3.6.14

Boyhood

USA 2014 Regie: Richard Linklater mit Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Ethan Hawke, Lorelei Linklater 164 Min.

Der US-amerikanische, immer innovative Regisseur Richard Linklater („Before Midnight") begleitete von 2002 bis 2013 den anfangs sechsjährigen Mason (Ellar Coltrane) an 39 über die zwölf Jahre verteilten Drehtagen bis zum Eintritt ins College. Linklater will das echte Leben einfangen, indem er seinen Hauptdarsteller eine zwar fiktive, aber im wahrsten Wortsinn ungeschminkte Biografie zeigt. Mason, der Sohn eines getrennten Paares (Patricia Arquette, Ethan Hawke) erlebt darin die verschiedenen Männer der alleinerziehende Mutter Olivia, eine konstant egozentrische Schwester, die erste Liebe und schließlich die große Sinnfrage. Verbunden mit dem Reiz, bekannten Gesichtern beim Altern zuzusehen, ist das Experiment, dass Truffaut ähnlich mit seinen Antoine Doinel-Filmen gelang, hier etwas zu lang geraten.

Für Einige ist „Boyhood", der bei der Berlinale mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie und mit dem Preis für den besten Film des Wettbewerbs von der Jury der AG Kino ausgezeichnet wurde, der Film des Jahres. Er sitzt aber tatsächlich fast drei Stunden lang zwischen den Stühlen, ist weder packende Fiktion, noch durch unverstellte Direktheit einnehmende Dokumentation. So ist die ersten Jahre Masons Schwester Samantha (Linklaters Tochter Lorelei) lauter, witziger als der stille Junge. Die Mutter sucht sich weiterhin falsche Männer aus, gerät an einen alkoholsüchtigen Choleriker, vor dem sie nach einigen Jahren Ehe schließlich fliehen muss.

Trotzdem bleiben die Kinder im Fokus der Geschichte - die Motive der Eltern bei der Scheidung laufen nur am Rande mit. Dazu gibt es immer wieder Songs aus der jeweiligen Epoche, die Entwicklung von der X-Box zur Wii, das Schlagestehen für Harry Potter und überhaupt eine Menge Zeitgeschichte. Bush schickt Soldaten in den Irak, die Kinder machen Wahlkampf für Obama. Und immer wieder tolle Momente wie die besonders coole Ansage vom Wochenend-Papas Hawke, jetzt doch mal die Pods und Phones aus der Hand zu legen und darüber zu reden, was einen wirklich beschäftigt. Die Antwort der Kids ist sogar noch treffender und gibt den jungen Hauptfiguren eine eigene Wahrheit. In der sieht weder die Alterung von Patricia Arquette noch der Wandel von Mustang-Fahrer zum Familien-Kutschierer beim Papa gut aus.

Es gibt viele Arten, „Boyhood" zu sehen, der auch voller Insider-Scherze steckt: Der zeitgemäße Song „Oops!...I Did It Again" trifft auch auf Linklater zu, der es schon wieder tat, nämlich eine Langzeitbeobachtung in Film verpacken. Wobei die andere langjähre Film-Ehe von Ethan Hawke unter Regisseur Linklater, die „Before ..."-Reihe, als pure Fiktion dichter und näher am Leben bleibt. Hier floss eine Menge echtes Leben über die Drehbuch-Mitarbeit der Hauptdarsteller Hawke und Julie Delpy ein. Immer wieder erwischt die Kamera den Verlauf des Lebens, so wie es der puren Dokumentation „Die Kinder von Golzow" einzigartig über Jahrzehnte bei einem DDR-Dorf gelang.

Auf der anderen Seite der Spanne zwischen Leben und Fiktion erreicht „Boyhood" längst nicht die Filmkunst von François Truffaut, der in vier Spielfilmen und einem Kurzfilm zwischen 1958 und 1978 der fiktiven Figur - und seinem Alter Ego - Antoine Doinel mit dem vom Jungen zum Schauspieler mitwachsenden Jean-Pierre Léaud Leben einhauchte. Trotzdem kann man „Boyhood" in den fast drei Stunden Laufzeit sehr nahe kommen, wundersam wächst da ein ganz cooler 15-Jähriger heran und mit zugegeben sehr langem Anlauf stehen plötzlich ein paar dieser ganz großen Fragen im Raum: „Worum geht es bei all dem?"