10.8.14

Locarno 2014 Belgien sehen und sterben

Deutsche Piazza zum totlachen und todernst

Man kann die italienische Journalistin gut verstehen, die sich wunderte, weshalb all diese deutschen Weltpremieren auf der Piazza-Grande des 67. Filmfestival Locarnos (6.-16. August) nach Belgien fahren und da den Tod suchen. Auch Benjamin Hermann, Produzent der Tragikomödie „Hin und Weg", musste da lachen. Aber nein, es gab kein Geld aus Belgien und das westbelgische Ostende stand schon im Drehbuch der Ostbelgierin Ariane Schröder als Zielort der Radtour vom todkranken Hannes und seinen Freunden fest. Auch dass der „Euro-Bond" Benno Fürmann bei „Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss" ausgerechnet im Land von Pommes, Pralinen und Brüssler Bürokratie seinen ersten Auftrag versemmelt, ist kafkaesk logisch.

„Hin und Weg" zieht es wie viele Filme über Todkranke noch ein letztes Mal ans Meer. Doch der mit Leichtigkeit daherkommende Film von Regisseur Christian Zübert („Lammbock", „Dreiviertelmond") setzt nicht auf Rührung: Jedes Jahr machen sechs Freunde zusammen eine Fahrradtour. Einer bestimmt, wohin es geht, und auf der Strecke bekommt jeder eine geheime Aufgabe, um den Spaß noch zu vergrößern. Dieses Jahr will Hannes (Florian David Fitz) nach Belgien, doch der Grund ist nicht lustig: Der 36-jährige leidet an einer erblichen, für ihn unheilbaren Krankheit. Das quälende letzte Jahr erlebte er beim Vater mit und will seinen Tod nun selbst bestimmen - in Ostende per bereits arrangierter Sterbehilfe. Erst auf der Strecke erfahren die Freunde vom eigentlichen Ziel, bleiben aber nach kurzen Protesten doch zusammen. Die Abschiedstour lässt die kleinen Probleme der anderen zurücktreten, wichtiger als die Diskussion um Hannes' Entscheidung wird die außergewöhnliche Freundschaft. So gelingt „Hin und Weg" der Umgang mit einem sensiblen Thema vor allem auch als Ensemble-Film. Julia Koschitz spielt Hannes' Freundin, Jürgen Vogel einen Casanova, Hannelore Elsner die Mutter des Todkranken und Miriam Stein, Volker Bruch, Victoria Mayer sowie Johannes Allmayer den Freundeskreis. („Hin und Weg" wird ab dem 23.Oktober in den Kinos zu sehen sein.)

Großartiges Schauspiel lieferte auch Benno Fürmann in der Komödie „Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss", ebenfalls als Weltpremiere vor großer Piazza-Kulisse: Der Auftragskiller Koralnik im geheimen Einsatz für eine noch geheimere EU-Sondertruppe bekam bei der Ausbildung beste Noten - und seit acht Jahren keinen einzigen Auftrag. Da kann selbst der härteste Agent schon mal seltsam werden und Koralnik wurde sehr seltsam. Das allein vergnügt vortrefflich, dann verunfallt auch noch die Betrügerin Rosa (Mavie Hörbiger) in sein Leben. Just als ihn doch der erste Auftrag nach Belgien ruft und prompt alles schief geht, auf der absurd-komischen Odyssee zu zweit. Fürmann gewinnt mit dem Alter stark an Charakter und wie er im schwarzen Anzug mit Rollkragenpullover durch seine einsame Existenz stakst, ist große Komödien-Kunst. Ein manchmal absurder Spaß-Trip durchs Hohe Venn und bis ins Finale bei Verviers. Da will Regisseur Florian Mischa Böder dann noch etwas über den Irrsinn von allgegenwärtiger Bedrohungs-Paranoia aussagen, was auch gesagt werden sollte. Nur verliert der Film etwas von seiner Spaßdichte. („Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss" startet im Herbst in den deutschen Kinos.)

Begossener Leopard
Ausgerechnet als der Klassiker „Der Leopard" von Luchino Visconti im Rahmen der exzellenten Retrospektive zur legendären italienischen Produktionsfirma Titanus auf der Piazza gezeigt wurde, ging nach Mitternacht ein auch historisch sein wollendes Gewitter nieder. Der Leopard - gleichzeitig Wappentier - wurde heftig begossen, was die Begeisterung trübte, allerdings nicht die Stimmung in der Kasse: Die Karten waren schon verkauft und werden im Falle einer Filmverlegung in die umfunktionierte Sportarena namens Fevi nicht erstattet. Auch gestern Abend war es feucht. Die wahre Geschichte der 1885 blind, taub und stumm geborenen „Marie Heurtin" lässt die Bemühungen des selbst kränklichen Ordensschwester Marguerite (Isabelle Carré) miterleben, dem Mädchen (Ariana Rivoire) eine Sprache zu geben und sie so aus dem Gefängnis ihrer Behinderungen zu befreien. Wie Der Regisseur Jean-Pierre Améris („Die anonymen Romantiker") mit zarten Pastellfarben und ganz sparsamen Streicherklängen bei dieses Wunder der Sprache erleben lässt, ist unbeschreiblich, unheimlich bewegend und zu Tränen rührend. „Marie Heurtin" (Start: 1.1.2015) damit eindeutiger Kandidat für den Publikumspreis der Piazza.