant l'hiver) Regie: Philippe Claudel mit Daniel Auteuil, Kristin Scott Thomas, Leïla Bekhti, Richard Berry 102 Min. FSK: ab 12

Ziemlich exakt manövriert sich der erfolgreiche Hirn-Chirurg Paul (Daniel Auteuil) bei seinen OPs durch die Köpfe anderer Menschen. Was jedoch tatsächlich in diesen und in ihren Herzen vor sich geht, bekommt der gut situierte Arzt nicht mehr mit. Das wirft ihm sein bester Freund Gérard (Richard Berry) vor und der ist schließlich Psychiater sowie hinter Pauls Frau Lucie (Kristin Scott Thomas) her. Doch es ist Paul selbst, der in diesem gemächlichen Drama sein gutbürgerliches Leben zerbröseln lässt.

Nach einer zufälligen Begegnung mit Lou (Leïla Bekhti), stellt ihm diese sehr aufdringliche junge Frau nach. Anonym zugestellte Rosensträuße im Büro, Zuhause und in der Klinik treiben ihn in den Wahnsinn. Aufdringlich auch im Bild mit ihren roten Oberteilen und in der Geschichte mit typischen Femme Fatale-Beschäftigungen wie Studium der Kunstgeschichte, Kellnerjob und Prostitution. Der blaue Engel ist also diesmal in Rot gekleidet und Professor Unrat operiert am Gehirn.

Ein gesetzterer und rundlicher Auteuil „füllt" tatsächlich die Rolle des arrivierten und seines Lebens überdrüssigen Arztes trefflich aus. Doch bei ähnlich eindrucksvoller Besetzung ist „Bevor der Winter kommt" wesentlich schwächer als Claudels Vorgänger „So viele Jahre liebe ich dich" mit Scott Thomas damals als Straftäterin nach ihrer Haft. Claude versucht wieder die ruhige Intensität des Alltäglichen einzufangen. Diesmal gibt es jedoch eher aufgesetzt einen Krimifall als Rahmen und Hintergrund. Der passt allerdings im übertragenen Sinne wunderbar in die bürgerlichen Ängste vor Verführung und Bedrohung. Wobei der Films selbst meist gesetzt und träge wirkt.

Bären (2014)

USA 2014 (Bears) Regie: Alastair Fothergill, Keith Scholey 78 Min. FSK: ab 0

Nach den „Schimpansen" nun also die „Bären" als nächster Naturfilm von Disney. Wobei man „Natur" durchaus in Anführungszeichen setzen kann, denn wichtiger als wissenschaftliche Darstellung ist hier immer das Erzählen von Geschichten über den „Circle of Wildlife". Direkt mit der Geburt beginnt die Personifizierung der Helden dieses neuen Disney-Naturfilms - alle bekommen einen Namen. Die getaufte Bärenmutter zieht danach mit ihren beiden Jungen aus den Bergen Alaskas zu den Lachsen an der Küste. Das liefert beim ersten Ausflug im Schnee wieder großartige Aufnahmen mit den kleinen Baby-Bären und der großen Mutter vor noch riesigeren Bergen. Aufnahmen, bei denen man sich auch dauernd fragen kann, wie sie das gemacht haben.

Dazu gehört auch das typische Überdramatisieren mit einer Lawine, die wahrscheinlich nicht wirklich in der Nähe der Bären abgeht. Das ist bei allem Staunen bei Klein und Groß das Unangenehme, weil deutlich Falsche, an solch perfekt inszenierten Tier-Filmen.

Dabei ist im Original der schmissige Kommentar des sympathischen Schauspielers John C. Reilly eine Qualität für sich. Er füllt die informativen Lücken, die überall klaffen wie das Gebiss brüllender Bären, mit humorig eingefühlten Kommentaren, etwa über den Geruch der Bärenhöhle nach dem Winterschlaf. Die reichlich niedlichen Momente stolpernder und purzelnder Fellknäuel werden angekündigt mit Sprüchen wie: Gleich erfährt er, wie es ist, ohne Sicherheitsgurt auf Bären zu reiten. Die Ein-Mann-Show Reilly spricht alle Rollen mit großer Begeisterung, denn es reicht ja nicht selbst zu schauen und zu beobachten. Denken müssen die Zuschauer hier schon mal gar nicht. Das ist dann fast so schlimm wie völlig deplatzierte, schmissige Country-Liedchen. Ja klar, denn echte amerikanische Bären hören schließlich keinen Punk oder Klassik. Aber wenigstens haben sich die Macher diesmal nicht mitreißen lassen, für die kleinen Kinogänger zu dramatische Szenen einzubauen. Geweint wird also erst, wenn wieder eines der von Disney erzogenen Kinder im Zoo durch die Gitterstäbe krabbelt...

Ruhet in Frieden - A Walk among the Tombstones

USA 2014 (A Walk among the Tombstones) Regie: Scott Frank mit Liam Neeson, Dan Stevens, Boyd Holbrook, Brian "Astro" Bradley, Ólafur Darri Ólafsson 115 Min. FSK: ab 16

Dieser Typ ist ein ganz Großer. Ok, Liam Neeson misst Einmeterdreiundneunzig. Aber was kann man nicht alles mit hohen Hacken und Apfelsinenkisten machen - da muss man nur Al Pacino oder Dustin Hoffman fragen. Doch Neeson wirkt immer gewaltig und mächtig, selbst in größter Verzweiflung seiner Figuren, etwa wenn sich bei „96 Hours" der Vater eines entführten Mädchens mit Folterszenen im Kopf zu den Verbrechern durchschlägt. Kaum erträgliche Verbrechen setzen auch die Stimmung und motivieren die Jagd in „Ruhet in Frieden - A Walk among the Tombstones". Die Verfilmung von Lawrence Blocks gleichnamigen Roman ist eine dieser düsteren Verbrechens-Geschichten, von denen man eigentlich nichts wissen will - und es auch fraglich ist, ob man das wissen muss. Doch wenn, dann bietet das Regiedebüt vom erfolgreichen Drehbuch-Autor Scott Frank („Wolverine: Weg des Kriegers", „Minority Report", „Out of Sight") spannende Unterhaltung. Mit bestem Schauspiel und vor allem ohne die üblichen Renner- und Prügeleien.

Matt Scudder (Liam Neeson) schlurft als privater Ermittler durch New York. Dabei hält er den Leuten seine nichtssagende Dienstmarke so souverän unter die Nase, dass er fast immer ernst genommen wird. Der berufstypische Alkoholismus des Ex-Cops führt ihm über Umwege einen ungewöhnlichen Klienten zu: Einem reichen Dealer wurde die schöne Frau entführt und trotz Lösegeldzahlung bekommt er sie nur in ganz kleinen Pakten zurück, die auf dem See eines Friedhofs treiben. So bekommt Scudder seinen Fall und der Film seinen Titel.

Obwohl Scudder nicht der Typ für Partner ist, drängt sich ihm immer wieder ein aufgeweckter schwarzer Junge (Dan Stevens) mit einigen Verschwörungstheorien im interessierten, klugen Kopf auf. Auch der Rest der Figuren von den Gewöhnlichen bis zu den vorherrschenden Psychopathen ist gut gezeichnet, die Recherche mit einigen Rückblenden zur Tat interessant geschnitten. Neben der erneuten Glanzleistung von Liam Neeson fällt auch auf, dass für solch einen Genre-Krimi wenig herumgerannt und geprügelt wird. Weil dieser Leerlauf ausfällt, fällt die Konzentration auf innere Abgründe umso intensiver aus. „Ruhet in Frieden - A Walk among the Tombstones" ist kein friedlicher Film und es kann passieren, dass einen dieser düstere Zustand der Menschheit länger nicht in Ruhe lässt. Gute Unterhaltung auf jeden Fall, jedoch keine leichte Kost.

Mommy (2014)

Kanada 2014 Regie: Xavier Dolan mit Anne Dorval, Antoine-Olivier Pilon, Suzanne Clément, Alexandre Goyette 134 Min.

Auch im „Mommy", dem fünften Spielfilm des genialen und filmisch konstant ödipal fixierten Xavier Dolan geht es dem Franco-Kanadier um das Verhältnis zu seiner Mutter. Wobei diesmal vor allem der Sohn Steve (Antoine-Olivier Pilon) mit einer Mischung aus egozentrischer Aggressivität und unkontrollierbarer AHDS Problem und Herausforderung ist. Keine staatliche Institution außer Knast will ihn mehr aufnehmen. Um ihn zuhause zu unterrichten, müsste die Mutter Diane (Anne Dorval) ihren Job aufgeben, das Geld ist sowieso knapp. Als die stark stotternde Nachbarin und beurlaubte Lehrerin Kyla (Suzanne Clément) den Unterricht von Steve übernimmt, hellt sich das Leben aller Beteiligter auf, Steve beruhigt sich, Diane kann arbeiten und Kyla hört in dieser Umgebung auf zu stottern. Doch bald zwingt der so schillernd und unerträglich extrovertierte Junge die Mutter zu extremen Maßnahmen...

„Mommy" ist eine Art Fussbroichs auf Québecquois, extrem ordinär und selbst für Franzosen nur mit Untertiteln zu verstehen. Wie die Sprache so die Sprecher - flegelhaft wäre noch schmeichelhaft. Im Stile des Films würde man sagen, Dolan ist ein kleiner dreckiger Bastard, der ganz frech ein Melodram im klassischen Stil hinlegt, während er wieder seinen Ödipus abarbeitet. Am Ende gibt es nach vielen sagenhaften Lied-Einlagen noch einen Song von Lana del Rey. Was passt, denn dieser Dolan riskiert auch filmisch eine dicke Lippe.

Bei allen - im Gesamtbild großer Geschichten und Dramen eher niedlichen Provokationen am Rande - muss man diesem extremsten Mutter-Söhnchen des internationalen Kinos für die Dosis frischer und frecher Ideen dankbar sein. Bis auf zwei Sequenzen, in denen das Leben frei, offen und sorglos erscheint, ist die Leinwand beispielsweise ganz schmal auf ein Bild-Verhältnis von 1:1 zusammengepresst. Der erste Moment der Öffnung erhielt 2014 bei der Premiere in Cannes Szenenapplaus. Dazu gab es noch sehr verdient für den tollen Film mit den atemberaubend guten Darstellern den Preis der Jury.

Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss

BRD 2014 Regie: Florian Mischa Böder mit Benno Fürmann, Mavie Hörbiger, Wolf Roth 80 Min.

Was macht die EU eigentlich so, wenn sie keine Bananen gerade biegt oder nach Straßburg und zurück umzieht? Kaum jemand kannte bislang die geheime Geheimagenten-Abteilung der Eurokraten. Was auch ein Grund dafür sein kann, dass Auftragskiller Koralnik (Benno Fürmann) im geheimen Einsatz für seine noch geheimere EU-Sondertruppe seit acht Jahren keinen einzigen Auftrag bekam. Dabei erhielt der Mann der ersten Stunde bei der Ausbildung beste Noten. Da kann selbst der härteste Agent schon mal seltsam werden und Koralnik wurde sehr seltsam. Ein einfacher Einkauf läuft mit generalstabsmäßiger Genauigkeit ab. Koralniks Wohnung ist im Einheitsgrau wie aus dem Psychopathen- oder Nerd-Einrichtungskatalog. Sein Sozialleben sieht hingegen ziemlich schwarz aus. Als der blockwartige Hausmeister von nebenan zu aufdringlich wird, reicht ein Anruf bei der ihrerseits von Koralnik genervten Zentrale, um den mustergültig nervigen aber total harmlosen Mitbürger aus dem Weg zu schaffen.

Das allein vergnügt schon vortrefflich, dann verunfallt auch noch die Betrügerin Rosa (Mavie Hörbiger) in Koralniks Leben. Ein verklemmt romantischer Abend soll mit sehr falsch eingesetzten Drogen zu einer saftigen Spende führen, doch kurz vor dem Vollkoma ruft der erste Auftrag in acht Jahren Koralnik nach Belgien. Prompt geht auf der absurd-komischen Odyssee zu zweit alles schief.

Großartiges Schauspiel lieferte Benno Fürmann in der Komödie „Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss". Unser einst peinlicher Nibelungen-Recke, der schon bei Petzold bessere Seiten zeigte, gewinnt mit dem Alter stark an Charakter. Wie er im schwarzen Anzug mit Rollkragenpullover durch seine einsame Existenz stakst, ist große Komödien-Kunst. Ein manchmal absurder Spaß-Trip durchs Hohe Venn und bis ins Finale bei Verviers. Da will Regisseur Florian Mischa Böder dann noch etwas über den Irrsinn von allgegenwärtiger Bedrohungs-Paranoia aussagen, was auch gesagt werden sollte. Nur verliert der Film dabei etwas von seiner Spaßdichte.

4.11.14

Citizenfour

BRD, USA 2014 Regie: Laura Poitras 114 Min.

Edward Snowden ist mittlerweile als Ikone des digitalen Freiheitskampfes allgegenwärtig. Nur in Regierungskreisen ist er seltsamerweise nicht erwünscht, obwohl auch die ganz persönlich von der NSA abgehört werden. Diese aufschlussreiche und teilweise sogar spannende Dokumentation beleuchtet den heldenhaften Gang Snowdens an die Öffentlichkeit aus nächster Nähe. Denn zur Regisseurin Laura Poitras hatte der Geheimdienstangestellte sehr früh Kontakt und so war sie auch mit der Kamera dabei, als aus einem Hongkonger Hotel die Welt erfuhr, in welch unglaublichen Maße sie von den Geheimdiensten ausspioniert wird. So gab allein ein Telefonanbieter der USA täglich 320 Millionen Datensätze an die NSA weiter. Die digitalen Abhörstationen saugen mit sagenhaften 125 Gigabyte pro Sekunde wahllos jede elektronische Spur unserer Leben auf.

Wie die Person Edward Snowden diese Ungeheuerlichkeiten erzählt, ist auch an sich faszinierend: Wir sehen einen hoch intelligenten, reflektierten Mann, der bewusst für seine Freiheit des Denkens ins Gefängnis gehen würde. Ganz selten wirkt er nerdig, auch die extremen Sicherheitsvorkehrungen kann man bald gut verstehen.

Laura Poitras gelingt es, sowohl das Ausmaß der staatlichen Freiheitsberaubung packend zu verdeutlichen, als auch die Figur Snowdens in einem begrenzten Maße verständlich zu machen. Denn er selbst warnt vor zu großer Personifizierung durch die Medien. Wenn er dann vor den US-Häschern nach Moskau fliehen muss, versucht die Doku, die über Snowden hereinbrechenden Ereignisse nachzuzeichnen. Das ist recht spannend, doch nicht so sehr wie die immer noch nicht komplett aufgearbeiteten Informationen, die Snowden unter großer persönlicher Aufopferung ans Licht der Öffentlichkeit brachte.

Den Himmel gibt's echt

USA 2014 (Heaven is for Real) Regie: Randall Wallace mit Greg Kinnear, Kelly Reilly, Thomas Haden Church, Connor Corum 99 Min. FSK: ab 0

Todd Burpo (Greg Kinnear) hat es als hart arbeitender, liebevoller Familienvater, Pfarrer, Feuerwehrmann, Trainer der lokalen Ringer nicht nur wegen seiner Nierensteine schwer. Sein kleiner Sohn Colton „ging in den Himmel und kam zurück", er hat während einer schweren Operation unerklärliche Dinge gesehen. Wie geht ein braver Bilderbuch-Pfarrer aus einer fast extremistischen US-Gemeinde mit dem Nahtod-Erlebnis um? Der Film jedenfalls sieht aus wie ein Werbetrailer für Christen-Sekte und Weichspüler gleichzeitig. Nicht nur wenn das ganze Dorf gemeinsam betet, weil der kleine Junge im Krankenhaus um sein Leben kämpft, ist dieser „Himmel" ein weinerliches Dokument des äußerst seltsamen Aberglaubens im us-amerikanischen „Bible Belt", dem erzkonservativen Landstrich fern der kulturellen Zentren. In diesem Umfeld kann man kein ernsthaftes oder irgendwie interessantes Nachdenken zu diesem spannenden Thema erwarten.

Plötzlich Gigolo

USA 2013 (Fading Gigolo) Regie: John Turturro mit John Turturro, Woody Allen, Vanessa Paradis, Liev Schreiber, Sharon Stone 91 Min. FSK: ab 0

Sie könnten tatsächlich Vater und Sohn sein: Wie John Turturro als Fioravante, eine Art Ziehsohn von Woody Allens Figur Murray, zwischen alten Büchern des bald geschlossenen Ladens kramen, sehen sie sich sehr ähnlich. Was es noch komischer macht, dass der auch nicht mehr ganz junge Italo-New Yorker bald als „Ho" des „Pimps" Murray einige elegante Frauen glücklich machen wird. Also, dass Murray seinen Freund als männliche Prostituierte vermittelt. Klar, brauchen beide Geld, wie so ein Film einen Handlungsfaden braucht. Doch tatsächlich ist dieser nur ein Vorwand für wunderbare Begegnungen und Menschen-Zeichnungen. Dabei ist gerade nicht das Liebesspiel reizvoll, dass die exzellent gegen das „Basic Instinct"-Image besetzte Sharon Stone als reiche Ärztin mit ihrer Freundin zu dritt erleben will. John Turturro stellt uns als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller vor allem Vanessa Paradis als orthodox jüdische Witwe Avigal vor. Ihr „Coming Out" nach Jahren der Trauer unter Kopftuch und religiös verordneter Perücke stellt eine der vielen Perlen dieses auf feine Weise prominent besetzten Filmes dar.

Turturro ist in seinem neuen Spielfilm nach schönen Schätzchen wie „Romance & Cigarettes", „Illuminata" oder „Mac" kein Tom Ford oder Clooney, aber er überzeugt vor allem die Damen mit einer stillen Größe, die nur entfernt an seinen Bowling-Latino aus „The Big Lebowski" erinnert. Wie immer, wenn Woody Allen auch nur als Darsteller dabei ist, ist es auch ein wenig ein Woody Allen-Film, doch was vor allem in den Dialogen sehr viel Spaß man, übertönt nicht die leiseren Momente. Alles zusammen zeichnet ganz nebenbei ein schönes Bild vom multikulturellen Leben in New York, bei dem in Williamsburgh auch schon mal eine jüdische Bürgerwehr in Polizei-Uniform patrouilliert. Vor allem lässt sich der Film wie seine Hauptfigur beim elegant schlüpfrigen Job schön viel Zeit. So dass man immer wieder und schließlich staunen muss: Was macht dieser Mann doch für wunderbare Filme!

Im Labyrinth des Schweigens

BRD 2014 Regie: Giulio Ricciarelli mit Alexander Fehling, André Szymanski, Friederike Becht, Johannes Krisch, Gert Voss 123 Min. FSK: ab 12

Kein schöner Land zu dieser Zeit ... Die Menschen im Wirtschaftswunder-Deutschland, das kaum noch Nachkriegs-Deutschland ist, scheinen die biedere Seligkeit ihres kleinen Glücks zu glauben. Dass Ende der 1950er-Jahre so gut wie niemand unter ihnen ist, dem der Name Auschwitz etwas sagt, ist für den Journalisten Thomas Gnielka (André Szymanski) unfassbar. Denn „die Mörder sind unter uns", in diesem Falle die Henker und Sadisten des Vernichtungslagers Auschwitz.

„Im Labyrinth des Schweigens" ist die Geschichte des jungen Staatsanwalts Johann Radmann (Alexander Fehling), dessen enormes Gerechtigkeitsgefühl bei den Verkehrsdelikten unterfordert ist, und der sich, nachdem er eine Ahnung vom Grauen und Verbrechen in den Konzentrationslagern bekommt, besessen an die Verfolgung der Täter macht. Es beginnt mit einem ehemaligen Mitglied der Waffen-SS, der nach Kriegsende unbehelligt in Frankfurt als Lehrer lebt. Dass er, der an der berüchtigten „Todesrampe" Kranke und schwache Menschen direkt in die Gaskammern „aussortierte", nun ausgerechnet Abstammungslehre unterrichtet, gehört zu den Informationen, die der Film sehr dick und deutlich auftischt. Es ist aber halt aus heutiger Sicht unfassbar, dass eine Bibliothekarin bei der Frage nach Auschwitz auf Reiseführer nach Polen verweist.

Radmann, ein Detektiv alter (Film-) Schule, stößt auf eine massive Mauer des Schweigens in der eigenen Frankfurter Staatsanwaltschaft, bei der Polizei und dem Bundeskriminalamt. Das wusste beispielsweise schon immer, wo sich der Folter-Arzt Mengele aufhielt und dass er regelmäßig wieder nach Deutschland kam. Doch ein Befehl von „oben", also von Kanzler Adenauer, verhindert weiterhin die Festnahme. Unterstützt nur durch den Generalstaatsanwalt Bauer (der großartige Gert Voss in seiner letzten Rolle) recherchiert Radmann mit den damaligen Mitteln in hunderten Telefonbüchern nach dem Verbleib tausender Tätern, die gründliche deutsche Buchführung in den Lagerakten auflistete.

Dabei wird „Im Labyrinth des Schweigens" nicht nur immer spannender, sondern auch durch die furchtbaren Berichte der Opfer, die Radmann als Zeugen zur Aussage bewegt, zu einem erschreckenden und starken Historienfilm. Wie geschickt Regisseur Giulio Ricciarelli in der Verfilmung realer Ereignisse und Menschen geschickt fast nur mit den Reaktionen von Radmann und seiner Sekretärin (Hansi Jochmann), auskommt, zeigt ebenfalls die Größe des Films. Während sich sein Protagonist dabei fast im selbstgerechten Hass auf alle Deutschen verliert, wird die Argumentation immer dichter, ist die deutliche Setzung der Positionen vom Anfang längst vergessen. Alexander Fehling („Goethe!", „Wer wenn nicht wir") trumpft ganz groß im Stile eines Robert Redford auf: Der schicke Anzug, der später Risse bekommt, der entschlossene Blick, der Mengele und Co bis an Ende der Welt verfolgen würde. Und dabei die Menschen um sich herum aus den Augen verliert. Der süßen Freundin Marlene (Friederike Becht) die Vergangenheit des Soldaten-Vaters vorwirft, für den jüdischen Freund Simon (Johannes Krisch) nicht das Kaddisch in Auschwitz, am Todesort von dessen Zwillingstöchtern, sprechen will. Dass wir diesen großartigen Film heute verstehen können, dass wir wenigstens ahnen, welche Verbrechen in der Nazi-Zeit von ganz normalen Deutschen begangen wurden, verdanken wir in einem wunderbaren Zirkelschluss dem, was im Film gezeigt wird. Man muss ihn sehen und erleben - nicht nur, damit Auschwitz nicht irgendwann mal wieder unter „Polen-Touristik" einsortiert wird.

3.11.14

Das grenzt an Liebe

USA 2014 (And so it goes) Regie: Rob Reiner mit Michael Douglas, Diane Keaton, Sterling Jerins 94 Min. FSK: ab 0

Nein, nicht Liebe - das grenzt schon an Körperverletzung: Diese furchtbare Beschäftigungstherapie für zwei bekannte Schauspieler, die Besseres verdient haben und können, sollte man wie Waffen gesetzlich streng verbieten.

Michael Douglas spielt deutlich bemüht, man könnte auch sagen übertrieben, Oren Little, das Ekel der Luxus-Apartments Little Shagrila. Der verwitwete Makler ist gebrechlich und schon länger nicht mehr Nr. 1 im Geschäft. Zudem ist er auch Rassist, mag niemanden, hat aber auch gute Seiten als Hundhasser. Als sein selbstverständlich ungeliebter Sohn, der mit den Drogenproblemen, für neun Monate selbstverständlich unverschuldet in den Knast muss und einen Babysitter für seine neunjährige Tochter Sarah (Sterling Jerins) sowie einen Hund braucht, springt Opa Oren selbstverständlich erst einmal nicht ein. Die zuckersüße Nachbarin Leah (Diane Keaton) übernimmt ungefragt den Job und so können sich die beiden verwitweten Alten annähern. Kaum hat man sich eine halbe Stunde durch das vorhersehbare Drehbuch-Elend gequält, gibt es schon Familienausflüge mit den Senioren, die Sarah nun Oma und Opa nennt.

Besonders ekelhaft ist übrigens die Verachtung des Films für alle Menschen, die nicht ein Haus am See bewohnen. Das sind nämlich alle Junkies und Sträflinge. Voll das Leben also, im Haus am See, wie es sich Hollywood-Autoren mit Haus am See so vorstellen. Ohne Entwicklung oder wirkliches Drama. Man versteht weder, weshalb Oren für mehr als eine Nacht an Leah interessiert ist, noch wieso sie ihn überhaupt toleriert. So verzweifelt muss man doch auch im Altern nicht sein, sich dem Ersten und Schlechtesten an den Hals zu werfen. „Das grenzt an Liebe" ist so unerträglich wie die Bühnenperformance von Leah / Diane Keaton und wird nur noch schlimmer. Sie quält uns und ihr Publikum mit weichgespültem Fahrstuhl-Jazz, während die Aufnahmen versuchen, ihre Falten weich zu zeichnen. Zum Glück fängt sie immer vor dem Ende vom Lied an zu heulen. Ein klebriges Nette-Menschen-Märchen, das reizvoll wäre, wenn man den grimmigen Außenseiter überhaupt erst mal ernst nehmen würde und er nicht von Anfang an zur lebenslangen Besserung verurteilt wäre. Wobei man Oren eigentlich gut verstehen kann, dass er unter lauter laut freundlichen Menschen schlechte Laune bekommen muss. Danach muss man auf jeden Fall einmal Nicholson in „About Schmidt" sehen, um diese eklige Klebrigkeit los zu werden.

Besonders tragisch ist, dass Regisseur Rob Reiner vor zwei Jahrzehnten noch exzellent Filme inszenieren konnte. Man will es nicht glauben - der Gerichtsfilm „Eine Frage der Ehre", die sagenhafte Steven King-Verfilmung „Misery", dazu „Harry und Sally" und auch „Stand by me" sind von ihm. Aber dieses Machwerk vereint nur das Schlechteste, wie auch der Titelsong „Both Sides Now" selbstverständlich ein ausgewählt furchtbares Hippie-Lied von Joni Mitchell ist.

Mr. Turner - Meister des Lichts

Großbritannien, Frankreich, BRD 2014 (Mr. Turner) Regie: Mike Leigh mit Timothy Spall, Paul Jesson, Marion Bailey, Dorothy Atkinson 150 Min. FSK: ab 6

Ein Film über den berühmten Landschaftsmalers William Turner (1775-1851), über einen Giganten der Kunstgeschichte, nicht nur wegen der schieren Menge seiner Arbeiten. Als er im Alter von 76 Jahren starb, hat er dem englischen Staat fast 20.000 Bilder hinterlassen, viele andere sind vernichtet worden. Bei so einem Porträt verhebt man sich leicht, aber nicht Mike Leigh („Another Year", „Happy-Go-Lucky", „Topsy Turvy"). Der Brite hat sich mit „Mr. Turner" einen Lebenstraum verwirklicht. Gemeinsam mit langjährigen Weggefährten, wie Kameramann Dick Pope („Vera Drake"). Die Bilder, die Pope unter anderem im britischen Cornwall einfing, verschaffen immer wieder eine Ahnung dem vom Licht durchleuchteten Gemälde, sind aber auch vom deftigen Leben des von Timothy Spall grandios gespielten Film-Turners durchzogen.

Nach einer wunderbaren Eingangsszene, einem Filmgemälde mit Turner bei einer seiner Reisen in die Niederlande, erleben wir den bereits berühmten Landschaftsmaler William Turner (Timothy Spall) ganz unprätentiös. Ein Schweinskopf wird in Bild gestellt, um die massive Physiognomie des Hauptdarstellers (und auch vieler Nebenfiguren) deutlich zu charakterisieren. Dabei ist der schon zu Lebzeiten teuer geschätzte und von Königin Viktoria verachtete Künstler in seinen groben Gliedmaßen ein ungemein feiner, sensibler Mensch. Der allerdings Probleme hat, sich zu äußern. Was zu einem Grunzen als typischem Grundton seiner Persönlichkeit und des Films führt. Und der zum Weinen tatsächlich in ein Bordell gehen muss, als sein Vater (Paul Jesson), der auch Freund, Assistent, Haushälter, Galerist und Manager war, stirbt.

Höchst sinnlich sind Figur und ihre Darstellung. Beim Essen, das eigentlich Völlerei ist. Bei der triebhaften Kopulation mit dem alten Hausmädchen, das immer mehr von Läusen und Ausschlägen aufgefressen wird. Dagegen setzt Leigh dann die kultivierte Gesellschaft mit den schönen Künsten, in denen Turner nicht nur ein Lieferant für Gemälde in vielen Adelshäusern ist. Er ist anerkannt und wird geschätzt. Seine große Liebe zum Lebensende genießt er lange heimlich und unter Pseudonym, auch um den seltenen Besuchen seiner Ex-Frau, einer furchtbaren Furie, und einer noch schlimmeren Tochter zu entkommen. Dieser Turner ist ein Ungeheuer, aber ein harmloses - abgesehen von dem, was er an Leid bei seinen Frauen zurücklässt.

„Mr. Turner" liefert neben kongenialer Hommage an Turners Gemälde und neben dem Porträt einer ganz außerordentlich bemerkenswerten Person auch Kunst- und Zeitgeschichte: Timothy Spall sei dank sind wir mittendrin in den jährlichen Ausstellungen der Akademie mit ihrem Gezänk und all den Neidern. Wir erleben den animalischen Maler, der auch vor Ladys und jungen Damen auf seine Leinwand rotzt. Und wie ihn in späten Jahren neue Moden zum Abstrakten zum Außenseiter machen. Turner war ein Maler an der Grenze zur Moderne, die mit Eisenbahn und Fotografie Einzug hielt, was er selbst mit Begeisterung verfolgte.

Timothy Spall („Topsy-Turvy", „Harry Potter") verkörpert mit voller Wucht den Maler als Monolith der Kunstgeschichte und zwischen seinen Mitmenschen. Zwei Jahre hat er Unterricht genommen, um Turners Pinselstrich zu perfektionieren. Beim diesjährigen Filmfestival von Cannes wurde Spall mit dem Darstellerpreis belohnt. Dieses großartige Personen- und Epochen-Gemälde, dieses eindrucks- und kunstvolle Tableau, das immer wieder Turner in den eigenen, wundervollen Bildern zitiert, ist ein absolutes Kino-Kunstwerk und ein Muss für jeden Kunstliebhaber.