29.7.14

The Purge: Anarchy

USA 2014 Regie: James DeMonaco mit Frank Grillo, Carmen Ejogo, Zach Gilford, Kiele Sanchez 103 Min. FSK ab 16

Im Jahr 2023 ist die US-amerikanische Gesellschaft befriedet. Auch durch das „Säuberungs"-Ritual von „The Purge" (2013), das in einer Nacht des Jahres für zwölf Stunden jedes Verbrechen ohne Strafverfolgung erlaubt. Das ist wie Karneval, nur noch etwas hemmungsloser und extremer, in diesem Film extrem brutal und blutig. Er beginnt etwas mehr als zwei Stunden vor der Nacht, in der alle Masken der Zivilisation fallen. Doch damit ist dem Konstrukt schon zu viel des Gutes beigeschrieben worden. Denn Zivilisationskritik leistet „The Purge" nicht, höchstens Gesellschaftskritik. Diese aber auch nicht besonders schlüssig oder weiterführend. Während das Prinzip der Zombie-Filme immer wieder eine reizvolle Folie für den Umgang mit Außenseitern bietet, erschließt sich bei dieser Gewaltorgie, in der große Teile der Gesellschaft plötzlich nichts anderes als morden wollen, nicht der Sinn des Ganzen. Trotzdem konzentriert sich der zweite Teil bei vergleichsweise reduzierten Geschichten noch mehr auf die Gewalt-Orgie.

Im Zentrum steht ein Mann, der sich rächen will. Eher wiederwillig sammelt er unterwegs ein verlorenes Pärchen auf, dessen Auto im unpassendsten Moment den Geist aufgibt. Und zwei Schwestern, deren kranker Vater sich als Opfer für den kranken Ritus verkauft hat. Sie kommen hinter das Geheimnis einer hochgerüsteten Untergrund-Armee und fliehen vor geheimnisvollen, maskierten Typen. Dabei erweisen sich der Staat und die weiße Oberschicht als wahre Gegner, gegen die ein schwarzer Widerstands-Kämpfer auf gehakten Bildschirmen aufbegehrt. Reich gegen arm und schwarz gegen weiß, komplexer wird das Schlachten nicht. Dass ästhetische Qualitäten bei der Gewaltverherrlichung erkennbar sind, entschuldigt nichts.

Jersey Boys

USA 2014 Regie: Clint Eastwood mit John Lloyd Young, Erich Bergen, Michael Lomenda, Vincent Piazza, Christopher Walken 134 Min.

Clint Eastwood („Million Dollar Baby", „Erbarmungslos") ist nicht nur Cowboy und einer der besten Regisseure unserer Zeit. Er ist auch Musiker, komponiert schon mal selbst für seine Filme. So war er auch eine gute Wahl, um „Jersey Boys", das erfolgreiche Musical über die Karriere von Frankie Valli und den „Four Seasons", auf die Leinwand zu bringen. Es erzählt einerseits eine Geschichte vom Aufstieg aus armen und kriminellen Verhältnissen wie bei Martin Scorsese. Und spielt andererseits eine Menge Oldies der „Doo-wop Band" wie „Can't Take My Eyes Off", „December 1963 (Oh, What A Night)", „You Big Girls Don't Cry" und „Sherry" - immer bestimmt vom Falsettgesang Frankie Vallis.

„Wenn man in New Jersey lebt, gibt es drei Wege aus der armen Gegend rauszukommen: Den Militärdienst, die Mafia oder man wird berühmt." Francis Stephen Castelluccio (John Lloyd Young) - so der eigentliche Name des 1937 geborenen Musikers - probiert es Anfang der fünfziger Jahre erst auf dem kriminellen Weg, doch das Zusammenspiel seiner Band leidet stark darunter, dass immer einer von ihnen im Knast sitzt. Doch nicht Gyp DeCarlo (Christopher Walken), der sich als Pate des Viertels in die Bank verliebt, bringt den entscheidenden Karriereschritt. Die vier Jungs selbst besorgen sich einen Plattenvertrag, der sie erst mal zu Background-Sängern für andere macht. Doch der Durchbruch ist bei dieser Band-Biografie unvermeidlich, genau wie der Verrat von Frankies bestem Freund Tommy DeVito (Vincent Piazza), der seine Schuldenberge mit der mittlerweile reich gefüllten Band-Kasse abbauen will. Jetzt rettet Gyp DeCarlo in einem großen Mobster-Moment Leben, und Frankie verdingt sich bei den Kredithaien für ein jahrelanges Tourleben, das schließlich seine Familie zerstört.

Die recht konventionelle Musicalverfilmung aus einer Zeit, in der junge Musik noch ziemlich alt war, setzt ganz auf die mit Preisen überhäuften Bühnendarsteller, die einen guten Eindruck machen. Als Zugabe hat Christopher Walken ein paar große Szenen und tanzt selbstverständlich auch einige Schrittchen (im Abspann). Ganz großes Drama darf man bei einem „Four Seasons"-Musical, das von Menschen aus der Umgebung der Band produziert wurde und bei dem die alten Herren am Schluss alle zusammen noch einmal singen, nicht erwarten. Da bringt nur Frankies erste Trennung ein paar Emotionen und einen passenden Song. Selbstverständlich ist es auch schwer, als die Band auseinander fällt, vor allem für einen Familien-Menschen aus Jersey, für den Freundschaft besonders viel bedeutet. Der Mafia-Hintergrund bleibt im Hintergrund. (Nur ein irritierendes Detail setzt sich fest, dass nämlich der Schauspieler Joe Pesci in jungen Jahren als Freund von Tommy DeVito tatsächlich die „Four Seasons" zusammenbrachte und später in „Goodfellas" genau diesen Tommy DeVito spielt.) Letztlich ist „Jersey Boys" sicherlich der Eastwood mit am wenigsten Eastwood drin, aber immerhin ein nettes, sehr souverän und sorgsam inszeniertes Stück Musikgeschichte.

22 Jump Street

USA 2014 Regie: Phil Lord, Christopher Miller mit Jonah Hill, Channing Tatum, Peter Stormare, Wyatt Russell, Amber Stevens 112 Min. FSK: ab 12


Teil 2 und Spaß dabei

„22 Jump Street" präsentiert die postmoderne Rekonstruktion des ansonsten so nervigen zweiten Teils. Doch keine Angst, es tut nicht weh im Kopf, nur an den Lachmuskeln, wenn Schmidt (Jonah Hill) und Jenko (Channing Tatum) als Dick und Doof zur Undercover-Uni gehen.

Das Remake der TV-Serie „21 Jump Street" aus den 80ern ist eine extrem aufwändige und teure Albernheit. Totaler Klamauk mit einem Twist, denn nicht das übliche Jagen von Drogendealer auf Schulhof (Teil 1) oder Campus scheint das Thema. Dauernd wird selbstironisch ein „zweites Mal" erwähnt, bei dem das Budget verdoppelt wurde, so dass man nun mehr rumballern und noch mehr Verfolgungsjagden machen könne. Allerdings ist auch dieser Mehrwert schnell verpulvert, was dann zu Raser-Action auf einem Golfcart führt.

„22 Jump Street" macht genau das Gleiche wie beim letzten Mal. Nur dass die Undercover-Zentrale der Polizei nicht in der koreanischen Kirche mit Hausnummer 21, sondern in einer vietnamesischen mit Nummer 22 direkt gegenüber liegt. Die selbstverständlich doppelt so groß ist. Die Rollen sind vertauscht: Schmidt wird diesmal zum kreativ angehauchten Außenseiter und beim Poetry Slam zum Liebhaber der Studentin Maya (Amber Stevens), die sich später als Tochter des cholerischen Vorgesetzten Captain Dickson (Ice Cube) erweist. Jenko ist tatsächlich seinem Image entsprechend auch undercover gut gebauter Football-Star und heißbegehrt in einer Studentenvereinigung. Besonders heiß wird die Freundschaft mit dem anderen Schönling des Clubs, Zook (Wyatt Russell). Die voller homoerotischer Andeutungen nur so aus den knappen Shirts platzende Männerfreundschaft führt zu herzzerreißenden Eifersuchtsszenen mit der dicken Zicke Schmidt. Diese melodramatische Liebes-Parodie übertrifft im Schmalzfaktor viele echte Romanzen. Bis zum Undercover-Einsatz beim Psychiater, den sie als zerstrittenes schwules Pärchen bestreiten.

Nebenbei geht es um die mörderische Droge „Why Phy", die nicht nur so klingt wie Wifi, sondern auch überall auf dem Campus zu haben ist. Dabei ist der Blödelfaktor so hoch wie bei „Nackte Kanone" und der Schrägheitsgrad in einigen Momenten steiler als in Ben Stillers Model-Parodie „Zoolander" mit Owen Wilson. Es gibt ein Live-Zitat zu „Alien" mit Oktopus, nach Geschlechts-Umwandlung extrem durchgeknatterte Knastis, eine Widergeburt von Miss Piggy als Zimmergenossin, im Hintergrund ein „Benjamin Hill Center for Film Studies". Schnell-Denker Jenko verwechselt schon mal Carte Blanche mit Cate Blanchett und greift seinem „Partner" selbst im Action-Finale noch tief in den Schritt.

So kindisch, wie Schmidt und Janko ihre Studenten-Bude einrichten, so stürzt sich auch der Film in allen möglichen Spaß. Auch in den kenntnisreichen. Hirnrissiges und Raffiniertes gehen in inniger, feuchter Umarmung miteinander. Genau wie der Blöde und der schön Blöde unter einer Decke zusammenstecken. Oder wie der, wieder als Spitzen-Split-Screen-Scherz präsentierte, Stereo-Trip in Horror und rosarot. Man sieht tatsächlich, dass jeder dieser Helden hat nur eine Hirnhälfte hat und dass sie zusammengehören.

Die intelligenteste Fortsetzung, seit es „Aliens" gibt, erlebt ihren umwerfenden Höhepunkt schließlich im Abspann - einem Feuerwerk an Fortsetzungstrailern für die nächsten Jahrzehnte bis zum Rentenalter der Hauptdarsteller und bis zu „2121 Jump Street - Space-Kadetten im All", samt Videospiel und Merchandise. Auch auf die Gefahr hin, sich zu wiederholen: Das macht Spaß!

Eyjafjallajökull - Der unaussprechliche Vulkanfilm

Frankreich, BRD, Belgien 2013 Regie: Alexandre Coffre mit Valérie Bonneton, Dany Boon, Denis Ménochet, Albert Delpy 92 Min. FSK: ab 6

Unaussprechlich oder doch unausstehlich? Können zwei extreme Unsympathen Spaß machen? Im Prinzip ja, nur hier wünscht man Dany Boon und Valérie Bonneton als zerstrittenes Paar schnell dahin, wo der Pfeffer wächst oder der Vulkan qualmt.

Dass bei der zufälligen Begegnung der heftig geschiedenen Ehemals-Partner Valérie (Valérie Bonneton) und Alain (Dany Boon) sie ihm direkt hochhackig auf die Hand tritt und er sie im Flugzeug-Klo einsperrt, ist nur der Auftakt eines zwanghaften Rosenkrieges on the Road. Valérie und Alain wollen auf möglichst getrennten Wegen von Paris zur Hochzeit der Tochter auf einer griechischen Insel. Doch die Flugasche des isländischen Eyjafjallajökull bringt sie schon in München auf den Boden ihres Streites zurück. Der einfach gestrickte Fahrlehrer kann für nur 4000 Euro den letzten Leihwagen ergattern aber die biestige Ex-Gattin entert den Familienporsche. Der Onkel (Julies Papa Albert Delpy) haut schon vor der Abfahrt ab, die Freunde der Tochter steigen bei der ersten Gelegenheit aus diesem Wahnsinn aus.

Nur wir im Kino müssen sitzen bleiben, wenn die hinterhältige Hexe und ihr bösartiger Troll in dem rollenden Rosenkrieg einen schweren Autobahnunfall verursachen, einen Bus abfackeln, erst einen Polizeiwagen und dann ein Flugzeug klauen. Selbstverständlich geht anders als im Flugsimulator, den Alain so gut beherrscht, echten Flugzeugen schon mal das Benzin aus. Doch die eigentliche Bruchlandung ist der Film selbst. Die Figuren bleiben dünn, unglaubwürdig und nervig. Ein religiöser Extremist in fahrender Arche mit ABS, der den Vulkanausbruch als Zeichen der Apokalypse sieht, interessiert da in fünf Minuten viel mehr als der ganze Rest. Irgendwann fallen Valérie und Alain völlig ohne Vorzeichen sogar leidenschaftlich übereinander her und riskieren ihr Leben füreinander. Größer als dieser Klops sind nur die Schlampereien, dass der Slowenische Flughafen sowie die Österreicher Autobahn unübersehbar in Belgien gedreht wurden. Und überhaupt war anscheinend der Bereich zwischen München und Athen gar nicht von der Vulkanasche betroffen - ein unnötiger Film also.

28.7.14

Die geliebten Schwestern

BRD 2014 Regie: Dominik Graf mit Hannah Herzsprung, Florian Stetter, Henriette Confurius, Claudia Messner, Ronald Zehrfeld 130 Min.

Als die junge Charlotte von Lengefeld (Henriette Confurius) im Herbst 1787 von Rudolstadt an der Saale nach Weimar zu ihrer Patentante, der Frau von Stein (Maja Maranow) zieht, verabscheut die Adelige aus verarmten Hause schnell die Gesellschaft der Stadt. Bis sie zufällig den jungen, aus Württemberg verbannten Autor Friedrich Schiller (Florian Stetter) kennenlernt. Die Initiative ihrer älteren, wegen des Geldes unglücklich verheirateten Schwester Caroline von Beulwitz (Hannah Herzsprung) bringt Schiller nach Rudolfstadt, wo sich eine innige Beziehung zwischen den dreien entwickelt. Sie schicken sich codierte Briefe und landen schließlich zusammen im Bett des kranken Schiller. Die Schwestern, die sich schon früher unter dem Rauschen des Rheinfalls bei Schaffhausen Treue und ewige Offenheit schworen, beschließen, dass die Lollo genannte Charlotte Schiller heiratet, damit auch „Line" ihm nah sein kann. Doch die Berufung Schillers an die Universität Jenas und Caroline Flucht vor der zunehmend unerträglichere Ehe bringen die drei im Laufe der Jahre auseinander. Zuerst verzichtet die ältere für die geliebte Schwester auf den geliebten Mann, dann verheimlicht sie Jahre später ein leidenschaftliches Treffen.

„Die geliebten Schwestern", diese ungewöhnliche Liebesgeschichte dreier Figuren, die 13 Jahre überdauert, bedeutet die Rückkehr des vielfach ausgezeichneten Regisseurs Dominik Graf (u.a. 10 Grimme-Preise, Deutscher- und Bayerischer Fernsehpreis) ins Kino. Auch das Drehbuch über die außerordentliche Liebe zwischen Friedrich Schiller und den beiden Schwestern Caroline von Beulwitz und Charlotte von Lengefeld stammt aus der Feder des Machers von „Im Angesicht des Verbrechens", dieser sagenhaft guten TV-Mehrteilers.

Dominik Graf ergeht sich in seiner schönen historischen Liebesgeschichte immer wieder mal in Langsamkeit. Die literarischen und Weltereignisse spielen vom Rande her rein, ergänzen etwa als Berichte von grausamen Auswüchsen der Französischen Revolution das Gefühlsspektrum. Auch wenn die finanzielle Situation des verarmten Adels eine wichtige Rolle spielt, „Die geliebten Schwestern" ist kein Jane Austen-Roman. Die kleinen Anspielungen und netten Momente verweisen ins Hier und Jetzt wie die in 3D posierten Scharaden als damaliges Heimkino. Goethe, der in Italien weilt und fast nur am Rande auftaucht, ist fast ein Running Gag. Die historische, erste Begegnung der beiden Dichter wird eine herrliche Lachnummer über Fans und Prominenz. Vielleicht kann man auch die Weimarer Gesellschaft und Charlottens vernichtendes Urteil über diese auf die Filmszene übertragen.

Während die Bilder der TV-Koproduktion nicht die Üppigkeit großer Hollywood-Dramen erreichen können, überzeugen die Darsteller, unterstützt durch die feine Sprache. Dabei darf man keine Schiller-Biografie erwarten, die Caroline später als erste schreiben wird. Der große Dichter kommt nicht immer gut weg, verschläft die blutige Geburt seines Sohnes nebenan. Im Zentrum steht des Experiment einer außergewöhnlichen Liebe, bei der sich anfangs die Schwestern gegenseitig übertreffen, mit liebevoller Aufopferung und Entsagen für den anderen. Am Ende sind sie in Weimar angekommen und angenommen, doch in ihrer Liebe gescheitert. Die Euphorie des Anfangs wich einer Tristesse der Bürgerlichkeit. Dieses mutige Experiment mitzuerleben, berührt und interessiert.

23.7.14

Good Vibrations

Großbritannien, Irland 2012 Regie: Lisa Barros D'Sa, Glenn Leyburn mit Richard Dormer, Jodie Whittaker, Michael Colgan 103 Min. FSK: ab 6

In den 70ern in Belfast, im blutigen Bürgerkrieg mitten auf einer umkämpften Straßenmeile einen Plattenladen zu eröffnen. Für so eine Idee muss man besonders verrückt und sehr idealistisch sein. Terri Hooley hat dies tatsächlich gemacht und dieser wunderbare Film erzählt seine wahre Geschichte: Zuerst holt Terri (großartig: Richard Dormer) die Gegner in einer Kneipe zusammen, gibt ihnen ein paar LPs und bittet sie, nicht in seinem Laden erschossen zu werden.

Dann entdeckt der Plattensammler den Punk, aber vor allem die politischer Kraft seiner Ablehnung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Terri wird Plattenproduzent, geht mit einer Band namens Rudi auf Tour ins verschnarchte Hinterland und die eine richtig gute Nummer, verschenkt er quasi an eine große Plattenfirma. Terri ist ein Idealist, der seine Miete und Steuern nicht zahlen kann, selbst als er die Ulster-Hall füllt. Er wird zwar mittlerweile der „Godfather of Belfast Punk" genannt, war aber nie ein Geschäftsmann. Aber ein Verführer, der seine große Begeisterung teilt, manchmal mit einem Joint dazu.

Begeisterung teilt auch „Good Vibrations", dieser großartige Film über (Punk-) Musik als (Über-) Lebenskraft im Krieg, als vereinigende Energie im System des Teilen und Herrschen: „New York has the haircuts, London has the trousers, but Belfast has the reason!" fasst Terri es zusammen. Mit klasse Montagen historischer Aufnahmen, rasante Zeitläufe Nordirlands grätscht immer wieder der Bürgerkrieg ins Leben. Das wird zwar mit Witz und Sarkasmus filmisch präsentiert und kommentiert. Doch letztlich ist der Film ebenso rührend begeisternd wie traurig. Terri bleibt jedoch trotz aller Umstände ein fröhlicher, optimistischer und witziger Mann.

Wacken 3D

BRD 2014 Regie: Norbert Heitker 100 Min.

Das Metalrock-Festival Wacken, das jährlich über das gleichnamige Dorf in Schleswig-Holstein hereinbricht, war mit dem Gegensatz von Vorgärten und verschlammter Festival-Wiese schon einmal als reizvolles Kontrastprogramm vor der Kamera. Anders als bei Sung-Hyung Chos Dokumentation „Full Metal Village" aus 2007 ist „Wacken 3D" vor allem ein kommentierter Konzertmitschnitt mit aufwändigen Aufnahmen vieler Kameras aus allen möglichen Perspektiven.

Wacken ist während des Festivals bevölkert von einer eine Menge durchgeknallter Typen in schwarzen Klamotten, aber auch „der friedlichste Ort der Welt". Hunde, die hardrocken beißen nicht, oder: „Um sich mit Menschen anzufreunden, muss man erst einmal aggressiv sein", wie es ein anderer Teilnehmer auf dem Zeltplatz feststellt. Viel weiter gehen die soziologischen Einblicke nicht. Dafür gibt es viel Stimmung, Musik, Crowdsurfing und kuriose Teilnehmer: Eine Taiwanesin führt uns mit ihrem Trolley im Schlamm über das Gelände zur Fortsetzung der Party im öffentlichen Schwimmbad von Wacken. Ein alberner Kerl verkleidet sich täglich neu, Alice Cooper, die Werbefigur eines Elektro-Marktes, gibt seinen Senf dazu. Auf der Bühne stehen Ur-Oldies wie Deep Purple mit „Smoke on the water" und die Pyromanen Rammstein. Ein Nachwuchswettbewerb mit Metal-Bands aus aller Welt bringt ein paar ungewöhnliche der „50 Varianten von Metal" in den Film. Ein Muss für die Fans und für alle anderen ein reizvoller Einblick zum Lächeln, Headbangen und Kopfschütteln.

22.7.14

Feuerwerk am helllichten Tage

VR China, Hongkong 2014 (Bai ri yan huo / Black coal, thin ice) Regie: Diao Yinan mit Liao Fan, Gwei Lun Mei, Wang Xuebing, Wang Jingchun 109 Min. FSK: ab 16

Der Berlinale-Sieger 2014 zeigt mit Liao Fan, dem angeblich besten Darsteller des Festivals, einen „film noir" - gezeichnet mit Kohle und Schnee, dazu immer wieder schrill bunte Tupfer und Gesellschaftskritik im ruhigen Krimi.

Die beste Szene fast zu Anfang ist fast Tarantino und so bunt wie die frühen Wong Kar-Wai: Im Jahr 1999 werden im Norden Chinas auf Kohlenhalden menschliche Leichenteile gefunden. Es gibt Verdächtige, sie werden festgenommen und nun kommt es in einer Aufnahme zu einer bescheuerten, weil leicht vermeidbaren Schießerei, bei der die vermeintlichen Täter und auch zwei Polizisten ums Leben kommen. Kommissar Zhang Zili überlebt schwer verletzt. Fünf Jahre später - der gewagte Zeitsprung findet bei einer Fahrt durch einen Tunnel statt - ist er kaum wiederzuerkennen. Ein Säufer, der nicht mehr bei der Polizei ist. Selbst den Job als Sicherheitsmann kann er mit seiner Unbeherrschtheit nicht halten.

Als jedoch wieder Leichenteile gefunden werden, legt Zhang auf eigene Faust eine Verbissenheit an den Tag, die wir von Dürrenmatts Kommissaren kenn. Die Spur führt ihn zu einer Reinigung und der mysteriösen Angestellten Wu Zhizhen, die mit allen bisherigen Opfern in Verbindung stand. Zhang taucht immer obsessiver in den Fall ein und verliebt sich schließlich in die schweigsame Schöne. Und kommt dem „Schlittschuh-Mörder" auf die Spur...

„Feuerwerk am helllichten Tage" ist der dritte Film des chinesischen Regisseurs Diao Yinan. Immer wieder hat er starke Momente und Szenen, die Verfolgung des vermeintlichen Mörders, eine „Dritte Mann"-Szene im Riesenrad. Dazu das düstere Styling einer Industrie-Stadt mit Menschen, die genauso vernachlässigt scheinen wie die Straßen und Häuser. Dieses China ist nicht besonders reizvoll oder fortschrittlich. Allerdings ergeben all diese interessanten und reizvollen Elemente noch keinen zusammenhängend großen Film. Es ist ein sehenswerter Arthaus-Krimi, der mit dem Goldenen Bären ein wenig überbewertet ist.

Monsieur Claude und seine Töchter

Frankreich 2014 (Qu'est-ce qu'on a fait au bon dieu?) Regie: Philippe de Chauveron mit Christian Clavier, Chantal Lauby, Ary Abittan, Medi Sadoun, Frédéric Chau, Noom Diawara, Frédérique Bel 97 Min. FSK: ab 0

Ziemlich ... rassistisch

Protagonist dieser französischen Komödie ist Claude Verneuil (Christian Clavier), ein alter, biederer Bürger und Notar aus der Provinz, der seine rassistischen Vorbehalte nicht zurückhalten kann. Nicht bei der Hochzeit der einen Tochter mit dem Juden Rachid, nicht bei der Trauung der anderen Tochter mit dem „Araber" Rachid und schon gar nicht bei der Vermählung einer dritten Tochter mit dem Chinesen Chao. Bei der Beschneidung des Enkels schmeckt der koschere Champagner schal und die Kippa juckt am Kopf. Die Vorhaut isst der Hund noch vor dem Begräbnis im Garten, ein Stück Schinken wird stattdessen vergraben.

Folglich gibt es zur Feier ein völlig verkrampftes Familienessen - selbstverständlich ohne Schwein. Dafür aber mit israelisch-muslimischen Konflikt als Hauptgang bei diesem Festival der Vorurteile. Der Chinese isst Hund - nicht wirklich, aber er selbst darf keine solche Witze machen. Zur Tarte Normande als Nachtisch wird sich schon geprügelt und dann wollen sich vor allem die drei Schwiegersöhne nicht mehr sehen. Sie nennen die anderen je nach Perspektive Jacky Chan und Arafat, Gaddafi und Netanjahu, Bruce Lee und Rabbi Jacob. Mutter Verneuil wird über den Streit und die Trennungen depressiv. Nur die Schenkelklopfer werden nicht müde oder weniger. Mutters Priester sucht derweil während der psychoanalytischen Beichte auf dem iPad eine schicke Soutane bei Ebay.

Was für Menschen hinter diesen Klischees stecken, sieht man allerdings nicht. Vor allem nicht, als die ziemlich unangenehme Komödien-Angelegenheit noch einen Zahn zulegt. Denn es gibt noch eine vierte Tochter, und Laure will Charles Koffi heiraten. Er hat einen französischen Vornamen, ist katholisch, dass er auch Schauspieler ist, wird toleriert. Dass er allerdings ein schwarzer Afrikaner ist, soll irgendwie die Krönung sein.

Wie sich die drei „reinrassigen Franzosen", die so hervorragend die Marseillese singen können, nun gegen den Einwanderer verschwören, ist ziemlich unglaubwürdig und funktioniert nur, wenn man die zentrale Entschuldigungs-Aussage des Films akzeptiert: „Sind wir nicht alle ein wenig rassistisch?". Sind wir? Spätestens hier ist der Film eher widerlich als komisch.

Dass dieser Monsieur Claude oder besser Monsieur Le Pen in Frankreich noch erfolgreicher als „Ziemlich beste Freunde" war, muss nichts heißen. Denn die spezielle französische Gemengelage eines viel stärkeren Multikulti-Landes mit Straßenschlachten wird in Deutschland nicht unbedingt verstanden. Wenn auch die Nationalhymnen-Diskussion bei Länderspielen die gleiche ist. „Monsieur Claude" ist vielleicht besser gemacht und gespielt als die deutsch-türkische Variante „Einmal Hans mit scharfer Soße", aber nicht raffinierter. Alles ist arg schwarz-weiß gezeichnet, es überwiegen simple, dumme Scherzchen. Wenn die Witze des bemühten Vaters und unverbesserlichen Rassisten ganz schnell wieder schief gehen, hilft nur noch der schwarze Rassisten-Vater aus Afrika. Dabei werden die ganzen Undinge als „nett" und „Wohlfühlfilm" präsentiert, es ist keineswegs geplant, mit nicht korrektem Verhalten zu provozieren. Da wo beide Väter Rassisten und Gaullisten sind, sieht dieser Film seine Wohlfühl-Lösung nicht in der Anerkennung der Differenz, sondern der Gleichheit im Rassismus. Ein nur handwerklich halbwegs akzeptables Ärgernis. Und ein ziemlich blöder Film.

Drachenzähmen leicht gemacht 2

USA 2014 (How to train your dragon 2) Regie: Dean Deblois 103 Min. FSK: ab 6

Wikinger waren in ihrer Kultur und den Eroberungszügen bis in den Orient sagenhaft. Sie mit echten Drachen-Sagen zu verbinden, war nicht der einzige tolle Idee beim Erfolg von „Drachenzähmen leicht gemacht". Es war auch ein unkonventioneller, frischer Animationsfilm für die ganze Familie. Die Fortsetzung übertrifft den fantastischen Überflieger noch einmal.

Im kleinen Dorf Berk ist die Welt in Ordnung: Die einstigen Gegner Wikinger und Drachen vergnügen sich gemeinsam beim Schafe durch die Luft und in Körbe werfen. Eine Art Quidditch-Spiel wie bei Harry Potter, ähnlich rasant, fantastisch in den Farben und Formen der Drachen, nur schauen die Schafe dabei herrlich dämlich drein. Hicks, der junge Häuptlingssohn, der diese wunderbare Eintracht zustande brachte, liefert als Base-Jumper mit Superhelden-Ausstattung, sehr rasanten Flugaufnahmen, Salti und Luft-Pirouetten wieder eindrucksvolle Action. Immer dabei sein niedlicher Drache Ohnezahn, mit dem Kopf einer Kaulquappe wie ein sehr groß geratenes Pokémon aussehend.

Ganz schnell entdecken Hicks, der vor den Verantwortungs-Sprüchen seines Vaters abhaut, und seine Freundin eine unbekannt Welt, die aus dem Nebel erscheint, werden von Drachenjägern überfallen und stecken in einem gefährlichen Abenteuer. Wobei Hicks auch hier den bedrohliche Gegner und Drachenfänger erst einmal treffen und ihm zureden will. Doch vorher lernt er eine Frau kennen, die nicht nur in ihrem Eis-Reich der Drachen eine Königin, sondern auch seine Mutter Valka (mit der Original-Stimme von Cate Blanchett) ist.

Die Begeisterung für das zweite „Drachenzähmen" wird einem sehr leicht gemacht: Großartige riesige Monstren, düstere Gestalten, ein dämonischer Gegner. Die Menschen fast realistisch animiert mit intensiven Gesichtsausdrücken, der Rest ist ebenso fantastisch ausgedacht wie ausgemalt. Hicks erfüllt sich den Traum vom Fliegen nicht nur auf den Drachen sondern auch mit seinem Jumpsuit ganz eigenhändig. Bei all diesem atemberaubenden Abheben ist „Drachenzähmen" auch eine sehr geerdete, berührende Familiengeschichte. Mit Trennungskind, das die Erfahrung von Abschied und Verlust machen muss. Heraus kommt dank der erstaunlichen Fähigkeiten des jungen Helden Hicks der bunte Entwurf einer utopischen Gemeinschaft, der fast die humanistische Tiefe einer Miyazaki-Animation erreicht.

Während Hicks auch noch lernt, Verantwortung zu übernehmen, kommen selbstverständlich Spaß und Spannung nicht zu kurz: Die Drachen spielen im Hintergrund Stückchen holen und vor der Entdeckung seiner Mutter, durchlebt der Junge bedrohliche Momente in einer dunklen Höhle. Wobei die große Schlacht leider etwas von dem Eigen- und Einzigartigen dieses Films aufgibt: Zwischendurch gibt es wieder eine der gigantischen Kloppereien. Ärgerlich, wenn da nicht dieser Junge wäre, der immer wieder probiert, mit dem anderen zu reden und Frieden zu machen.

„Drachenzähmen leicht gemacht 2" mixt gelungen ein echtes Volk der Menschheits-Geschichte mit dem Mythos von Drachen und einigem Steam-Punk und ist schon jetzt, vor dem Abschluss der Trilogie, eine große Saga.

15.7.14

Der Schmetterlingsjäger - 37 Karteikarten zu Nabokov

BRD, Schweiz 2012 Regie: Harald Bergmann mit Heinz Wismann, Klaus Wyborny, Rainer Sellien, Ronald Steckel, Katerina Medvedeva 135 Min. FSK: ab 6

Harald Bergmann wurde mit ungewöhnlichen Filmen über Texte von Hölderlin und Brinkmann bekannt. Nun nähert er sich dem Schriftsteller Vladimir Nabokov (1899-1977), nach Meinung vieler der größte Erzähler überhaupt, und seinem Verständnis von Zeit an.

Beginnend mit der ersten Kindheitserinnerung Nabokovs vermischen sich unterschiedliche Filmelemente: Tolle Bebilderung von Nabokov-Texten (u.a. „Ada oder Das Verlangen") mit wunderschönen Aufnahmen, die ebenfalls mit der Zeit und der Erinnerung spielen, fesselnd gelesen von seinem Sohn Dmitri Nabokov. Andere Geschichten drängen sich dazwischen, immer wieder gebrochen von einem Kommentator und einem fiktiven Regisseur am Schneidetisch. Dann wechseln Stil und Thema, mit Techno-Sound geht es im historischen Sportwagen über enge Bergstraßen. Ein Schmetterlings-Spezialist zeigt, wie man das Vertrauen der Insekten gewinnt und Männchen von Weibchen unterscheidet.

Der Essay-Film bringt gleichzeitig Nabokov näher, der mit „Lolita" berühmt wurde und will dessen Umgang mit dem Phänomen Zeit vermitteln. Dabei geht Bergmann soweit, auch den Verlauf der Zeit im Film mitzudenken, das mit dem Schriftsteller verbundene Bild des Schmetterlingsjäger auf die Schippe zu nehmen und auch die Arbeit des Filmemachens zu reflektieren. Ein sehr reizvolles Spiel mit der Puzzle-Technik, das nie Gefahr läuft, die übliche Langeweile literarischer Filme einzufangen.


Wir sind die Neuen

BRD 2014 Regie: Ralf Westhoff mit Gisela Schneeberger, Heiner Lauterbach, Michael Wittenborn, Claudia Eisinger, Karoline Schuch, Patrick Güldenberg 92 Min. FSK: ab 0

Von der frisch studierenden Nichte aus der Wohnung geschmissen, will Anne (Gisela Schneeberger) ihre alte Studenten-WG wieder aufleben lassen. Nach 35 Jahren, in denen sich viele jahrzehntelang nicht mehr gesehen haben, ein schwieriges Unterfangen. Denn es ist ja nicht vorrangig die Begeisterung für die alte Zeit und Lebensform, es ist die (nicht nur in) München prekäre Wohnsituation, welche die quirlige Sechzigerin Anne nach einer WG suchen lässt. Die ersten Kandidaten disqualifizieren sich schon über ihre Wohnungen und Lebensstile. Der Spießer von früher rechnet in seiner großen Luxuswohnung mit den alten Genossen ab.

Letztlich bleiben nur zwei Mitbewohner übrig: Der Lebemann Eddi (Heiner Lauterbach), dessen geschiedene Frau und Kinder nicht mehr mit ihm reden, und Johannes (Michael Wittenborn), ein Rechtsanwalt, der zu viel für die gute Sache und zu wenig auf eigene Rechnung gearbeitet hat. Tatsächlich bekommt das Trio dank einer alten Liebschaft Eddis und viel Mitleid eine Altbauwohnung. Die aufgekratzte Begeisterung beim Einzug wird aber schnell von den Nachbarn getrübt: Eine Studenten-WG von heute sieht die drei Alten als Pflegefälle an, hat „keine Kapazitäten" im Prüfungsstress und will keinen Kontakt. Wobei das Jura-Studenten-Paar und die Kunsthistorikerin auch ansonsten langweilig sind. Die Konfrontation mit echtem Spießertum und erschreckend aufgeräumter Wohnung ist „die Hölle". Der andere Nachbar scheint freundlicher, hat aber erst in einigen Wochen einen freien Termin.

Dünne Decken sei Dank kommt es schnell zu Streit sowie zu herrlich spitzen und treffenden Diskussionen untereinander und mit den Spießern von obendrüber. Es entwickelt sich ein Lautstärke-Krieg bei dem die Alten die Lauten sind. Dafür schlägt Anne, Eddi und Johannes blanker Sozialhass einer verwöhnten Generation entgegen: An Altersarmut sei schließlich jeder selbst schuld. Noch besser wird der Klassenkampf zwischen den Generationen als sich die Alten irgendwann um die völlig überforderten Jungen am Rande des Nervenzusammenbruchs kümmern.

„Wir sind die Neuen" macht mit tollen Schauspielern so viel Spaß, dass man das „Thema" längst vergessen hat. Was mit DeNiro und Co als Rentner-Gang in Las Vegas oder in französischer Variante mit Jane Fonda bei „Und wenn wir alle zusammenziehen" unterhält, funktioniert auch auf Deutsch hervorragend, da ausgetretene Szenen vermieden werden. Der Aufstand gegen die Wohnsituation in München und anderswo, gegen Rollkoffer-Typen und Coffee to go, weil man doch seinen Kaffee gar nicht im Gehen trinken will, kommt richtig frisch rüber. Gleichzeitig reflektiert er ziemlich klar und nüchtern eine aus heutiger Sicht völlig unökonomische Studienzeit. Und ist umwerfend komisch, wenn Eddi / Heiner Lauterbach seinen unwiderstehlichen Blick auflegt und eine junge Frau fragt, ob es ihm nicht gut geht. Gisela Schneeberger („Man spricht deutsh") ist wie gewohnt großartig, hier vertraut sie mehr auf die leiseren Töne.

Ralf Westhoff gelingt es diesmal wesentlich runder und unterhaltsamer als in „Shoppen" (2006) oder in „Der letzte schöne Herbsttag" (2010) Reflektionen über Leben und Wandel mit vermeintlich lockerer Handlung zu verbinden. Ein klasse Spaß für WGs und Spießer jeder Altersklasse.

Transformers: Ära des Untergangs

USA 2014 (Transformers: Age of extinction) Regie: Michael Bay mit Mark Wahlberg, Stanley Tucci, Nicola Peltz, Jack Reynor 166 Min. FSK ab 12

Nachdem sich selbst Shia LaBeouf als Hauptsteller zu erwachsen fühlte für diesen filmischen Schrotthaufen namens „Transformers", übernimmt nun Mark Wahlberg die Verfilmung eines Jungens-Spielzeugs. Die vom Hersteller Hasbro selbst koproduziert wird!

Im vierten Teil des seelenlosen Kampf-Automatismus, der erwachsener, aber vor allem brutaler und drastischer werden sollte, erfahren wir die Wahrheit über das Sauriersterben. Doch eigentlich geht es weiter mit dem Stellvertreterkampf der außerirdischen Altmetall-Riesen Autobots und Decepticons. Während diese sich fortwährend von Autos in Roboter und zurück verwandeln, bleibt sich der Film ermüdend gleich. Diesmal droht ein rechtloses System im Staat mit Angst vor Terror und will alle illegalen Einwanderer ins Weltall ausweisen. Gleichzeitig versucht der skrupellose Industrielle Joshua Joyce (Stanley Tucci) aus dem wandelbaren Metall Transformium eine Armee aus Robotern herzustellen.

Mittenrein gerät der altmodische Frickler Cade Yeager (Mark Wahlberg), der Dinge namens „Discman" repariert, von denen seine Tochter Tessa Yeager (Nicola Peltz) noch nie gehört hat. Cade muss auch in der nahen Zukunft wieder mal die Welt retten, diesmal vor einer Übernahme durch den bösen Ober-Decepticon Megatron. Auch wenn Mini-Menschen und -Handlung nur unnötigen Ballast bei all dem Geballer darstellen, für den Humor ist auch noch Tessas Freund Shane Dyson (Jack Reynor) dabei. So entspinnen sich Vater-Schwiegersohn-Gespräche zum falschesten Zeitpunkt. Der neurotische Schwiegerpapa kommt einem da ebenso bekannt vor wie Alien-Kommentare zum Egozentrismus der Menschen. Dann eine Verfolgungsjagd mit bulligen Flugmaschinen in Hochhausschluchten? Wie Star Wars! Terminator-Effekte und metallische Bluthunde der Aliens? Wie einfallsreich! Die ganze Aktion ist fast so peinlich, wie von Außerirdischen entführt zu werden. Und das passiert später auch noch.

Wenn der Wert der bisherigen drei „Transformers"-Filme dem von kurzlebigem Plastikspielzeug entsprach und die Zielgruppe auch die gleiche war, dieser überlange „Untergang" macht es noch schlimmer. Denn der fragwürdige Versuch, mit dem Publikum zu altern, macht das Konstrukt für die kleinen Spielzeug-Jungs ungeeignet. Und ob Michael Bay-Fans, die wesentlich Härteres gewöhnt sind, diesen Kinderkram annehmen werden, muss abgewartet werden. Typische Bay-Kennzeichen wie überbordende Zerstörungsorgien machen hier am Beispiel Hong Kong wesentlich weniger Eindruck als etwa zuletzt die Abrissaktionen bei „Godzilla". Die Nebenattraktion der fleischgewordenen Barbie Tessa in extrem kurzen Shorts - vormals Megan Fox und Rosie Huntington-Whiteley - bleibt im Handeln typisch amerikanisch züchtig und zweitrangig. Nur ab und zu darf sie auch mal schießen, ansonsten schreien und kreischen. Dazu passen Macho-Sprüche wie „Mein Gesicht ist mein Suchbefehl". Doch auch diese Relikte aus Zeiten von „Die Hard" wirken überkommen wie die Transformer-Saurier, die der Film im Finale noch rauskramt. Es ist zu hoffen, dass dies wirklich der Untergang einer Ära lauter Plastikfilme sein wird.

14.7.14

Hugo Koblet – Pédaleur de charme

Schweiz 2010 Regie: Daniel Von Aarburg mit Manuel Löwensberg, Sarah Bühlmann, Max Rudlinger 98 Min. OmU

„James Dean des Schweizer Radsports" wird Hugo Koblet genannt - nicht nur wegen seiner charismatischen Wirkung, auch das tragische Ende im Auto am Baum ruft den Vergleich hervor. Regisseur Daniel Von Aarburg erzählt in seiner eleganten Dokufiktion in faszinierenden historischen Bildern von einem Ausnahmesportler und einem gebrochen Menschen.

Die Radsport-Legende Hugo Koblet (1925-1964) gewann 1950 als erster Ausländer den Giro d'Italia. Der Bäckersohn aus Zürich wird schlagartig berühmt. Dabei begeistert die Leichtigkeit seiner Erfolge ebenso wie die Eleganz seines Aussehens. Bilder mit dem Kamm, der im Trikot mitfuhr, sind typisch für ihn. Im nächsten Jahr gewinnt er auch die Tour de France. Nebenbei und zwischendurch hat haufenweise Groupies, vernascht nach schweren Rennen Vanille-Eis und die Kellnerin, statt sich massieren zu lassen. Stilprägend auch seine Heirat mit dem Mannequin Sonja Bühl, die nach vielen anderen schönen Frauen kam.

So ist die Geschichte von Hugo Koblet auch eine von Aufstieg und Fall, eine Ikarus-Geschichte. Denn nach einem frühen Ende der Karriere wollte er als Tankstellenbesitzer immer noch schillern und Größeres. Als auch seine Ehe scheitert, verunglückt er aus bis heute ungeklärten Gründen tödlich mit seinem Sportwagen.

Der tragische Held in dieser Radsport-Geschichte ist zwar nicht Lance Armstrong (wie in dem erwarteten Film von Stephan Frears). Aber nicht nur für die Schweizer ist auch Koblet eine Legende. Die Siege des Züricher Ausnahme-Radrennfahrers haben für Schweizer immer noch den gleichen Rang wie das „Wunder von Bern" für die Deutschen.

Regisseur und Autor Daniel Von Aarburg gelingt zum „Pédaleur de charme" ein sehr charmanter und reizvoller Film: Seine Dokufiktion „Hugo Koblet" nutzt tolles Archivmaterial, das die Rennfahrer klassisch heroisiert. Homogen mit den Originalaufnahmen wurden die Spielszenen im Stil von Filmen der 50er Jahre inszeniert. Fiktionalisiert wurden vor allem Schlüsselszenen rund um dunkle Punkte in Koblets Biographie, seinem Verhältnis zu den Frauen, insbesondere auch zu seiner Mutter, den Dopinggerüchten und schließlich dem immer noch mysteriösen Tod. So entsteht ein zwiespältiger und damit interessanter Charakter auf der Leinwand.

Wenn alte und altkluge Biedermänner posthum Rechnungen mit dem zu schillernden Sieger begleichen, ist dies auch ein Porträt Schweizer Mentalitäten. Nur Koblets persönlicher Wasserträger und Sechstage-Partner Armin von Büren steht in Interviews und Spielszenen zum Freund. Er und auch die bekannte Filmschauspielerin Waltraut Haas („Es liegt was in der Luft" 1950, „Du bist die Rose vom Wörthersee" 1952), die wie viele auch ein Verhältnis mit dem Charmeur hatte. Das gelungene Zusammenspiel all dieser Facetten einer vielschichtigen Persönlichkeit macht „Hugo Koblet" jenseits aller Genre-Grenzen und auch über die Faszination eines besonderen Sportfilms hinaus zur sehenswerten Geschichte.

Wie der Wind sich hebt

Japan 2013 (Kaze tachinu / The wind rises) Regie: Hayao Miyazaki 126 Min.

„Wie der Wind sich hebt" erzählt vom Leben und den Träumen des Flugzeug-Ingenieures Jiro Horikoshi: Der kurzsichtige Japaner träumt vom Fliegen und trifft in seinen fantastischen nächtlichen Visionen immer wieder den italienischen Ingenieur Caproni. Dieser rät ihm denn auch, nicht selber zu fliegen, sondern Flugzeuge zu entwerfen. So beginnt Jiro in den Zwanziger Jahren mit seiner Karriere bei einem großen japanischen Ingenieursbüro und begeistert schnell Chefs wie Mitarbeiter mit revolutionären Ideen und innovativen Designs. Von Reisen vor allem zur legendären Junkers-Fabrik nach Deutschland bringt er in den Dreißigern Einsichten mit, die Japans Luftfahrt vorantreiben. Er ist ein Columbus des Flugzeugbaus mit seinem Rechenschieber, den er 1923 beim verheerenden Erdbeben von Kanto auch als Schiene für ein gebrochenes Bein nutzt. Dabei lernt er zufällig auch seine Liebe Nahoko kennen. Ein große, tragische Liebe, denn die meist ferne Geliebte leidet an Tuberkulose.

Hayao Miyazaki ist bereits zu Lebzeiten eine Legende: 1985 gründete er das japanische Zeichentrickstudio Ghibli, das eine Marke für hochwertige und sehenswerte Animation werden sollte. Miyazaki selbst erhielt viele Auszeichnungen für seine magischen aber auch für Frieden und eine heile Umwelt kämpfenden Filme: Unter anderem einen Oscar und den Goldenen Bären für „Chihiros Reise ins Zauberland" sowie den Goldenen Löwen für „Das wandelnde Schloss". Wie großartig und tief menschlich seine Filme sind, zeigte die Pressevorführung zu „Ponyo" bei den Filmfestspielen von Venedig: Rund Mitternacht rührte der anscheinend nur süße Kleinkinderfilm die hartgesottensten und meist zynischen Kritiker. „Wie der Wind sich hebt" soll nun der letzte Film des 1941 in Tokio geborenen Meisterregisseurs sein. Es ist auf jeden Fall sein „erwachsenster". Und war der erfolgreichste Film 2013 in Japan.

Die an Persönlichkeit ebenso wie an historischen Details reiche Zeichentrick-Geschichte spielt in einer schon verlorenen Vorkriegszeit, denn Japan hat bereits die Mandschurei überfallen. Dass Jiros in euphorischen Höhenflügen gefeierte Entwicklungen nur dem Militär dienen, wird in einem Film von Hayao Miyazaki selbstverständlich pazifistisch gebrochen. Nur ein Freund Jiros vertritt die naive Ansicht, man wolle allein die besten Flugzeuge bauen, nicht Krieg führen.

Miyazaki melancholische Lebensgeschichte eines anderen großen Träumers platzt fast voller Leidenschaft für das Fliegen, die schon früher immer wieder in fantastischen Film-Objekten und -Wesen erschien („Das Schloss im Himmel"). Vor allem in den verrückten Flugzeugen von Jiros Träumen um den italienischen Flugpionier Caproni blitzen immer wieder Andeutungen von magisch belebten Wesen auf, welche die früheren, „unrealistischeren" Filme bevölkerten. Und auch der deutsche Fremde in einer Zauberberg-Sequenz (mit herrlichem „Das gibt's nur einmal" in Original-Deutsch mit japanischem Akzent) könnte einer dieser Zauberer in Menschengestalt sein, so wie der Vorgesetzte Kurokawa ein kleiner, immer grimmig blickender Gnom.

So ist „Wie der Wind sich hebt" sehr reif in der tragischen, vom großen und großartigen Score unterstützten Liebesgeschichte, dabei gleichzeitig immer wieder kindlich verspielt. Wobei die hohe Kunst Miyazakis auch hier auf allen Ebenen zu genießen ist. Wenn „Wie der Wind sich hebt" tatsächlich als letzter Film von Miyazaki eine Art Vermächtnis ist, lädt er zum Wiedersehen und neu Verstehen des ganzen Werkes einer der fantastischsten Zeichentrick-Künstler unserer Zeit ein.

9.7.14

Moebius, die Lust, das Messer (DVD)

Regie: Kim Ki-duk

MFA

Psycho-Schocker

Süd-Korea hat seit dem Altmeister Kwon-Taek Im („Sibaji - Die Leihmutter") mit „Old Boy" oder „Das Hausmädchen" immer wieder auf extremste Weise Familienleben seziert. Nun setzt Kim Ki-duk, einer der besten Regisseure unserer Zeit, einen unfassbaren Höhepunkt: Mit nur wenigen Schnitten und ganz ohne gesprochenes Wort zeigt er ein wahnsinniges Drama aus Eifersucht und Rache. Wobei die Betonung auf Schnitte liegt, denn eine betrogene Ehefrau rächt sich, nachdem der erste Versuch beim Mann scheiterte, mit der Kastration des Sohnes. Der verzweifelte Vater probiert, es mit einer Penis-Transplantation gut zu machen. Dabei scheint die Operation nicht gelungen zu sein, denn der Junge bekommt bei Angeboten der Geliebten des Mannes keine Erektion. Also entdecken Vater und Sohn den Schmerz als Stimulanz. Womit nur die ersten Minuten der wahnsinnigen Handlung beschrieben sind.

Typisch koreanisch wird hier Ödipus zu neuen Höhepunkten getrieben. Die Koreaner entwickeln hier eine ganz besondere Form des Wahnsinns, bei der selbst Lady Macbeth Gänsehaut bekommen hätte. Der Moebius des Titels verweist hier nicht auf den Comic-Zeichner, sondern auf die (schon in Lynchs „Lost Highway" bebilderte) Moebius-Schleife, ein unendlicher Kreislauf von Kastrationsverletzungen, Lust und Frustration. Dabei geschieht im Minuten-Rhythmus Unvorstellbares, das gleichzeitig aber auch komisch wirkt. Und auch die Religion spielt wieder (wie in „Frühling, Sommer, Herbst, Winter... und Frühling") eine wichtige Rolle, als Ausweg und Schnittpunkt der Moebius-Schleife in Form eines Mannes, der vor einem Buddha-Kopf kniet. Dass die Kommunikation der Familie nicht funktioniert, braucht in einem Film ohne Dialog nicht noch mal erwähnt zu werden. Ein enorm konzentrierter, dichter Film.

8.7.14

Verführt und verlassen

USA 2013 (Seduced and abandoned) Regie: James Toback 98 Min. FSK: ab 12

Schon von dem Remake von Bernardo Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris" gehört? Der Neuauflage vom sexuell provokanten Klassiker 1972 mit Marlon Brando? Nein? Liegt vielleicht daran, dass die bescheuerte Idee der Vorwand für Regisseur James Toback und Star Alec Baldwin war, in Cannes den Wahnsinn des Filmgeschäfts vorzuführen. Sie laufen in Cannes auf, das erste Mal für Baldwin, und versuchen in den üblichen Gesprächen mit Produzenten und Hintermännern das nötige Geld aufzutreiben. Was heutzutage, wenn man nicht circa zehntausend Explosionen oder fünf Actionstars im Rentenalter hat, extrem schwierig geworden ist. Wie selbst die größten Regisseure immer wieder beklagen: Scorsese, Bertolucci, Coppola (der Papa), Polanski früher und heute. Das Ergebnis ist eine spezielle Filmgeschichte von Alec Baldwin mit vielen Ausschnitten und eine tolle, allgemeine Filmgeschichte mit haufenweisen Prominenten und faszinierenden Filmemachern. Dabei arbeitet Toback auf fesselnde Weise mit Splitscreens, die immer wieder die Filmbeispiele zu dem Erzählten liefern.

Die Kommentare von Regisseuren, Produzenten, Kritikern und Festivalchef Thierry Fremaux sind sehr ernüchternd: Ein Produzent sagt Baldwin ins Gesicht, er brauche fünf Frauen um sich für einen erfolgreichen Film. Ein anderer schlägt vor, ein U-Boot wie in Baldwins „Roter Oktober" wäre hilfreich für das „Tango"-Remake". Oder die Mitarbeit von Ryan Goslin, der das Budget von 3 auf 150 Mio. Dollar hochschrauben würde.

Das Ergebnis ist voller Perlen und Einblicke von Insidern. Dazu Cannes immer wieder Cannes, damals und heute, mit Rotem Teppich, aber vor allem das andere Cannes, bei dem die Frage gestellt wird: Wo kommt das Geld her? Der äußerst sehenswerte Film beantwortet vor allem die Frage, wo all die schlechten Filme her kommen.

Die Karte meiner Träume

Frankreich, Kanada 2013 (T.S. Spivet / L' extravagant voyage du jeune et prodigieux T.S. Spivet) Regie: Jean-Pierre Jeunet mit Kyle Catlett, Helena Bonham Carter, Judy Davis, Callum Keith Rennie 105 Min. FSK: ab 0

Muss man mehr sagen? Jean-Pierre Jeunet hat „Delicatessen" (1990), „Die Stadt der verlorenen Kinder" (1994), „Alien - Die Wiedergeburt" (1997), „Die fabelhafte Welt der Amélie" (2001), „Mathilde - Eine große Liebe" (2004) und zuletzt „Micmacs - Uns gehört Paris!" (2009) gemacht. Dabei bis auf „Alien" sowohl Regie als auch Drehbuch verantwortet. Nun begibt sich der Franzose in die USA. Ist die Reise eines verlorenen Kindes ein „Amélie in Amerika"? Nicht ganz...

Titelheld T.S. Spivet (Kyle Catlett) ist ein ängstlicher Zehnjähriger, der mit seiner Familie auf einer Ranch im sehr ländlichen Montana lebt. Mit einem 100 Jahre zu spät geborenen Cowboy als Vater. Die hoch intelligente Mutter Dr. Clair (Helena Bonham Carter als Ersatz für Audrey Tautou) ist Spezialistin in der Erforschung von Crickets und andererseits unfähig, einen Toaster zu bedienen, wie die Galerie angeschmorter und kurzgeschlossener Apparate in der Küche beweist. Da T.S. viel von ihr geerbt hat, überrascht es ihn nicht, dass er mit einem Wissenschaftspreis des angesehenen Smithsonian Instituts ausgezeichnet wurde. Denn bisher konnte noch niemand in der Menschheitsgeschichte ein Perpetuum Mobile entwickeln. Der Knirps machte es. Ganz allein.

Und so macht er sich auch alleine auf, den Preis in Washington DC, auf der anderen Seite des Landes, in Empfang zu nehmen. Der eigentlich ängstliche Junge bricht mit einem viel zu schweren Koffer auf. Genial, wie er den Transportzug mit einem aufgemalten Haltesignal zum außerplanmäßigen Stopp bringt und entert. Sehr Jeunet und nett doppelt gemoppelt, dass er im Stile der Wanderarbeiter mit einem Zug den Kontinent bereist - auf dem zur Sicherheit noch so ein modernes Symbol der Eroberung von unbekannten Weiten steht, ein Wohnmobil.

Die erwarteten Aufnahmen von weiten Landschaften, einem verirrten Bison und vielen anderen „Americana" lassen vermuten, dass auch in Jeunet ein zu spät geborener Cowboy steckt. Aber er zeigt auch eine Landschaft aus Zahnrädern, ein Mädchen, das auf einer Schaukel Kopf steht. Auf jeden Fall steckt „Die Karte meiner Träume" voller verrückter Ideen und ist sehr raffiniert inszeniert. Bis T.S. und seine Geschichte beim Eigentlichen ankommen, verharrt die Komödie in geistreicher, origineller Beobachtung, angereichert mit netten Einblicken in die Gehirnwindungen und Animationen der Gedankengänge T.S.'s. Der Film hat ein anderes, gemächlicheres Tempo als in „Amelie". Ansonsten bleibt vom Jeunet-Stil der seit „Delicatessen" bekannte Schauspieler Dominique Pinon, hier als ein alter Hobo und Geschichtenerzähler.

Das ähnelt Wes Andersons Kinderabenteuer „Moonlight Kingdom", ist aber dünner, monothematischer. Denn die Hauptsache im Gepäck des Jungen ist die vermeintliche Schuld am Tod des kleinen Bruders, der sich - auch typisch amerikanisch - mit dem eigenen Gewehr erschossen hat. Das kann die sehr originelle aber auch ziemlich separate Familie nicht auffangen und es bedarf einer großen Erfindung und Odyssee, bis sie wieder mit ihren sympathischen Eigenarten zusammenfinden. Was schon alles in den witzigen Bildideen steckt, wenn es die glückliche Familie nur als Pappaufsteller im Wohnwagen-Ausstellungsmodel gibt und das perfekte Frühstück aus Plastik ist. Dass die Geschichte „eine der besten Familien der Welt" nicht der beste Jeunet ist, darüber kommt man dank reichen, unkonventionellen Persönlichkeiten und großartigen Bildideen mit nur leichter Sentimentalität hinweg.

The Signal (2014)

USA 2014 Regie: William Eubank mit Brenton Thwaites, Olivia Cooke, Beau Knapp, Laurence Fishburne 95 Min.

Geld kauft auch beim Film keinen Erfolg - keinen künstlerischen zumindest: „The Signal" ist eine Thriller- und Science-Fiction-Sensation mit kleinem Budget, nur einem Star und ansonsten Bestem in jeder Faser: Drei Studenten fahren durch die USA, wollen Haley Peterson (Olivia Cooke) zu ihrer neuen Wohnung bringen. Ihr Freund Nicolas Eastman (Brenton Thwaites) und sein Kumpel Jonah Breck (Beau Knapp) sind auch auf der Fahrt mit einer persönlichen Fehde gegen einen Hacker namens Nomad beschäftigt. Der hat die hochintelligenten Nerds mit einer Cyber-Attacke fast aus dem MIT geworfen. Nun verblüfft und provoziert er das Trio mit Aufnahmen aus ihrem Motel-Zimmer und von Verkehrskameras am Wegesrand. Sie lassen sich nur zu gerne zu einer Adresse locken, von der Nomad agieren soll. Doch am leeren, verfallenen Haus in verlassener Gegend finden Nic und Jonah nichts ... bis Haley draußen schreit...

Als Nicolas wieder zu Besinnung kommt, liegt er in einem altertümlichen Forschungsgebäude, umgeben von Figuren in Schutzanzügen. Dr. Wallace Damon (Laurence Fishburne) versucht mit reglosem Gesicht hinter der Glasscheibe seines Quarantäne-Anzugs vorsichtig nachforschend zu ergründen, was passierte. Dabei kann er selbst Nic zeigen und erzählen, dass wohl Außerirdische die drei zum verlassenen Haus gelockt haben. Nur zufällig kann der Junge seine Freundin besinnungslos auf einem der vielen Gänge sehen, durch die er mit einem Rollstuhl gefahren wird. Mit Jonah unterhält sich der Gefangene über die Lüftungskanäle. Aber Nic wäre nicht Nic, wenn er nicht schon die Entfernung zu den Türen abmessen und die Rhythmen der Bewacher protokollieren würde. Bald rollt er auf einen Ausgang zu, hinter ihm hängt am Abschleppseil aus Kanülen das Bett mit Haley. Doch der erste Versuch scheitert und das Entsetzen ist unfassbar, als Nicolas bemerkt, dass seine gefühllosen Beine durch futuristische Hightech-Prothesen, die nicht von dieser Welt sind, ersetzt wurden. Es werden bei der nächsten, gelingenden Flucht noch viele Überraschungen folgen.

Die häufige Handkamera bleibt nahe bei den Figuren, manchmal landet sie stilistisch beim horrend eingeschränkten Blickwinkel vom „Blair Witch Projekt". Diese Mystery mit Außerirdischen ist eher „Akte X" mit „Terminator"-Einlagen als „E.T.". Der packende Techno-Score treibt an, viele kleine Details lassen Miträtsel und -Fiebern. „The Signal" ist eine absolute Empfehlung und eine spezielle für die Freunde der ungewöhnlichen Alien-Invasion in „Monsters" oder von „Chronicle" (Regie: Josh Trank), der Geschichte von ganz gewöhnlichen Superhelden. Doch warum nicht gleich auch „Matrix" erwähnen? Nicht nur wegen Fishburne: Die Auflösung der Schlussszene zu einem erhebenden „Ave Maria" ist auf jeden Fall ganz groß.

„The Signal" hat nicht die üblichen Action- oder Komödien-Typen, die mit möglichst wenigen Charakterzügen auskommen. Nicolas, mit seinen Krücken zum Beispiel, ist auch ohne die atemberaubende Handlung eine spannende Figur. Wie er an einer Tankstelle einem kleinen Jungen aufmalt, wie man den Plüschtier-Automaten knackt, ist nicht nur witzig sondern auch eindrucksvoll. Nic erinnert sich ans Joggen und landet in seinen Träumen immer wieder an einem reißenden Fluss, der alle Verbindungen unterbrochen hat. Auch Laurence Fishburne hat einen faszinierend nüchternen Auftritt als Untersucher Damon, der mehr Mitgefühl zu einem Goldfisch als zu seinen Patienten entwickelt.


7.7.14

Rico, Oskar und die Tieferschatten

BRD 2014 Regie: Neele Leana Vollmar mit Anton Petzold, Juri Winkler, Karoline Herfurth, Ronald Zehrfeld 95 Min. FSK: ab 0

Rico (Anton Petzold) ist ein selbstbewusster „tiefbegabter" Junge, der mit seiner schön schnoddrigen Mutter Tanja (Karoline Herfurth) in einer typischen Berliner Mietwohnung mit Hinterhaus lebt. Schon die klasse Wortschöpfung „tiefbegabt" (nach den Rico-Büchern des Kinderbuchautoren Andreas Steinhöfel) lohnt diesen tollen Kinderfilm. Genauso spaßig zeigen sich Handlung, Schauspiel und Inszenierung: Der zehnjährige Rico, dessen Kopf Bingo spielt, wenn zu viel reinkommt, trifft auf einer seiner langsamen und vorsichtigen Exkursionen vor der Haustür auf den hochbegabten Oskar (Juri Winkler). Der läuft immer mit Helm und ganz viel Vorsicht - andere nennen es Angst - durch die Gegend. Die gegensätzlichen Jungs sind groß/klein, langsam/Schnelldenker, neugierig/ängstlich, ergänzen sich also vortrefflich und werden Freunde. Doch schon bei der ersten Verabredung taucht Oskar nicht auf, weil er von dem berüchtigten Schnäppchen-Entführer Mister 2000, der immer nur 2000 € will, gekidnappt wurde. Jetzt zahlt sich die detektivische Sammelleidenschaft Ricos aus. Das mit dem Kombinieren klappt zwar gar nicht, aber irgendwie kommt er dem Gauner doch auf die Spur.

Dabei muss er sich auch noch um einen möglichen neuen Freund für die Mutter kümmern. Ronald Zehrfeld spielt den frisch zugezogenen Nachbarn in diesem Reigen sensationell gut besetzter Erwachsener: David Kross, Milan Peschel, Ursela Monn, Axel Prahl, Anke Engelke (als Zicke an der Eisbude) und Katharina Thalbach wirken alle bei dem hervorragend gelungenen Spaß - mit etwas echter Spannung - für groß und klein mit. Regisseurin Neele Leana Vollmar, zeigt nach dem eher unglücklichen „Maria, ihm schmeckt's nicht!" was sie eigentlich kann. Sehr schön, wie die Verwirrung Ricos aus dem Kopf ins Bild gebracht wird. Wenn der eine TV-Kommissar Kommissar bleibt und der andere Kindesentführer wird, klingt sogar „Das Versprechen" Dürrenmatts mit an. Also Exzellenz bei der ganze Palette von Themen, angefangen vom Drehbuch bis zur Bildgestaltung mit einigen Comic-Elementen. Ein herausragender Kinderfilm, der bald fortgesetzt wird!

Die große Versuchung (2013)

Kanada 2013 (La Grande Seduction) Regie: Don McKellar mit Brendan Gleeson, Gordon Pinsent, Mark Critch, Taylor Kitsch 113 Min. FSK: ab 0

2003 zeigte Jean-François Pouliot unter dem Titel „Die große Verführung" (La Grande Seduction) wie eine wackere Schar von kanadischen Inselbewohnern sich mit sympathisch halblegalen Mitteln dagegen wehrt, abgeschrieben zu werden. Kauziges Menscheln bis der Arzt kommt, war das damals. Das Remake wirkt wie ein Placebo - nur unzureichend. Trotz des rumpeligen Auftritts von Brendan Gleeson („Harry Potter", „Gangs of New York").

In besseren Zeiten, als das Hafenörtchen noch alle Männer in Arbeit und viele Fische im Netz sah, entlud sich das gute Leben nächtlich schon mal im kollektiven Orgasmus. Nun leidet das Selbstwertgefühl der Männer, denn fast alle leben komplett von Sozialhilfe. Die letzte Hoffnung ist eine Fabrik, die sich auf der Insel niederlassen will. Aber nur wenn es dort auch einen Arzt gibt. Den fischt der Ex-Bürgermeister als Zollbeamter am Flughafen heraus: Der Schönheitschirurg Dr. Paul Lewis (Taylor Kitsch) reitet sich mit einem Tütchen Koks rein und muss nun einen Monat im Hafen der Trübsal verbringen.

Unter der Anführung von Murray French (Brendan Gleeson) wird das Nest aufgemöbelt: Hinterwäldler, die meinten Cricket sei ein Sport für Heuschrecken, bereiten sich mit liebenswertem Aufwand auf ein Cricket-Spiel vor - weil der Doktor Cricket-Fan ist. Keiner kapiert die Regeln, die Platzmarkierungen werden vom Winde verweht. Man hilft auch der untalentierten Angelleidenschaft des Gastes nach - mit einem frisch gefangenen Fisch, der noch gefroren ist.

Wenn auch das Thema Arbeitslosigkeit durch Globalisierung noch immer aktuell ist, der Film wird beim zweiten Mal nicht komischer. Eher lahm führt er die kauzigen Typen vor, bis zur Ankunft des Arztes dauert es 45 Minuten. Der Charme blätternder Farbe und zerfallender Hauser hält sich in Grenzen. Nur ein großartiger Schauspieler unter vielen Unbekannten kann auch keine Begeisterung hervorrufen. Dass sich der Schnösel Paul fast von alleine zum besseren Menschen wandelt, während er als Meister der Lüge Schönheitsoperation von allen belogen wird, geht als schöne Idee im Rest unter. Das der tragische Bankbeamte Henry letztendlich und wie immer befürchtet durch einen Geldautomat ersetzt wird, hat noch was von dem großen Gedanken des Originals „Die große Verführung", aber irgendwie funktioniert das in „Die große Versuchung" nicht mehr. Vor allem der Spaß ist mit vielen anderen aus dem Ort geflohen...

Mistaken for Strangers

USA 2013 Regie: Tom Berninger 75 Min. FSK: ab 12

Matt Berninger, Leadsänger der sehr erfolgreichen Indie-Band The National, nimmt freundlicherweise seinen kleinen Versager-Bruder Tom mit auf die High Violet-Tour, gibt ihm einen Job als Rowdy. Dass Tom sich in den nicht wahnsinnig intelligenten Kopf gesetzt hat, das Ganze als Backstage-Doku aufzunehmen, weiß niemand und findet auch keiner gut - wie ihm immer wieder gesagt wird. Der Hard Rock-Fan säuft dauernd, vergisst öfters was und verlegt die Gästeliste, weswegen Werner Herzog und der Cast von „Lost" (sic!) draußen warten müssen. Bei einem Wahlkampfauftritt für Obama irritiert er dessen Sicherheitsleute. Man muss sich um Tom, der immerhin Regisseur, Autor, Kameramann und Cutter dieser Doku ist, wie um ein kleines Kind kümmern. Er will getröstet werden, wenn ihm wieder jemand seine Unfähigkeit vorwirft. Tom wird zwangsläufig entlassen und findet mal ein passendes Lied der Band für seinen Frust - was dem Zuschauer ein „Endlich!" entlockt. Doch die familiäre Freundlichkeit findet kein Ende: Tom darf mit Unterstützung von Matts Frau Carin Besser die Doku zu Ende schneiden.

Der Star und der Idiot. Ganz selten ergibt sich dieser Gegensatz: Der sehr erfolgreiche, intelligente und intellektuelle Bruder Matt arbeitet ernsthaft, gut und professionell. Tom, der noch bei den Eltern wohnt, spielt im Pool des Hotels in Los Angeles. Toms sehr seltsame Dokumentation und Selbst-Demontage „Mistaken for Strangers" geht allerdings nicht so weit, dass hier eine Bruder-Beziehung wirklich analysiert wird. Sie bietet nur den Reiz, jemandem, der keine Ahnung vom Dokudreh hat, beim Doku-Drehen zusehen. Da es ja eine Menge Mokumentaries gibt, also unechte, inszenierte Dokumentationen, denkt man auch hier: Ok, das soll ein Spaß sein, so naiv und unfähig kann sich doch keiner anstellen. Tom kann es! Das beginnt schon in der ersten Szene mit Matts Ärger über die Planlosigkeit seines Bruders. Und auch im weiteren Film sind keine vernünftigen Fragen zu hören. Tom sucht vergebens Drogengebrauch zu entdecken, will im Stile von Sex and Drugs usw. Party machen. Ziemlich respekt- und rücksichtslos - nur noch peinlich. So ist „Mistaken for Strangers" auch als Hintergrund-Dokumentation ziemlich uninteressant, denn die richtig gute Musik von „The National" ist leider nur in Fragmenten zu hören.

2.7.14

Jack und das Kuckucksuhrherz

Frankreich, Belgien 2013 (Jack et la mécanique du cœur) Regie: Mathias Malzieu, Stéphane Berla 93 Min. FSK: ab 6

Eine Operation am gefrorenen Herzen kurz nach seiner Geburt macht aus Jack den Jungen mit dem Kuckucksuhrherz. Madeleine, eine skurrile Mischung aus Diva und Hexe, wird seine neue Mutter. Hinter dem harten, porzellanartigen Gesicht und unter der Turmfrisur verbirgt sich eine liebevolle und empfindliche Seele. Das Liebesverbot, das sie für Jack ausspricht, damit sein Kuckucksuhrherz nicht durchdreht, ist weise und gründet auf eigene Erfahrungen. Doch als Jack eine schöne Leierorgel-Spielerin trifft, läuft seine Kuckucksuhr gleich heiß, während die Welt um sie herum fast still steht und alles schwebt.

Kreative Triebfeder hinter dem wundervollen Animations-Film „Jack und das Kuckucksuhrherz" ist Ko-Regisseur Mathias Malzieu, der für den Roman „Die Mechanik des Herzens", das Drehbuch sowie mit seiner Band Dionysos für die Musikeinlagen verantwortlich war. Die kongeniale Umsetzung gelang rasant und fantastisch, hat dabei antiquierten Charme. Doch, Computer sei dank, bewegen sich nun die Figuren fließend und mit viel Ausdruck. Vor allem aber zeigt sich die Kamera immer wieder völlig losgelöst.

Das Schulkleid der unbekannten Fremden veranlasst ihn erst, in die Hölle einer Schule zu gehen, eine Hölle des Mobbings, die an Jack aus „Nightmare before Christmas" erinnert und weitere geniale Liedchen hervorruft. Danach entführt uns die Geschichte in eine noch fantastischere Zirkuswelt in Andalusien, in der Jack als Don Quixote der Liebe seine Traumfrau wiederfindet und einen Job als Erschrecker in der Geisterbahn annimmt. Doch kann dieser herzengute Kerl überhaupt erschrecken. Böse berichtet nur ein finsterer Gegenspieler, der Jack bis nach Spanien verfolgt...

„Jack und das Kuckucksuhrherz" ist eine romantische Liebeserklärung an alle Freaks und Außenseiter - im Kino und im anderen Leben. Ein Rock-Musical mit etwas Steam-Punk zur im 19. Jahrhundert angesiedelten Handlung und Anklängen an die Songs von Morrissey. Aber auch mal poppig und spanisch, dann grandios kitschig im Liebestraum mit zahlreichen kleinen Feen, die an Baz Luhrmans Tinkerbell aus „Moulin Rouge" erinnern. Witzig und rhythmisch in den Liedchen, fantastisch unkonventionell in der rührenden Geschichte und vor allem sensationell in der Zeichnung: Alle Figuren zerplatzen fast vor Charakter, so wie die Bilder bis in die hintersten Ecken mit witzigen Details angefüllt sind. Ein ganz großer Film, den sich allerdings auch Kleine mit Begeisterung ansehen werden.

2 automnes 3 hivers

Frankreich 2013 (2 Herbste 3 Winter) Regie: Sébastien Betbeder mit Vincent Macaigne, Maud Wyler, Bastien Bouillon 91 Min.

Der Top Spielfilm in dieser französischen Startwoche beginnt mit einer reizenden Liebesgeschichte, mit den Anlaufschwierigkeiten eines 33-Jährigen bei seiner Zufallsbegegnung: Arman (Vincent Macaigne) joggt zwar immer mehr, um die zu süße Amélie (Maud Wyler) im Park wieder zu sehen, aber sie joggt anscheinend nicht mehr am Wochenende. Das wirkt erst unbeholfen und linkisch, aber nach nur wenigen Minuten ist man entgegen allen Sehgewohnheiten völlig gefesselt und angenehm amüsiert. Der Geschichte der etwas verschlafen wirkenden, bärtigen Halbglatze mit Schal und lässiger Kleidung gesellen sich unterschiedliche und verschiedene Erzählperspektiven hinzu, die seines Freundes und Amélies. In den Kapiteln von „2 Herbste 3 Winter" findet sich unglaubliche Fülle von Eindrücken, Erlebnissen, Gedanken.

Armans mit 33 Jahren schon recht melancholische Lebens-Bilanz ist sehr persönlich und hat doch viele Anknüpfungspunkte für die eigenen Erfahrungen. Dazu tragen die unprätentiösen, alltäglichen Aufnahmen von Paris mit bei. Sehr alltäglich auch Armans Einschätzungen der anderen Wartenden bei der Wahl der richtigen Supermarkt-Kasse. Für das erste Abendessen will Arman seine Wohnung aufräumen - aber nicht zu sehr. Auf der anderen Seite gibt es auch Außerkörperliche Erfahrung, eine Treffen mit seinem verstorbenen Vater, den Schlaganfall eines jungen Freundes. Da Arman und seine Freunde Filmfans sind, ist dieses Schätzchen auch voller filmische Fachbegriffe. Aber vor allem ist „2 Herbste 3 Winter" so niedlich romantisch wie lange nichts mehr, um genau zu sein, wie vielleicht seit Truffaut nicht mehr. Das ist jetzt nicht gleich eine neue „Nouvelle Vague", aber wird eine große Welle in den Herzen der Cinasten hervorrufen.

Wüstentänzer

Großbritannien 2014 (Desert Dancer) Regie: Richard Raymond mit Reece Ritchie, Freida Pinto, Tom Cullen 98 Min.

Der iranische Junge Afshin tanzt in der Schulklasse „Dirty Dancing" nach, was ihm eine wund geschlagene Hand einbringt und die Warnung der Mutter vor den Sittenwächtern an der Straßenecke. Doch Afshins Schulleiter lädt ihn ins Saba-Kulturzentrum ein, wo Kinder und Jugendliche in Freiheit Rock hören, Jungs und Mädchen zusammen tanzen und Theater spielen. Auch an der Uni findet Afshin Ghaffarian (Reece Ritchie) schnell eine Untergrundgruppe, die heimlich tanzt. Stark ist sein Staunen, als er zum ersten Mal dank Proxy-Server auf Youtube frei Tänze sehen kann. Nurejew, den Moonwalk und modernen Tanz. Doch immer sind da extrem brutale Politik-Fanaten, die Menschen mit anderen Ansichten lebensgefährlich zusammenschlagen und auch ermorden. Es ist die Zeit vor den letztlich manipulierten Wahlen 2009, in der die Menschen noch Hoffnung auf Wandel hatten. Nachdem Ghaffarian von einem besonders fanatischen Sittenwächter beinahe ermordet wird, flieht er nach Frankreich.

Wir sehen die Konflikte eines heimatliebenden Exilanten, dessen Freund bleibt und weiter politisch aktiv ist. Das Drama der Liebe eines unerfahrenen Jüngelchens zu einer Drogensüchtigen und anderes Wichtige, wird sehr deutlich gezeigt: Die Sittenwächter sind die Bösen, man muss sich vor ihnen in acht nehmen. Deshalb gibt es das öffentliche und ein geheimes Leben im Iran. Das Gegeneinander von Gewalt und Kunst ist teilweise erschreckend dargestellt, allerdings auch recht allgemein. Mehr als in den Anreißern von entsprechenden Zeitungsartikeln vermittelt der Film kaum.

Der titelgebende Wüstentanz etwa, hat neben der überzeugenden Idee, vor der Unterdrückung in die Wüste zu fliehen und dort eine geheime Aufführung zu veranstalten, etwas Kunstgewerbliches. Das ist tänzerisch nicht atemberaubend wie „Pina", das ist höchstens nett und gut gemeint. Bis auf die bewegende Schluss-Szene in Paris, die tanzend alles vorher Gesehene zusammenfasst und viel spannender zeigt. Mehr als die große Kunst wollen die Macher ansonsten das - relativ - große Publikum erreichen. Was mit ein paar mitreißenden Tanzszenen, einer Geschichte von Freundschaft, Liebe und Verrat gelingen könnte.

Generell wirkt in „Wüstentänzer" aufgesetzt und irritierend, dass die Schauspieler im Original Englisch sprechen und in den Hauptrollen keine Iraner zu sehen sind. Auch wenn der Film auf dem Leben des Tänzers Afshin Ghaffarian basiert, wirkt vieles nicht lebendig. Da gibt es viele bessere Filme aus dem Iran selbst und über den Iran, von Exilanten realisiert. Erschütternd beispielsweise Bahman Ghobadis "No one knows about Persian Cats", in dem Jugendliche für ein paar Feiern mit dem Tod bezahlen.