31.12.13

Paranormal Activity: Die Gezeichneten

USA 2013 (Paranormal Activity: The Marked Ones) Regie: Christopher Landon mit Andrew Jacobs, Gabrielle Walsh, Jorge Diaz 87 Min.

Der billige, vorgebliche Selfmade-Horror „Paranormal Activity" geht in die nächste Runde. Genauer, „Paranormal Activity: Die Gezeichneten" ist ein Latino-Spin-Off der Geister-Gespinste, die angeblich aus irgendwelchen Amateur-Aufnahmen bestehen. 2009 bannte ein Pärchen in „Paranormal Activity" unerklärliche Erscheinungen auf ihr Home-Video. Der authentisierende Bezug auf gefundenes Material, in der Literatur ein paar Jahrhunderte alt, war damals frisch. In drei Fortsetzungen wurde ihm aber jede Originalität ausgetrieben.

„Paranormal Activity 4 1/2" oder „Paranormal Activity 0,5", wie der verblüffende Zirkelschluss am Ende suggeriert, lässt Jesse (Andrew Jacobs) und Hector (Jorge Diaz), zwei Schulabsolventen in einem hispanischen Viertel von Los Angeles, den seltsamen Geräuschen aus der Wohnung ihrer älteren Nachbarin Ana nachforschen. Mit einer kleinen Helmkamera spionieren sie über den Lüftungsschacht. Die Spanner-Bilder begeistern mit einer nackten Frau und stoßen mit einem seltsamen Ritual ab. Selbst als Ana ermordet wird, wäre „PA 4 1/2" ohne paranormale Erwartungen nicht mehr als ein albernes Studenten-Filmchen.

Aber bei dieser Art Horror-Filmchen dreht sich alles um die Erwartungen. PA-Autor und nun auch Regisseur Christopher Landon hält geschickt die Schreckmomente lange zurück. Jesse wacht nach einem Albtraum mit alten Frauen, der im Konzept der Amateuraufnahmen selbstverständlich nur erzählt werden kann, mit einer Bissmarke am Arm auf. Danach knurrt ihn der eigene Hund an, ein paar Straßengangster lernen seine neuen Superkräfte kennen und dunkle Augenringe verheißen nichts Gutes. Ein elektronisches Senso-Spiel beantwortet mit seinen bunten Lichtern wie ein Medium Fragen zum Hintergrund von all diesen seltsamen Dingen. Doch man konnte sich schon denken, dass Jesse wie vor ihm der Nachbarsjunge Oscar verhext wurde.

Gespenstige Verrenkungen gehen hier lange als Spaß durch, Superhelden- und Jack Ass-Einlagen sorgen für weitere Verzögerungen, bis erst nach dreißig Minuten sparsamer Horror einsetzt. So richtig heftig wird es nur in der letzten Viertelstunde, dann aber auch so seltsam, dass sogar das Zielpublikum wie vor den Kopf gestoßen wirkt.

Abgesehen vom nervigen und dauernd unlogischen Krampf, dem „Blair Witch"-Fluch, dass immer eine subjektive Kamera alles aufnehmen muss, ist dieses scheinbare Amateur-Video (und wer hat das geschnitten?) in Details und im großen Ganzen ein Ärgernis. Der grundlegende Trick wirkt selbstverständlich immer: Die verengte Perspektive gewährt nie sichere Übersicht, immer kann aus den Winkeln - und hier gerne von oben - Erschreckendes ins Bild kommen. Ansonsten ist die Änderung von Jesses Gesichtsfarbe die hauptsächliche persönliche Entwicklung. Die Action im konfusen Achterbahn-Finale mündet auf der Gegenseite des ersten „Paranormal Activity": Jesse und seine Freunde wurden anscheinend zu „The Others", zu den Geistern, die ein Haus verseuchten. Diese Volte ist ziemlich wenig für fast 90 Minuten zurückhaltender Schreckens-Maschinerie. Erschrecken könnte man sich übrigens auch, wenn man in den Politikteil der Zeitung blickt - doch all diese vielen Filmchen mit ihrem Geisterbahn-Leerlauf sollen vielleicht gerade davon abhalten.

30.12.13

StreetDance Kids - Gemeinsam sind wir Stars

Großbritannien 2013 (AllStars) Regie: Ben Gregor mit Theo Stevenson, Akai Osei-Mansfield, Ashley Jensen, Ashley Walters 103 Min. FSK: ab 0

„StreetDance Kids - Gemeinsam sind wir Stars" erzählt mit der bekannten Formel eines Tanz-Battles von einer Gruppe Londoner Kids, die etwas in ihrer Stadt unfair finden und sich dafür einsetzen, dass es sich ändert. Ethan, der kleine, freche Dealer verkauft die gefälschte Schokolade des Vaters und wird auch sonst gerne bei Blödsinn erwischt. Als er ein Mädel auf der Schule beeindrucken will, legt sich der uncoole Angeber, der sehr komisch ist, wenn er Hiphop-Slang probiert, mit deren Breakdance-Freund an und fordert ihn zum Duell. Mit seiner Tanz-Truppe, die er gar nicht hat! Zum Glück ist da auch noch der extrem begabte Tänzer Jaden, der sich auf einen Deal mit Ethan einlässt.

Es gibt noch so eine witzige Casting-Runde mit absurden und unmöglichen Kandidaten, aber leider ohne einen einzigen Street Dancer. Dafür ein zerstrittenes Pärchen klassischer Tänzer, Ethans Jugend- und Judo-Freundin Amy sowie der obligatorische alberne Dicke mit den unpassenden Klamotten. Selbstverständlich ist auch die Underdog-Situation der nicht wirklich talentierten Kids dabei, der übliche interne Streit, der Konflikt von Jaden, dessen Eltern ihm das Tanzen verbieten und ihn auf eine Eliteschule schicken wollen. Und Ethan braucht mal das echte Interesse seines getrennt lebenden Vaters.

Während man Szenen und Dialoge bis ins Detail aus großen Filmen von „Fame" bis „Glee" erinnert, sind dabei wenigsten die beiden kurzen Hauptdarsteller Theo Stevenson (Ethan) und Akai Osei-Mansfield (Jaden) schon fast so gut wie die Großen. Zudem erweitert diese gar nicht kindische Version von „StreetDance"den Horizont solcher „moderner" Tanzfilme für Jugendliche nicht nur mit ein paar London-Impressionen. Die surreale Tagtraum-Vision, die Jaden bei einer Prüfung hat, ist feine Filmkunst mit Einflüssen von Lotte Reiniger bis zu Terry Gilliams „Brazil". Eine andere Choreografie ist als Tron-artige Spielesequenz mit Dance Moves gestaltet. Sogar ein von Fred Astaire angehauchtes Schwarz-Weiß-Stück als Hommage an Hollywoods wundervollste Tanzzeit passt in diesen Film. Den 3D-Zuschlag kann man sich hier allerdings wohl sparen.

Imagine

Frankreich, Großbritannien, Polen, Portugal 2013 Regie: Andrzej Jakimowski mit Edward Hogg, Alexandra Maria Lara, Melchior Derouet, Francis Frappat 105 Min. FSK: ab 0

Wie will ausgerechnet ein Film die Welt der Blinden vermitteln, diese so dominant optische Ausdrucksform, die noch die wichtige Arbeit der Tonkünstler sträflich verschweigt? Derek Jarman, ein genialer britischer Regisseur und Künstler „drehte" einst, als er beinahe ganz erblindet war, den erstaunlichen Hör-Film „Blue": Pures Blau auf der Leinwand und ergreifende Poesie auf der Tonspur ergänzten sich zu einem unvergleichlichen Erlebnis. Nun bringt in „Imagine" ein blinder Lehrer an einer Blindenschule in Lissabon auch den Zuschauern das Sehen mit den Ohren nahe.

Edward Hogg (Ian) kommt als freundlicher Neuzugang an eine vielsprachige Blindenschule in Lissabon. Dabei bewegt er sich so sicher im dunklen Meer der Geräusche, dass man mit den Schülern lange zweifelt, ob er wirklich blind ist. Cool mit einem verschmitzten Lächeln um die Lippen entscheidet er sich für das Zimmer neben der schweigsamen und zurückgezogenen Eva (Alexandra Maria Lara), einer der erwachsenen Bewohner des klosterähnlichen Instituts. Der erste Kontakt verläuft dann auch so ungewöhnlich wie fast alles an diesem schönen und reizvollen Film: Nachdem Ian hörte, dass seine Nachbarin immer Vögel auf dem Fenstersims füttert, ahmt er mit einem Draht Spatzen nach, die nun anscheinend auf seiner Fensterbank picken, und weckt so Evas Neugierde.

Selbst immer tastend und forschend macht Ian jeden neugierig - die Schüler genauso wie das Kollegium. Des Nachts verlässt er das abgeschlossene Gelände mit unbekanntem Ziel und immer bewegt er sich ohne Bindenstock - „Blinde brauchen keinen Stock, außer sie haben ein Problem beim Gehen!" So selbstbewusst und einfallsreich lehrt Ian die Kinder zu hören und sich dabei mit Hilfe der Echos ihrer Schritte zu orientieren. Dabei stellen ihm die Kinder in einer Struktur von tastenden Wiederholungen immer neue Fallen auf dem Weg. Immer wieder muss er sich Ungläubigen beweisen und wie Galileo Galilei seine spezielle Weltsicht verteidigen. Was ein sehr humorvoller Prozess sein kann: Die Schuhanprobe mit einer Frau gerät ganz anders, wenn sie das Modell mit dem markantesten reflektierbaren Schall finden soll. Dabei sehen die High Heels allerdings auch noch ziemlich scharf aus.

Ian hört mehr als andere sehen, sogar mehr als viele sich vorstellen können. Es ist ein sehr abgegriffenes Klischee, dass Blinde die Welt besser wahrnehmen. Aber in „Imagine" ist es ein schönes, sinnliches Erlebnis, mit Ian und Eva Lissabon zu entdecken. Dabei kommt auch mal eine Bulldogge vor ihren Augen - oder so - unter die Räder. Ebenso wie sich die Handlung nicht einem Harmonie-Brei ergibt, erfreut auch die Bildgestaltung mit überraschenden Perspektiven und Bildlösungen für Situationen, die ausgerechnet dem sehenden Zuschauer zu offensichtlich sein könnten: Raffiniert, wie Regisseur Andrzej Jakimowski („Kleine Tricks", 2007) und sein Kameramann Adam Bajerski das Rätseln der Blinden mit uns teilt, weil wir gerade eben nicht alles sehen.

So wie Ian Eva an die Hand nimmt, sie durch Gassen und über belebte Straßen zu einem kleinen Café führt, nimmt uns der Film mit. Er erzählt uns von einem großen Schiff, das in der Nähe ankert und als sich der Verursacher dieses Echos als eine Mauer - immerhin in Schiffsform - erweist, gerät diese Enttäuschung führt letztendlich zu einer weiterführenden Erkenntnis und einem ganz besonderen Liebes-Bekenntnis. Das ist Szene für Szene sehr faszinierend und auch ästhetisch reizvoll gestaltet. Dank einer geschickten Soundmischung entdecken auch wir mit Ians Erklärungen die Geräuschkulisse der portugiesischen Metropole. „Imagine" kann man sich als ein Mut und neugierig machendes Plädoyer ausmalen, sich nicht mit dem ersten Eindruck, mit der Oberfläche zufrieden zu geben, genau hinzuhören zu riechen und auch zu schauen.

Das erstaunliche Leben des Walter Mitty

USA 2013 (The Secret Life of Walter Mitty) Regie: Ben Stiller mit Ben Stiller, Shirley MacLaine, Kristen Wiig, Sean Penn 111 Min. FSK: ab 6

Wie oft haben Sie dieser Woche schon gedacht „Hätte ich doch direkt dies und jenes gesagt?" Walter Mitty (Ben Stiller) ist quasi der Steven Spielberg des „Hätte ich...": Ein grauer, ordentlicher und trister Typ, dessen Blouson ebenso aus der Zeit gefallen ist, wie die Alu-Aktentasche. Das wirklich aufregende Leben taucht immer nur in seinen Tagträumen auf, dann schleudert er auch Leuten ins Gesicht, was er eigentlich sagen will. Dann liefert er sich in seiner ausgeflippten Fantasie mit Gegnern extreme Action-Einlagen in den Straßen New Yorks. Doch in der Realität wird er während dieser extrem peinlichen Aussetzer von den meisten Menschen veralbert. Besonders von diesem zynischen Typen mit Bart (Adam Scott), der die berühmte Redaktion des US-Magazins Life auflösen und mit viel weniger Angestellten als Online-Ausgabe weiterführen soll. Dabei aber nicht weiß, was Quintessenz oder ein Silberbad sind.

Walter Mitty arbeitet beim Life-Magazin im Negativ-Archiv - kann eine Tätigkeit in Zeiten digitaler Fotografie noch veralteter sein? Sean O'Connell (Sean Penn), der berühmte, unfassbare Fotograf mit Hemingway-Stil schätzt gerade das an seinem langjährigen Kontaktmann bei der Zeitschrift. Nun findet Mitty ausgerecht das eine, das nach eigener Aussage beste Foto von Sean nicht, welches bei der letzten Ausgabe auf den Titel soll. Die Suche nach dem verschwundenen Negativ bringt den zurückgezogenen Mann, dessen Rucksack und Reisetagebuch seit Jugendtagen ungenutzt in einer Umzugskiste schlummern, erst nach Grönland, dann nach Island, Afghanistan und in den Himalaya. Hilfreich bei der detektivischen Schnitzeljagd sind ihm dabei die anderen Negative von Seans Filmrolle, die nicht mehr als ein verschwommenes Schiff oder einen Daumen zeigen.

Ähnlich wie der „Accidental Tourist" William Hurt aus dem Jahr 1986, nur nicht so weinerlich, bricht „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty" die Trennung zwischen Traum-Reisen und grauer Realität auf. Kaum zu glauben, aber früher war Walter ein ganz Wilder. Mit Irokese, den ihm der Vater selbst schnitt, und auf dem Skateboard. Doch der frühe Tod des Vaters und die Finanzierung von Mutter (Shirley MacLaine) und Schwester zwangen ihn in den Job, den er nach 16 Jahren immer noch ausübt. Heimlich himmelt er nun seine Kollegin Cheryl (Kristen Wiig) an. Als er beim Internet-Dating sein Profil ergänzen soll, wird erschreckend klar: Er war noch nirgend, hat noch nichts Besonderes gemacht. Während das virtuelle Dating jedoch überhaupt nicht klappt, lernen sich die beiden bei der Negativ-Suche ganz nebenbei kennen.

Die Kurzgeschichte „Walter Mittys Geheimleben" von James Thurber wurde bereits 1947 als „Das Doppelleben des Herrn Mitty" mit Komiker Danny Kaye als Walter Mitty verfilmt. Als weitere Referenz ließ Regisseur Ben Stiller einen riesigen Life-Titel mit dem unvergleichlichen Komödianten Peter Sellers in die Gänge hängen. Das hängt für den Darsteller Stiller die Latte ganz schön hoch, der mit einem munteren Mix aus absurden und tiefgründigen Filmen ein Großer des Genres ist.
Ihm gelingen die dezent eingestreuten Slapstick-Szenen, wenn er als anscheinender Schreibtisch-Langweiler hinter dem Rücken von Cheryl ihrem Sohn super coole Skateboard-Tricks beibringt, ebenso wie die gefühlvollen Momente. Kurz: Ben Stiller glaubt man die Auferstehung des verschütteten Abenteurers. Das ist Grundlage für den großen Spaß den sich die Inszenierung aus der übersichtlichen und nicht wahnsinnig überraschenden Geschichte macht.

Wenn Cheryl ihn in seinem letzten Tagtraum mit Gitarre und Bowies „Space Oddity" bewegt, in einen Hubschrauber mit besoffenem Piloten zu springen und später von da ins eisige Nordmeer, dann geht es unübersehbar um den Mut, ins Unbekannte aufzubrechen. Mit dem nicht nur sinnbildlichen Sprung ins kalte Wasser und einem Besuch beim Vulkan Eyjafjallajökull exakt zum Moment seines Ausbruchs. Dann wird Walter mit einem Longboard eine 15 Kilometer-Abfahrt durch Islands Vulkanlandschaft erleben, ein Hochgefühl beim Zuschauen.

19.12.13

Only Lovers Left Alive

 

BRD, Großbritannien, Frankreich, Zypern 2013 Regie: Jim Jarmusch mit Tom Hiddleston, Tilda Swinton, Mia Wasikowska, John Hurt, Anton Yelchin 123 Min. FSK: ab 12

 

Die Geschichte von Adam und Eva ... mal etwas anders: Denn Adam (Tom Hiddleston) ist ein einsamer Vampir, haust in der fast verlassenen Motortown Detroit und will nicht weiter leben. Dieser junge Mann hat den 1960 verstorbenen Eddie Cochran noch live gesehen und ist in persönlicher Begegnung zum Urteil gekommen, dass Lord Byron ein „selbstgerechtes Ekel" war. Adam fährt einen Jaguar mit selbstgebautem Elektromotor, sammelt klassische Gitarren und komponiert Musik, die anonym alle Trends umkrempelt. Anonym, weil Adam nur ganz selten das Haus verlässt, um sich aus sicherer Quelle Blutkonserven zu besorgen. Alles andere bringt ihm sein Lieferant und Groupie Ian (Anton Yelchin).

 

Eva (Tilda Swinton) genießt ihr Leben im marokkanischen Tanger. Fast wie eine Löwin trägt die Vampirfrau ihre langen blonden Haare, ansonsten ist alles weiß an ihr. Befreundet ist sie mit Christopher Marlowe (John Hurt), der im gleichen Jahr wie Shakespeare geboren wurde und sich hier um frisches Blut kümmert. (Dass Marlowe als besonders blutiger Autor bekannt ist, mag nur als einer von zahllosen kulturellen Insider-Scherzen erwähnt sein.) Als Eva von Adams Depression erfährt, reist sie - per Nachtflug mit Air Lumiere! - zu ihm und ein wunderbarer Film wird endgültig unbeschreiblich.

 

Eigentlich könnte auch Regisseur Jim Jarmusch ein Vampir sein. Es scheint Ewigkeiten her zu sein, seit er 1980 mit „Permanent Vacation" auftauchte, die trockenen, kultigen „Stranger than Paradise", „Down by Law",„Mystery Train" und „Night on Earth" nachlegte. Verändert hat sich das hagere Gesicht hinter der verdächtigen Sonnenbrille kaum. Seine Filme wurden noch eigenwilliger, der Western „Dead Man" ließ 1995 Johnny Depp meditativ zu der Musik von Neil Young einen ganzen Film über sterben. Dann gab es zu Young gleich einen der besten und dreckigsten Konzertfilme aller Zeiten: „Year Of The Horse - Neil Young & Crazy Horse Live". Die mit großen Abständen produzierten „Ghost Dog: Der Weg des Samurai" (1999), „Broken Flowers" (2005) oder „The Limits of Control" (2009) erzählten zwar von einem asiatisch angehauchten Kämpfer, von einem verpassten Leben mit Bill Murray in der trist-bunten Hauptrolle oder von einem geheimnisvollen Mordauftrag. Aber mit Jarmusch hat jemand überlebt, der vor allem sein „Ding", seinen Stil macht. Der stilvoll von Stil erzählt, von den guten Dingen und vom schlechten Leben.

 

Da braucht es keinen Oberschurken, kein Liebesdrama oder sonstigen Blödsinn, Jarmusch macht unfassbar gute Szenen und Filme. Das beginnt diesmal mit dem Drehen eines Plattentellers, das sich im Raum fortsetzt. Dann ein Hochgenuss, Eva / Tilda Swinton bei der Reisevorbereitung zu sehen, wenn sie aus Bergen alter Bücher ein paar Päckchen bündelt. Das Wiedersehen bringt atemberaubende Stillleben des Paares im wunderschönen Nackt. So wie diese Vampire als Götter unter den, von Adam als Zombies bezeichneten Menschen erscheinen, die sich tatsächlich nicht besonders positiv in den verlassenen Straßen und den Clubs der einstigen Auto-Stadt breit machen, so erscheint einem die Kunst von Jarmusch in der üblichen Kino-Flachheit. Er gestaltet kleine Gemälde, spielt humorvoll und ehrerbietig mit (Pop-) Kultur, wobei Adams „Hamlet" gelobt wird und auch Jack Black einen Ritterschlag erhält. Wie Adam ist auch der Film gleichzeitig altmodisch und im Jetzt nicht von einer bestimmten Moderne beschränkt. Der geniale Erfinder führt Teslas drahtlose Stromübertragung fort und bevorzugt Analoges, vor allem in der Musik. So hat er sich seinen eigenen, sicherlich besseren Face Time-Chat aus alten Elektroteilen zusammengebaut. Und Jarmusch legt seinen Soundtracks aus Sixties Soul und Garage Punk drüber, lässt die traumhaften Szenen mit einem ganz anderen Zeitgefühl und in einer Atmosphäre zum Verlieben vorübergleiten.

 

Jarmusch kultiger Vampir-Kick zeigt dabei erst spät Zähne: Etwas Aufregung gibt es, als Evas kleine, gemeine Schwester Ava (Mia Wasikowska) zu Besuch kommt, die Blutvorräte räubert und auch den Gitarren-Lieferanten Ian nach einer wilden Nacht leer trinkt. Die Geschichte treibt das Liebespaar zurück nach Tanger, wo sie erschöpft die Schönheit der Musik und der Lebens genießen. Und der Film es unglaublicherweise schafft, noch einmal mehr zu begeistern.

 

18.12.13

Das Mädchen und der Künstler

 

Spanien, Frankreich 2012 (El artista y la modelo) Regie: Fernando Trueba mit Jean Rochefort, Aida Folch, Claudia Cardinale, Götz Otto 105 Min. FSK: ab 0

 

Wenig Worte, dafür Blicke: Ein alter Mann schweift durch die Natur, verharrt vor einem Baum in voller Blüte. Im Dorf gilt sein Blick den Beinen der jungen Frauen unter knielangen Röcken. Dann marschieren Soldatenbeine durchs Bild. Deutsche Soldaten, die im Sommer 1943 das Dorf am Rande der Pyrenäen besetzt haben. Das wissende Lächeln einer alten Frau, als sie ein zerschrammtes und müdes Mädchen am Brunnen sieht. Wortlos verständigen sich der 80-jährige Bildhauer Marc Cros (Jean Rochefort) und seine Frau Lea (Claudia Cardinale in einer ihrer seltenen Auftritte) darauf, das Mädchen (Aida Folch) als Modell zu engagieren und sie in einer abgelegenen Atelier-Hütte wohnen zu lassen.

 

Es ist spannend anzusehen, wie erstaunt und neugierig die Unwissende in der Hütte die Akte ihrer Vorgängerinnen betrachtet. Dann kommt der Künstler und packt eine lebensgroße Plastik an den Hintern, um sie ans Fenster zu schieben. Den Blick nach draußen gewandt. Seine Anweisungen sind knapp und unpersönlich: Du kannst dich ausziehen.

 

Doch diese Konzentration durch Reduktion hält Regisseur Fernando Trueba nicht lange durch. Wenn der alte Mann dem Mädchen das „richtige Sehen" beibringen will, wird er bei der Analyse einer kleinen Rembrandt-Skizze und der Reflektion über die Kunst des Bildes fast geschwätzig. So wie auch die Film-Bilder trotz der Beschränkung auf Schwarzweiß.

 

Dabei hat die Katalanin bei ihrer Flucht aus den Lagern von Franco wohl schon einiges Grauen gesehen. Was sie zu einer Widerstandskämpferin machte, die andere Aktivisten über die Grenze schmuggelt. Er sorgt sich anscheinend nur darum, dass dabie die Brombeerbüsche wieder ihre Beine zerkratzten. Dann kommt etwas Eifersucht in die Hütte, als der junge Freiheitskämpfer Pierre auch in ihr Bett zieht. Aber dramatisch wird Trueba bis zur Schlussszene nie. Selbst mit einem deutschen Offizier und Kunsthistoriker (Götz Otto), der an Cros' Biographie schreibt, gibt es nur einen Wortwechsel über den kreativen Prozess.

 

Fernando Trueba inszeniert seine Filme immer wieder um Künstler, ob in seinem bekanntesten, dem Oscar-Gewinner von 1993 „Belle Epoque", ob zuletzt in der leidenschaftlichen Jazz-Animation „Chico & Rita" und sogar in der nicht besonders gelungenen Komödie „Two Lovers" mit Banderas und Gattin Melanie Griffith. Wenn er jetzt ein Drehbuch von Jean-Claude Carrière, einem der allerbesten seines Faches, bearbeitet, kann man viel erwarten. Und erlebt eine Enttäuschung hinsichtlich der Komplexität, mit der das Thema durchdrungen wird.

 

Die neugierigen Kinder des Dorfes, die einen Blick auf die unerhörte Erscheinung in der Hütte erhaschen wollen, haben was von dem Blick dieses Films. Eine scheue Annäherung an Körperlichkeit, der ein natürlicher Umgang irgendwie verloren gegangen ist. Mit höchster Kunstfertigkeit in einem eher künstelnden als expressiven Schwarzweiß ereignet sich eine kleine Episode mitten in Krieg, Verfolgung und Besetzung. Ein Film zum Schwelgen im Bild, was auf fast zweistündige Dauer etwas wenig ist.

 

Dass schließlich doch ein Liebesverhältnis und ein gemeinsamer Akt angedeutet werden, ist dann tatsächlich abgeschmackt und lässt den lange widerstandenen Dirty Old Man-Verdacht hinsichtlich Trueba (geb. 1955) wieder aufleben. Das Mädchen und vor allem der Künstler bleiben bis zum Knaller am Ende vorhersehbar. Dies ist halt ein ausgelutschtes Sujet in ausgewählten Bildern.

Der Medicus

 

BRD 2012 Regie: Philipp Stölzl mit Tom Payne, Stellan Skarsgård, Olivier Martinez 150 Min. FSK: ab 12

 

Wie blass und leer wäre diese Welt ohne Geheimnisse, spricht der große Arzt und Gelehrte Ibn Sina weise. Nur leider in dem ziemlich flachen deutschen, von der ARD koproduzierten Film „Der Medicus" ohne jedes Geheimnis.

 

Im dunklen Mittelalter Englands verhindert christlicher Aberglaube die Rettung von Robs Mutter, die an der „Seitenkrankheit" stirbt. Zwar ist der Bader und Quacksalber (Stellan Skarsgård) grade im Dorf, doch die Kirche droht hinter jeder Ecke mit Hexenverbrennung. So folgt der verwaiste Junge dem fahrenden Heiler, während seine Geschwister vom Priester versteigert werden. Bald stößt die Neugierde des jugendlichen Rob (Tom Payne) beim Bader an Grenzen. Der ist ein Einzelgänger ohne Vergangenheit und Entertainer mit gewissen Kenntnissen, die er aber immer nur im Rahmen des kirchlich Erlaubten anwendet. Und selbst dann verprügelt und verbrennt ihn der Mob. Als dem Meister die Erblindung durch den Grauen Star droht, kommt Rob in Verbindung mit jüdischen Ärzten, die schon im 11. Jahrhundert das Auge operieren - ohne Betäubung!

 

Ein Erlebnis, nach dem der Wissensdurst den englischen Jungen ins persische Isfahan treibt, um dort unter Ibn Sina (Ben Kingsley), „dem Arzt aller Ärzte", Medizin zu studieren. Robs Reise dauert über ein Jahr, welches der Film erstaunlich leicht überbrückt. Apropos Staunen: auch wenn Rob angeblich mehrere unbekannte Welten durchquert und ein damaliges Machtzentrum mit über 100.000 Bewohnern sieht, ins Staunen kommt er dabei wenig und das Publikum so gut wie gar nicht. Besonders fällt das bei den sehr seltenen Landschaftsaufnahmen auf, die tatsächlich wie eingeklebte Postkarten wirken und atmosphärisch leer bleiben. Mitten in der Wüste macht der junge Christ noch seine Tarnung perfekt, indem er sich selbst beschneidet. Denn die Juden werden zwar in Persien nur geduldet und diskriminiert, aber die Christen wurden längst alle verjagt.

 

Auch die Aufnahme Robs an der Schule, der Aufstieg zum Liebling von Ibn Sina, das riskante Verhältnis zum Schah und die heimliche Liebe zur verkauften jüdischen Braut Rebecca, all das verläuft erschreckend undramatisch. Man hat selten so einen vorsichtigen Film gesehen, der sich unbedingt für das Sonntagnachmittags-Programm empfehlen will. Dazu passen auch die ganz wenigen, vorsichtigen Operationsszenen, die wirklich niemanden erschrecken werden. „Der Medicus" wird selbstverständlich brav chronologisch erzählt. Selbst mit Parallelmontagen, die gerne mal Spannung bringen, hält er sich zurück. Bis auf den einen, wirklich erhellenden Moment, als er den Schnitt durch die Bauchdecke des Schah von innen zeigt, das Licht von Aufklärung und Wissenschaft aufblitzen lässt.

 

Denn thematisch wäre aus Noah Gordons Roman etwas zu holen. Gerade in einer Zeit des Rückfalls ins Religiöse ist es interessant zu sehen, wie viele Jahrhunderte der Verstand brauchte, um sich vom mörderischen und unterdrückenden (Aber-) Glauben zu lösen. Die Gegenpole zur Wissenschaft, die (mosaischen) Religionen, werden im „Medicus" von den drei Freunden vom Medizinstudium ausdifferenziert. Sehr schematisch verbünden sich gegen diese personifizierte Ring-Parabel die Hassprediger mit mörderischen Nomaden, um die stabile Herrschaft des Diktators (Schah) und damit den Schutz von freier Wissenschaft und Minderheiten anzugreifen. Siehe Ägypten, Tunesien, Jugoslawien usw. Eine, wenn man das Buch nicht kennt, halbwegs unterhaltsame Geschichte in mittelalterlichen Gewand mit ein paar interessanten Kerngedanken. Da war jedoch selbst der nicht wirklich nuancierte „Agora" - von Alejandro Amenábar mit Rachel Weisz - tiefgründiger, packender und vor allem filmisch wesentlich reizvoller.

 

Philipp Stölzl erweist sich nach „Nordwand" (2008) und „Goethe!" (2010) als zuverlässiger Ver-Filmer. Wie Sönke Wortmann ohne auffällige Handschrift, aber risikolos für große Etats einsetzbar. So wirkt „Der Medicus", der Epos sein will, trotz interessanter Themen und anständiger Ausstattung mit Personal und Kulissen jederzeit flach und banal. Er erzählt Noah Gordons Roman mit einigen Freiheiten nach und hält sich mit eigenständigen Möglichkeiten zurück. Trotz zweieinhalb Stunden langer Laufzeit wirken einige Szenen unfertig, abgebrochen oder holperig. Da wird jedes Kino nebenan Besseres bieten.

Buddy


BRD 2013 Regie: Michael Herbig mit Alexander Fehling, Michael Herbig, Mina Tander, Jann-Piet Puddu 95 Min. FSK: ab 6

Er ist wieder da: Bully, der Buddy, der Kumpel des Publikums, den man seit „Wickie" (2008) nur noch als Darsteller etwa im „Hotel Lux" sehen konnte. Vielleicht auch gut so, denn „Buddy" zeigt, wie nervtötend es sein könnte, wenn einem Michael „Bully" Herbig auf Schritt und Tritt bespaßt. Wie den Helden dieser Romantischen Komödie mit verstecktem Musical. Der überflüssige, Sprudelkasper genannte Erbe eines Getränke-Herstellers wird wegen seines Schutzengels Buddy zuerst fast wahnsinnig und dann wahnsinnig verliebt.

Lisa (Mina Tander) ist die gute Seele der Heisenberg-Klinik, einem etwas zu fröhlichen Verein gutgelaunt dementer Senioren. Und das obwohl sie seit drei Jahren alleinerziehende Witwe und nicht mehr glücklich ist. Nun will sich die Pflegerin endlich mal wieder verlieben, aber auf keinen Fall in so jemanden wie den reichen Erben Eddie (Alexander Fehling), der ihr dauernd über den Weg läuft und fällt. Der war noch nie richtig verliebt, irgendwie „taubstumpf" wie er einer seiner Bett-Bunnys mal mitteilt. Da kann nur noch ein Schutzengel helfen. Allerdings ist Buddy (Michael Herbig), den nur Eddie allein sehen kann, ausgerechnet ein Anfänger in diesen Dingen. Allein in Sachen Liebe hat Buddy schon Erfahrung, denn er fragt, ob Eddie jemals eine Frau, die er wirklich liebt, in den Schlaf gestreichelt und ihr süßes Zucken gespürt habe.

Eddie, der Erbe eines einstmals sprudelnden Getränkekonzerns, hat nun nicht nur mit dem Gefühl, wahnsinnig zu werden, sondern auch mit seiner Playboy-Vergangenheit und den in seinem Loft zurückgebliebenen Bunnys zu kämpfen. Außerdem nimmt er die Empfehlung, Frauen mögen es, wenn Mann die Hosen runterlässt, zu wortwörtlich. Dem ersten gemeinsamen Abend von Lisa und Eddie, bei dem er so gerade noch die Kurve zu sich selbst bekommt, und ihrem ersten Besuch bei ihm, den er völlig vergeigt, folgt ein schnuckeliges Werben. Das ist, wie es sich für das romantische Genre geziemt, ganz herrlicher Kitsch und auch ganz schön witzig, wenn sie im Vorgespräch mal die Bedingungen für den ersten gemeinsamen Sex klären. Dann darf man vor lauter Liebesglück auch noch mal „Singing in the Rain" in Hamburgs schön ausgeleuchteten Straßen-Pfützen zitieren.

Michael „Bully/Buddy" Herbig inszeniert sich wieder als Komiker, als Witzfigur, die nur ganz am Ende als trauriger Clown ein Tränchen zerdrücken darf. Sichtbar viel Spaß haben ihm in dieser perfekt auf ihn zugeschnittenen Rolle die Musikeinlagen gemacht: Als Guildo Horn-Verschnitt, Karel Gott oder Stevie Wonder. Mit viel Geträllere ist der „Special Angel" nah dran an seinem Schutzbefohlenen, „Close to you" wie er ihm auf Schritt und Tritt ins Ohr trompetet.

Der, den niemand anderes sehen kann, ist so etwas wie „Mein Freund Harvey", der ein „Ghost - Nachricht von Sam erhält". Mit Auftrag von oben, wie er behauptet, diese Liebe „Made in Heaven" zustande zu bringen. Falls das nicht reichen sollte, wird die Große und Wahre Liebe noch über drei Generationen durchkonjugiert, eine rührende Geschichte im Altersheim und die Schwärmereien von Lisas Sohn Sammy (Jann-Piet Puddu) assistieren der großen Romanze.

Inszeniert ist der rasant-romantische Nerv mit dem Schutzengel, mit Selbstmordversuch und Action-Einlagen. Davon ist einiges richtig Hollywood-reif, die Verfolgungsjagd entlang eines sehr langen, zusammenbrechenden Gerüsts etwa, die auch einem Jackie Chan gefallen würde. In nicht ganz perfekter Bruce Willis-Manier klärt Eddie danach singend einen Banküberfall mit Geiselnahme. Oder das ganz große Musical-Finale, mit dem Eddie schließlich bei Lisa landet. Hamburg sieht hier zwar glänzend aus, aber im Gegensatz zur Western- („Der Schuh des Manitu") oder Science Fiction-Parodie („(T)Raumschiff Surprise - Periode 1") fallen die Mühen der Inszenierung dabei nicht so sehr ins Auge.

Michael Herwig zeigt also wieder, was es alles als Regisseur kann - eine ganze Menge. Das ergibt bei einigen wilden Drehbuchsprüngen und netten Ideen einen unterhaltsamen, mäßig gefühlvollen Film. Bei dem leider nicht alles 100-prozentig zusammenpasst.

17.12.13

Blau ist eine warme Farbe


Frankreich, Spanien, Belgien 2013 (La vie d'Adele - Chapitre 1 & 2) Regie: Abdellatif Kechiche mit Léa Seydoux, Adèle Exarchopoulos, Salim Kechiouche, Jérémie Laheurte 180 Min. FSK: ab 16

 

Nachdem der dreifache Cannes-Sieger von 2013 bereits fast überall in Europa gefeiert wurde, darf nun auch Deutschland dieses pure Stück Kino miterleben: Die mit der Goldenen Palme und gleich zwei Preisen für die Hauptdarstellerinnen ausgezeichnete Liebesgeschichte zweier junger Frauen beglückt mit Natürlichkeit in Spiel und Inszenierung. Die Vorlage zu „Blau ist eine warme Farbe" stammt von Julie Marohs Comic „Le Bleu est une couleur chaude".

 

Die 15-jährige Adèle (Adèle Exarchopoulos) schaut sich in der Schule neugierig um, der Gruppendruck redet ja von nichts anderem als Sex und Beziehungen. Aber ihr Desinteresse hört erst schlagartig auf, als sie Emma (Léa Seydoux) trifft. Irgendwann lässt sich auch die schon etwas ältere, sexuell sehr erfahrene Künstlerin mit den blauen Haaren auf dieses Abenteuer ein. Ohne zu ahnen, dass eine jahrelange, sehr leidenschaftliche Liebesgeschichte draus wird.

 

Doch neben dem Altersunterschied steht vor allem die Klassen-Differenz dem Glück im Weg: Während die beiden Abendessen bei den jeweiligen „Schwiegereltern" noch komisch daherkommen, wenn Adèle genüsslich - und sinnlich - die Spaghetti vom stolzen Papa mit verschmiertem Mund aufsaugt und dann mit der Etikette bei Emmas reichen Eltern auf Kriegsfuß steht. Schwierig wird es schon mit Emmas Freunden aus Künstlerkreisen, da ist Adèle bereits zur Hausfrau degradiert. In dieser klassischen Rolle wartet sie dann auch zu oft alleine in der gemeinsamen Wohnung auf die vom gemütlichen Heim gelangweilte Abenteurerin mit ihrer Verachtung für die „einfache" Lehrerausbildung der Freundin. Dass die Geliebte dann auch noch das Motiv für viele Gemälde und Akte wird, manifestiert endgültig Emmas Macho-Part.

 

Der französische Regisseur Abdellatif Kechiche erhielt 2008 nach seinem großen Erfolg „Couscous mit Fisch" zusammen mit Fatih Akin in Aachen die Karlsmedaille für europäische Medien. 2013 wurde er auf dem Olymp des Kinos in Cannes gefeiert. „Blau ist eine warme Farbe", die ersten Kapitel der Lebens- und Liebesgeschichte von Adèle, beeindrucken durch eine lebensnahe Inszenierung. Und durch die beiden umwerfenden, jungen Schauspielerinnen Adele Exarchopoulos und Léa Seydoux. Nicht nur das intensive Spiel in vielen Szenen - das eifrige Sexleben ist da nur eine wenn auch notwendige Randerscheinung - erstaunt bei der zum Zeitpunkt des Drehs erst 19-jährigen Entdeckung Adèle Exarchopoulos. Auch ihre Veränderung vom sehr sinnlichen Backfisch mit geschürzter Oberlippe zur nachdenklichen und verletzten jungen Frau, die tapfer in ihrem einsamen Leben steht, ist eindrucksvoll. Léa Seydoux hatte sich da schon eine Weile auf den Rang einer der jungen Leinwand-Göttinnen Frankreichs gespielt: Allein ihre letzten deutschen Kino-Auftritte mit der Hauptrolle in „Leb wohl, meine Königin!", der nicht ganz echten Schwester in „Winterdieb", der schönen Pariserin in „Midnight in Paris" oder der Killerin in „Mission: Impossible - Phantom Protokoll" machen die Varianz ihres Könnens deutlich. „Grand Central" von Rebecca Zlotowski, der sie als AKW-Arbeiterin zeigt, ist hier leider noch gar nicht herausgekommen.

 

In Cannes teilte sich die Begeisterung für „Blau ist eine warme Farbe" in zwei Gruppen auf: Die einen hätten am liebsten die ursprüngliche, längere Version gesehen. (Kechiche wurde wohl von der Festivalleitung gezwungen, auf drei Stunden zu kürzen.) Den anderen hätten zwei Stunden auch gereicht, bei der einen, sehr langen, sehr deutlichen Sex-Szene steckt gefühlt schon zehn Minuten Kürzungspotential drin.

 

Genug gesagt

 

USA 2013 (Enough Said) Regie: Nicole Holofcener mit Julia Louis-Dreyfus, James Gandolfini, Katherine Keener, Toni Collette 93 Min. FSK: ab 6

 

Die Autorin und Regisseurin Nicole Holofcener wird wohl irgendwann als einfühlsame und genaue Chronistin einer wohlsituierten Schicht des US-Bürgertums anerkannt werden. Nach der Tragikomödie „Please Give" (2010), der Aniston-Krise „Freunde mit Geld" (2006) sowie „Walking and Talking" (1996) geht es nun in „Genug gesagt" um die schwierige Partnerfindung reiferer Erwachsener, denen die Kinder aus dem Hause ziehen.

 

Die geschiedene, alleinerziehende Eva (Julia Louis-Dreyfus) lebt in einer Welt, die sich ihre Hausbesuche als therapeutische Masseurin leisten kann. Die Tochter wird bald aufs College gehen, die frustrierte beste Freundin (Toni Collette) ist damit beschäftigt, Möbel täglich neu zu arrangieren und das Hausmädchen nicht rauswerfen zu können. In dieser nicht wirklich dramatischen Lebenssituation begegnet Eva auf einer Party dem gemütlichen Albert (James Gandolfini), ebenfalls geschieden und auch seine Tochter zieht bald weg.

 

Mit viel Humor nähern sich die beiden an, trotz seiner „Paddelhände", Haare in den Ohren und der generellen Abneigung gegenüber nackten Füssen. Albert arbeitet in einer Bibliothek für Fernsehgeschichte. (Ein guter Hintergrund für ein paar sentimentale Reminiszenzen und böse Kommentare zur Qualität des aktuellen Programms, von einer Regisseurin, die selbst Fernsehen gemacht hat.) Zum ersten Frühstück empfängt der stille Typ mit trockenem Humor die quirlige, unsichere Eva in Pyjamahosen, liebevoll aufgedeckt ist auch nicht gerade. Doch sie verstehen sich, auch in den Gesprächen über die jeweiligen Töchter. Gleichzeitig freundet sich Eva mit einer neuen Kundin an. Marianne (Catherine Keener), eine erfolgreiche und etwas spleenige Schriftstellerin, lässt sich ausführlich über ihren Ex-Ehemann aus, der zufällig auch Albert heißt. Als Eva feststellt, dass es tatsächlich der gleiche Mann ist, schweigt sie seltsamerweise und lässt das Gift einer gescheiterten Beziehung die frisch aufkeimende bedrohen....

 

Über das schwierige Liebesleben älterer Großstadt-Singles ist wahrscheinlich - auf jeden Fall in Proportion zu Teenie-Komödien - noch nicht genug gesagt worden. „Genug gesagt" nähert sich dem eher beiläufig an, interessiert sich mehr für die Figuren als für eine große Pointe. Und obwohl in der Synchronisation Einiges falsch und irgendwie schief klingt, überzeugen die Darsteller. Julia Louis-Dreyfus („Friends") vermittelt glaubhaft eine anfängliche Irritation und macht ihre Figur spannend, als diese unerklärlicherweise die doppelte neue Bekanntschaft für sich behält. James Gandolfini ist ein Monument - hier als Albert mit dessen großem, glücklichem Gesicht, und als Schauspieler, der nach seinem Tod noch viele tolle Rollen hinterlassen hat. Catherine Keener ist zum vierten Mal bei einem Spielfilm von Nicole Holofcener dabei - ihre esoterisch abgehobene Star-Poetin ein Genuss in nonchalanter Arroganz!

 

So ist diese verdrehte Verwechslungs-Komödie kein Woody Allen, sondern ein stilles Anerkennen der jeweiligen Schrullen und Sonderbarkeiten. „Genug gesagt" erfreut als ein erwachsener Film mit klugen Beobachtungen und Ansichten. Aber deswegen bräuchte er allerdings nicht so gemächlich oder unflott zu sein.

Machete Kills

USA 2013 (Machete 2: Machete Kills) Regie: Robert Rodriguez mit Danny Trejo, Michelle Rodriguez, Sofía Vergara, Amber Heard 107 Min. FSK: ab 16

Dummheit stirbt nicht aus, sagt man. Das passt zu Machete, der scheinbar unsterblich ist. Denn dies ist der dümmste und brutalste Film seit langem. Oder um es respektvoll zu sagen: Robert Rodriguez („Desperado" 1995, „From Dusk Till Dawn" 1995, „El Mariachi" 1992) lässt irgendeine bescheuerte Tequila-Laune mit beschränkter Sorgfalt und vielen albernen Gastauftritten auf das Publikum los. Erneut fällt einer seiner Fortsetzungen erschreckend schwach aus - siehe „Spy Kids".

Wenn ein Nebendarsteller aus ein paar B-Pictures wie Danny Trejo eine Hauptrolle und sogar den Filmtitel bekommt, ist dies ein Runterbuchstabieren auf Dschungelcamp-Niveau. Leute wie Robert Rodriguez oder Quentin Tarantino wollen immer wieder mal irgendeiner vergangenen Zeit kleiner, dreckiger Filme eine Ehre erweisen und machen aufwändige, teure und überzogene dreckige Filme. Was nicht funktioniert. Genauso wenig wie ein Held, der nicht tot zu kriegen ist. Langweilig! Nur die Freigabe ab 16 ist ein guter Witz!

Nun also killt Danny Trejo noch einmal als mexikanischer Massenmörder Machete: Beauftragt vom US-Präsidenten, der selten vertrauenswürdiger besetzt war - Charly Sheen tritt unter seinen Geburtsnamen Carlos Estevez auf. Denn der schizophrener Rebell und Kartell-Boss Mendez (Demián Bichir) ist nicht nur selbst eine tickende Zeitbombe, er droht auch, mit einer Atombombe Washington zu zerstören. Behilflich ist dem ebenso wortkargen wie ausdrucksarmen Machete eine Schönheitskönig (Amber Heard) sowie irgendeine mexikanische Untergrund-Organisation unter Leitung von Michelle Rodriguez. Auf seiner blutigen Spur ist eigentlich jeder, weil es ein Kopfgeld gibt, aber vor allem „das Chamäleon", nacheinander verkörpert von Walt Goggins, Cuba Gooding jr., Lady Gaga und Antonio Banderas (mit schlechtem Spanisch!), ist eine Herausforderung für den Selbsterhaltungstrieb und die Dramaturgie dieses Filmchens.

Dessen Höhepunkt erstaunlicherweise ein richtig gut böse spielender Mel Gibson als wahnsinniger Oberschurke Luther Vox bildet. „Machete kills" ist mit seinen extrem vielen Tötungen, in die ein Großteil der Kreativität gesteckt wurde, eine dieser Erscheinungen, die künstlich mit einem riesigen Werbeetat zum „Kult" aufgeblasen werden sollen. Wobei das Wort Kultur damit ebenso wenig zu tun hat wie „Niveau". Stattdessen gibt es einen Hubschrauber mit Duft-Bäumchen. Eine Puff-Mutter, die aus ihrem DD-BH ebenso scharf schießt wie mit ihrem umgeschnallten Dildo. Einen Kampf-Klon, dem man Kopf und Beine abhacken kann, und so weiter ...

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7.12.13

Die Frau, die sich traut

BRD 2013 Regie: Marc Rensing mit Steffi Kühnert, Jenny Schily, Christina Hecke, Steve Windolf, Lene Oderich 98 Min. FSK: ab 6

Beate (Steffi Kühnert) war mal die schnellste Schwimmerin der DDR. Jetzt arbeitet sie in einer Großwäscherei, während sie gleichzeitig der Enkelin bei den Hausaufgaben hilft. Die 50-Jährige ist ganz darauf fixiert, sich um ihre erwachsenen Kinder zu kümmern. Den Sohn Henni will sie mit der schwangeren Freundin nicht wegziehen lassen. Die Tochter soll sich auf ihr Examen konzentrieren. Eine schwer erträgliche Helikopter-Mutter älteren Jahrgangs also. Die Krebsdiagnose ist für Beate der Schicksalsschlag, der sie aus den gewohnten Bahnen wirft. Sie entscheidet sich während einer Hausputz-Attacke gegen die Therapie und geht ins Wasser. Um zu schwimmen und zu schwimmen, ohne Ende.

Beate verheimlicht den besonders aggressiven Gebärmutterhalskrebs vor ihren Kindern, selbst vor der Tochter, die Medizin studiert. Nur die Freundin Henni (Jenny Schily) wird eingeweiht. Gleichzeitig nimmt sich die ehemalige Leistungssportlerin vor, den Ärmelkanal zu durchschwimmen. Dafür kommt sie kaum noch aus dem Wasser, legt sich in Eisbäder - Neoprens sind verboten - und trainiert selbst nachts mit der alten Rudermaschine, was vor allem die Schwiegertochter in den Wahnsinn treibt. Die ziemlich Ich-bezogenen Kinder reagieren extrem heftig auf den Entzug der Hilfskraft.

Diese Frau kann nicht vergessen, dass sie eine Goldmedaille hätte gewinnen können, den Sport aber für die Kinder aufgab. Nun versucht sie ein letztes Mal sich als Einzelkämpferin einen Traum zu erfüllen - die 33 Kilometer Kanal-Querung. Am Strand von Calais oder Dover muss es ja vor lauter Drehteams ziemlich voll sein. Denn immer wieder wird auch diese sportliche Höchstleistung als Symbol für eine Lebenswende eingesetzt. Dabei macht Steffi Kühnert in dem mäßigen Feel-Good-Versuch von Marc Rensing („Parcours") wenigstens nicht auf Rocky. Ihre Figur sieht nie nach Langstrecken-Schwimmerin aus, was zum unprätentiösen Spiel der Steffi Kühnert passt. „Die Frau, die sich traut", ein Film, der sich keine großen Gefühle, aber auch keinen nüchternen Blick traut, verlässt sich ganz auf die ansonsten tolle Hauptdarstellerin.

Dazu gibt es viel Gefühlssoße über die Musik, allerdings langen andere Filme auch da noch kräftiger zu. Am Rande wird die Krebs-Diagnose wird mit dem DDR-Doping in Verbindung gebracht: Beate wusste damals sehr wohl, dass eine weitere Einnahme der Anabolika ihren Fötus schädigen würde. Parallel findet etwas Emanzipation bei den Kindern statt. Aber selbst das Mitfiebern der Randfiguren lässt einen kalt, was nicht an den Wassertemperaturen liegt.

Alois Nebel

Tschechien, BRD 2010 (Alois Nebel) Regie: Tomás Lunák mit Miroslav Krobot, Marie Ludvíková, Karel Roden, Leos Noha 75 Min. FSK: ab 12

Ein kleiner Bahnhof in polnisch-tschechischer Grenznähe. Fahrdienstleiter Alois Nebel kümmert sich um nichts und niemanden. Für sich wiederholt der Sonderling in Gedanken immer wieder Ortsnamen und Uhrzeiten aus alten Fahrplänen der tschechoslowakischen Bahn, nur um nicht nachzudenken oder sich zu erinnern. Denn aus der Nebelwolke der Erinnerung tauchen immer wieder Bilder von Deportationen auf, von Vertreibungen und einem Schuss im Rauch der Dampflok.

Im Vorspann erleben wir die Flucht eines Mannes und einen Hinweis auf das historische Hin und Her in diesem Grenzgebiet um Bílý Potok: Die Annexionen durch Nazi-Deutschland, dann nach Ende der deutschen Besatzung die Vertreibung der Sudetendeutschen. Im Herbst 1989, kurz vor der Samtenen Revolution wird Alois Nebel schließlich von einem intriganten Kollegen in die Psychiatrie geschickt. Auch dessen Konspiration mit dem Polizisten und dem Chefarzt verweisen auf ein Verbrechen in der Vergangenheit. Irgendwann ist Nebel raus aus der Anstalt und auch aus seiner Anstellung bei der Bahn. In Prag ist er Obdachloser mit Bahner-Uniform, der bald Bekannte und auch eine Freundin findet. Mit Vollbart und ohne Brille kehrt er zurück, um wieder auf den „Stummen" zu treffen, der sich weiterhin in der Gegend versteckt. Dessen Absichten stellen sich erst in einem seltsam dramatischen Finale mit einem Unwetter, das alles wegschwemmt, heraus. (Bílý Potok war 2000 tatsächlich Ort großer Überschwemmungen.)

Die faszinierende Animation „Alois Nebel" basiert auf einer gleichnamigen Trilogie über den melancholischen Eisenbahner, die 2003 in Tschechien veröffentlicht wurde. Autoren der Graphic Novel sind der Schriftsteller Jaroslav Rudiš und der Zeichner Jaromír Švejdík, bekannt unter dem Künstlernamen Jaromír 99. Sie leuchten ein dunkles Kapitel mitteleuropäischer Geschichte kunstvoll in expressivem Schwarz-Weiß aus.

Die Verfilmung von Tomáš Luňák begeistert ebenso durch ihren Stil: „Alois Nebel" ist ein „übermalter" Realfilm. Diese „Rotoskopie" wird oft eingesetzt, um schwer Ausdrückbares zu zeigen: Verbrechen israelischer Soldaten in „Waltz with Bashir", letztens mit „Der Kongress vom gleichen Regisseur Ari Folman oder auch beim Drogentrip „A Scanner Darkly - Der dunkle Schirm" von Richard Linklater und mit Keanu Reeves. Bei „Alois Nebel" macht dies Verfahren die Gesichter teilweise arg grob zu Masken, aber in der künstlerischen Überhöhung entstehen auch einzigartige Bilder.

Diesmal wird im Trend von „The Artist" und „Blancenieves" im reinen Schwarz-Weiß „gezeichnet", das stellenweise wie Scherenschnitt aussieht. Faszinierend, wie bei einer nächtlichen Aufnahme Wasser spritzt, wie das lichtüberflutete Zimmer von Nebel erbebt, wenn Züge vorüber fahren oder die Erinnerung kommt. Oder die Blitze bei den Elektroschocks, die „der Stumme" erhält.

4.12.13

Venezianische Freundschaft

Italien, Frankreich 2011 (Io sono li) Regie: Andrea Segre mit Zhao Tao, Rade Serbedzija 98 Min.

Ein alter Mann, eine einsame Frau in Zwangslage, ein verlorenes Kind - alle Bestandteile einer rührenden Geschichte finden sich im Fischerdörfchen Chioggia bei Venedig. Der nüchternen Inszenierung mit ganz sparsamem Musikeinsatz ist es jedoch zu verdanken, dass diese „Venezianische Freundschaft" nie in Kitsch abgleitet.

Die Chinesin Li (Zhao Tao) gehört zu unseren modernen Sklaven und Arbeitsnomaden: Als Näherin arbeitet sie in Rom, haust mit vielen Landsleuten auf engem Raum in Hochbetten. Sie muss angeblich die Kosten für ihre Reise und Aufenthaltsgenehmigung zurück verdienen. Ohne zu erfahren, wie viel das denn überhaupt ist, wird sie mit ihrem kleinen Sohn erpresst, der irgendwann nachgeschickt werden soll. Dann verschickt sie der Vorarbeiter nach Venedig, wo sie trotz schwacher Sprachkenntnisse eine Bar übernehmen soll - Spritz ist dabei ein besonders schwieriges Wort. Erst reiben sich die schrulligen venezianischen Fischer an der eifrigen Chinesin, doch schließlich gewinnt Li ihre Herzen. Besonders das des Poeten Bepi (Rade Serbedzija), einem alten Jugoslawen, der seit dreißig Jahren hier lebt, aber irgendwie immer noch als Zugezogener angesehen wird. Die vorsichtige Beziehung gefällt der Chinesen-Mafia allerdings gar nicht...

Mit enormer Sicherheit in der Inszenierung und einer Bildgestaltung mit sanften, warmen Tönen und melancholischer Poesie (Kamera: Luca Bigazzi) erzählt „Venezianische Freundschaft" leise von einer ungewöhnlichen Begegnung. Passend zu der Verweigerung von Klischees gehört auch, dass ein touristisches Venedig höchstens mal gestreift wird. Und dann auch noch überschwemmt. Doch selbst mit Gummistiefeln und einer Handbreit Wasser im Cafe geht der Alltag weiter. In einer der schönsten Szenen des Films lässt der Fischer dabei ein Tee-Licht auf dem Wasser treiben: Als Ehrerbietung an Chinas ältesten Dichter Qu Yuan und als Mitgefühl für Lis Heimweh. Ihre Briefe an ihren Sohn spiegeln die wahren Empfindungen der meist lächelnden Frau. Zwischen dem Austausch der intensiven, lebendig und glaubhaft gezeichneten Figuren gibt es viele poetische Lebensbetrachtungen und kleine Bemerkungen über die Veränderungen in der Welt, die sich auch bei großen Entfernungen manchmal ähneln.

3.12.13

Ganz weit hinten

USA 2013 (The Way Way Back) Regie: Nat Faxon, Jim Rash mit Sam Rockwell, Liam James, Steve Carell, Toni Collette, Allison Janney 104 Min. FSK: ab 0

Die Sommerferien stehen an. Und das bedeutet für Teenager im Film oft eine harte Zeit der Selbstfindung voller Konflikte mit Erziehungsberechtigten und sich selbst, voller Verführungen und unheimlichen Begegnungen meist mit dem anderen Geschlecht. Noch bevor der 14-jährige, schüchterne Duncan (Liam James) mit seiner Mutter Pam (Toni Collette), ihrem neuen Freund Trent (Steve Carell) und dessen Tochter Steph (Zoe Levin) im Ferienhaus am Meer ankommt, macht Trent den Jungen runter. Auch die Mädels der Strandhäuser wollen nichts von dem schlaksigen Jüngelchen wissen. Erst als sich Owen (Sam Rockwell), sehr lockerer Angestellter im Aquapark „Water Wizz", des gelangweilten Jungens annimmt und ihn in eine Clique ebenso kluger wie lässiger Verlierer einführt, bekommt Duncan Spaß und Selbstbewusstsein. Die Situation zuhause flieht er so oft wie möglich, indem er mit einem rosa Kinderrad zum Wasserpark fährt, weil Trent mittlerweile noch mit einer alten Freundin fremd geht.

Auch wenn Rahmen und Verlauf sehr anderen Filmen über Jugend und die schwierige Zeit der Pubertät ähneln, überrascht „Ganz weit hinten" in jeder Hinsicht: Der stille aber sympathische Duncan findet in diesem einen, ganz speziellen Sommer mit grandioser Sicherheit seinen eigenen Weg. Mit Sonnenbrille und Aufseher-Shirt geht er voll im Haufen herrlich lakonischer Freunde auf. Und selbstverständlich wird auch die anfangs zickige blonde Nachbarin zur seiner ersten Freundin.

Die fast vollkommene Abwesenheit von den üblichen Teenie-Film-Szenen, den populären Fäkalscherzen und überzogenen Konflikten macht „Ganz weit hinten" schon mal mächtig sympathisch. Die Anwesenheit toller Schauspieler gibt ihm den Rest zu einem Film, den man richtig mag. Sam Rockwell legt eine große Show hin als Buddha des Plansch-Paradieses, der allerdings auch noch erwachsen werden muss. Sein umwerfender Humor ist scheinbar die einzige Haltung, mit dieser Phase des Lebens und solchen Urlaubs-Situationen zurecht zu kommen. Hinter dem ekelhaften Stiefpapa verbirgt sich der ernsthafte Komiker und Schauspieler Steve Carell, der sich allerdings immer mal in komischen Film-Projekten verirrte. Toni Collettes Mutter reift genauso wie ihr Sohn und beide lernen sich richtig kennen und schätzen. Als Zugabe gibt es die alles weich verpackende Musik von Rob Simonsen und insgesamt schafft es „Ganz weit hinten" völlig unerwartet zu interessieren und zu berühren. Die Autoren und Regisseure Nat Faxon und Jim Rash arbeiteten übrigens bereits mit am Drehbuch der hawaiianischen Clooney-Komödie „The Descendants - Familie und andere Angelegenheiten" von Alexander Payne.

Kluge Weltpremiere Carmen in Speichersdorf

Lüttich. Die Weltpremiere des neuen Films vom internationalen renommierten und ausgezeichneten Regisseur Alexander Kluge wird am 12. Dezember Höhepunkt der hochrangig besetzten Konferenz „Reading/Viewing Alexander Kluge's Work" (11.-13. Dezember 2013) in Lüttich sein.

Der 1932 in Halberstadt geborene Cineast, Schriftsteller, Soziologe und Fernsehmacher Alexander Kluge entzieht sich, ebenso wie sein Oeuvre, jeglicher Kategorisierung. Die Universität Lüttich nähert sich im Rahmen ihres Deutschlandjahres und in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Brüssel dem vielseitigen Filmemacher in einem dreitägigen internationalen Kolloquium an, in dessen Rahmen zahlreiche Vorträge, Debatten und Filmvorführungen zu Leben und Werk von Alexander Kluge stattfinden. Schwerpunkte sind seine Interviewtechnik sowie die Übersetzungen seiner Werke, die unter anderem auch auf Koreanisch vorliegen. Unter den Referenten ist auch die berühmte Filmwissenschaftlerin Prof. Dr. Gertrud Koch, Freie Universität Berlin.
Um 20 Uhr läuft „Carmen in Speichersdorf" in Kino Opéra. Davor wird der Film Carmen: Sparbuch der Rache (1988) gezeigt und danach eine Videokonferenz mit Alexander Kluge organisiert.
(jek)

Programm und Infos unter www.kluge-conference.ulg.ac.be
http://www.kluge-alexander.de/

Carrie (2013)

USA 2013 (Carrie) Regie: Kimberly Peirce mit Julianne Moore, Chloë Grace Moretz, Gabriella Wilde 100 Min. FSK: ab 16

Es ist ein Horror mit diesen Remakes - besonders im Genre Gruselfilm wird jede zu recht vergessene Filmleiche ausgebuddelt und schlapp aber besonders blutig reanimiert. Bei dem x-ten Remake und nach einigen Fortsetzungen von Brian de Palmas Klassiker „Carrie - Des Satans jüngste Tochter" aus dem Jahre 1976 - nach einem Vorlage von Stephen King - wundert man sich zuerst über erstaunlich gute Schauspieler für so ein ehemaliges Horror-Filmchen. Zwar wurde Sissy Spacek im Original mit der Rolle ihres Lebens - neben John Travolta und Piper Laurie - berühmt, aber sie war es halt vorher nicht. Jetzt spielt Julianne Moore die Margaret White, Carries fanatisch religiöse Mutter, das eigentliche, von einem Gott besessene Monster. Dass Moore ohne jeden Starglanz eine der allerbesten Darstellerinnen unserer Zeit ist, bewies sie erst in diesem Jahr wieder in als liebeshungrige Seniorin in „Don Jon" und als liebloses Mutter in „Das Glück der großen Dinge".

In der Hauptrolle der gemobbten Schülerin Carrie White beeindruckt Chloë Grace Moretz. Ihr ängstlicher, verletzlicher Gesichtsausdruck unter rotem Haar ist zuerst beste Angriffsfläche für die Cheerleader-Bestien unter den Mitschülerinnen. Wegen der ultraorthodoxen religiösen Erziehung der Mutter schon immer angeschlagene Außenseiterin, eskaliert die Situation, als Carrie nach dem Schulsport unter der Dusche das erste Mal ihre Tage bekommt und panisch meint, sie verblutet. Die anderen Mädchen verspotten sie grausam und posten die Situation auf YouTube.

Aber auch der anfangs zögerliche und dann immer gewaltigere Einsatz der telekinetischen Kräfte Carries führt zu faszinierenden Regungen auf dem Gesicht von Chloë Grace Moretz: Hier läuft nie simple, allmächtige Rache ab, hier kämpfen immer Verzweiflung, unkontrollierte Verteidigung und Mitgefühl miteinander. Bis zur bekannten Rache-Orgie auf der Abschluss-Feier, wenn Carrie, wirklich glücklich und scheinbar zur Ball-Königin gewählt, von einem Eimer Schweineblut übergossen wird und daraufhin den ganzen Laden effektvoll abfackelt.

Ein Film, der all die Mobbing-Täter und Drangsalierer brutal bestraft, ist heute sicherlich vonnöten. Ebenso eine deutliche Darstellung der wahnsinnigen Seiten von Religion. Wobei ein Mädchen, das nicht weiß, was ihr passiert, wenn sie die Periode bekommt, in den Zeiten von Internet nur schwer vorstellbar ist. Zusammen ergibt sich unter der Regie von Kimberly Peirce, die immerhin das ähnlich situierte Transsexuellen-Drama „Boys Don't Cry" (1999) gemacht hat, Cyber-Mobbing und eine anständig, gradlinig inszenierte Modernisierung, die allerdings höchsten wegen der Schauspielerinnen beachtenswert ist.

2.12.13

45 Minuten bis Ramallah

BRD 2013 Regie: Ali Samadi Ahadi, mit Karim Saleh, Navid Akhavan, Julie Engelbrecht 87 Min. FSK: ab 12

Regisseur Ali Samadi Ahadi konnte schon nach seinem dritten Kinofilm „The Green Wave" als bemerkenswerter Filmemacher bezeichnet werden. Mit der Dokumentation über Irans Grüne Revolution spannte er sein „Werk" nach der wilden ost-westlichen Komödie „Salami Aleikum" und nach „Lost Children - Verlorene Kinder" (2005), dem Dokumentarfilm über das Schicksal von Kindersoldaten im Norden Ugandas, ziemlich weit. Nun also eine Komödie über die Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen jüdischen und arabischen Israelis sowie zwischen palästinensischen Widerstandsgruppen überhaupt. Auch „45 Minuten bis Ramallah" selbst steckt ein weites Feld ab, thematisch, aber vor allem stilistisch. Mit wechselndem Erfolg,

Der 30-jährige Rafik (Karim Saleh) ist Palästinenser mit israelischem Pass und würde niemals für die Hochzeit seines ungeliebten kleinen Bruders Jamal (der Iraner Navid Akhavan) heimkehren. Doch der Imbiss auf der Reeperbahn schmeißt den Koch raus, so fliegt er mit Anzug und Espresso-Maschine - beides geklaut - in die Konfliktzone. Damit ist die Familie ebenso beschrieben wie die regionale Konfrontations-Politik. Erst gibt es wie erwartet Streit mit dem Bruder, dann mit dem Vater, der sich dabei mit Herz-Infarkt von den Lebenden verabschiedet. Dieser Todesfall nach Hochzeit bringen die Brüder auf einen Trip nach Ramallah, wo Vater beerdigt werden wollte. Das liegt zwar Luftlinie nur 45 Minuten entfernt, doch auf dem Weg ins besetzte Palästina gibt es Grenzkontrollen und „Check Points", die besonders für palästinensische Israelis mit einer versteckten Leiche im Gepäck nur schwer überwindlich sind.

„Alle hassen sich wie die Pest, aber haben keine Ahnung warum", so kommentiert Heimkehrer im Off naiv die örtlichen Verhältnisse. In der palästinensischen Komödie aus Hamburg erleben die zerstrittenen Brüder mit dem Toten zwischen sich hüpfend nicht nur schlechten Straßen entlang der gigantischen Schutz-Mauer Israels. Die russische Mafia klaut ihnen den Firmen-Transporter samt Leiche, sowohl Israelis als auch Palästinenser verhaften und foltern sie. Zuletzt zwingt man sie zu einem Selbstmord-Attentat. Das ist albern bis heftiger Humor, klingt mal nach Kishons Absurdität, dann nach Monty Pythons Respektlosigkeit und ganz selten auch mal erschreckend. Dieses politische wie reale Minenfeld begeht der eher freche als ausgewogene Film ohne Rücksicht. Sowohl thematisch als filmisch.

Beim chaotischen Komödien-Verlauf wünschte man sich auch mal etwas Ruhe und mehr Sorgfalt für die Verschiedenheit der Brüder, wenn der brave Jamal mit gefälschtem Ausweis im gestohlenem Mercedes durch die Gegend irrt. Dass einmal ein alter Palästinenser nicht zu seiner Herzoperation über die herzlose Grenze darf, verweist auf „Das Herz von Jenin", einen der vielen Filme um diesen Nah-Ost-Konflikt. Aber auch „Die syrische Braut" oder „Lemon Tree" spielen in einer ganz anderen Liga.

Und obwohl reichlich Stichworte wie Ramadan oder arrangierte Heirat in die nah-östliche Odyssee eingestreut werden (Buch: Gabriel Bornstein, Karl-Dietmar Möller-Nass), hat der Film Längen. So verpufft schließlich auch das abschließende Bekenntnis in der holperigen Klamotte: „Dieses Land ist ein Irrenhaus. Aber es ist mein Irrenhaus." Dies mag ein irrer Film sein, aber es ist nicht mein Film.

Houston

BRD 2013 Regie: Bastian Günther mit Ulrich Tukur, Garret Dillahunt, Wolfram Koch, Jenny Schily 107 Min. FSK: ab 16

„Wir sind in der Gewalt der Kräfte" heißt es bedeutungsvoll als Clemens Trunschka (Ulrich Tukur) auf einer Autotest-Strecke im Beifahrersitz das erste Mal der Schweiß ausbricht. Der Anzug-Träger und gehetzte Headhunter wirkt meist erstaunt, verloren, verwirrt. Auch wenn der lukrative Auftrag vorliegt, den Manager einer texanischen Ölfirma für einen deutschen Automobilhersteller abzuwerben, bleibt eher Trunschkas Zustand als Handlung im Fokus der Geschichte.

Der Familienvater zieht sein Ding mit dem Mute der Verzweiflung durch. Und mit dem Motto: Houston - wir haben kein Problem. Auch wenn die Ehe des Trinkers längst problematisch ist und seine Frau heimlich weint. Im anderen Kosmos der texanischen Öl-Stadt Houston versucht er detektivisch, persönlichen Kontakt zum abgeschirmten Zielobjekt zu bekommen. Doch trotz einer Reihe von auch teilweise kriminellen Tricks schafft er es nicht, bleibt der Manager unerreichbar. In dieser Warteschleife in Hotel-Lobbys, Bars und Fitnessräumen wird der deutsche Geschäftsmann gleichzeitig von einem Borderline-Hoteldetektiv verfolgt. Robert Wagner will sein Freund werden, erzählt von seiner Scheidung und dass er feststeckt. Was Trunschka nur interessiert, wenn er selbst am Boden ist.

Bastian Günther, schon mit seinen „Autopiloten" (2007) filmisch „on the Road", inszeniert in diesem Film des Wartens immer wieder auch surreale Momente und macht Kleinigkeiten wie eine flackernde Neonröhre bedeutungsvoll. Ein Hemd segelt in Zeitlupe an der Fassade eines dieser wabenartigen Hotelgebäude hernieder. Ein Ehe-Streit im Auto findet treffend bei Stilstand in der Garage statt. Doppelbelichtungen ergeben Straßenpanoramen wie die eines Schielenden und die Nahaufnahme von Tukurs Gesicht liegt bildschirmfüllend über allem anderen. Zu diesen originellen Gestaltungsideen gibt es noch einige bedeutungsschwangere Sätze. Der film-dienst zieht Vergleiche zu Kafkas „Das Schloss".

Wie am US-Bild - auf der Tonspur klingt Paris, Texas an - haben sich schon einige Regisseure auch an dem Zustand sinnentleerter, überarbeiteter Männer abgearbeitet. Günther und Tukur fügen mit dem Psychogramm eine interessante Fußnote hinzu, aber insgesamt ist diese Zustandsbeschreibung viel zu dünn für einen Film. Denn Clemens Trunschka bleibt unscharf und schwammig. Bei dem möglichen Zusammenbruch in Zeitlupe passiert nicht viel. Wie der Film verliert sich auch seine Hauptfigur in einer wohl nachgestellten Mini-Autoparade.

Inside Llewyn Davis

USA, Frankreich 2013 Regie: Joel & Ethan Coen, mit Oscar Isaac, Carey Mulligan, Justin Timberlake, John Goodman, Garrett Hedlund 104 Min.

Die Coen-Brüder (Goldene Palme 1991 mit „Barton Fink") können herrlich albern („Brother, were art thou") aber auch düster tiefgründig („No country for old man") bis metaphysisch („The man who wasn't there"). Diesmal wollten sie vor allem wieder einen Musikfilm wie „Brother, were art thou" machen. „Inside Llewyn Davis" reicht vom Spott auf alle möglichen Verirrungen der Folkmusik bis zu ein paar Takten eines näselnden Typen, der später garantiert auch noch Mundharmonika spielen und als Bob Dylan erfolgreich sein wird. Dieser böse Humor, der in Cannes Lachanfälle und Szenenapplaus einheimste, wird im Film selbst beantwortet: Der Ehemann einer verspotteten Sängerin schlägt Llewyn Davis in der Gasse hinter einem Club zusammen. Damit beginnt und endet der Film.

Anfang der Sechziger Jahre erleben wir in New York den begnadeten aber erfolglosen Folksänger Llewyn Davis (Oscar Isaac) beim Couch-Hopping. Auf seinen Auftritt in einem kleinen Club in Greenwich Village fällt ein göttliches Licht: „Amelie"-Kameramann Bruno Delbonnel gestaltete nicht nur diese Szene als Gemälde wie von großen niederländischen oder italienischen Meistern. Auf den Alltag von Llewyn fällt meist Regen und Schnee. Ohne Wohnung und Geld übernachtet er mit seiner Gitarre mal bei seiner ehemaligen Affäre Jane (Carey Mulligan) und deren neuem Freund Jim (Justin Timberlake), mal bei einem intellektuellen Ehepaar, das den Bohemien gerne Freunden vorführt. Als deren Katze ihm morgens entwischt, bekommt der Film sogar noch so was wie einen roten Faden, denn eigentlich fehlt ihm ein Plot. Was bei der äußerst vergnüglichen und andeutungsreichen, hervorragend gespielten und wunderbar inszenierten melancholischen Komödie überhaupt nicht auffällt.

Jede Szene der kleinen historischen Stadt-Führung und USA-Odyssee (New York, Chicago und zurück) „Inside Llewyn Davis" ist ein Hochgenuss. Die schrägen Nebenfiguren interessieren fast mehr als der wohnungs- und ziellose Antiheld Llewyn: John Goodman spielt auf dem Roadtrip nach Chicago einen völlig abgedrehten Jazzer auf Droge und ihr Fahrer Johnny Five wird von Garett „On the Road" Hedlund ultracool gegeben. Timberlake spielt hinter nerdigem Bart wieder richtig gut und bildet mit Carey Mulligan ein Duett im Stile des Trios „Peter, Paul & Mary".

Dass Llewyn die von ihm schwangere Jane oder eine Tochter, von der er nichts wusste, nur einen Seitenblick wert sind, charakterisiert treffend den ziellosen Künstler, der nur in seinem Auftritt ganz da zu sein scheint. Der Abschied vom pflegebedürftigen Vater ergibt zwar einen Song, doch ein paar große Emotionen in dessen Gesicht stellen sich ganz fies als Begleiterscheinungen der Verdauung heraus. Wir sind schließlich in einem Coen-Film!

Allerdings amüsierten die us-amerikanischen Regie-Brüder nur scheinbar musikalisch nichtig. Die Geschichte der Coens basiert frei auf dem Leben und der Biografie des Folk-Sängers Dave Van Ronk, der auch eine LP mit dem Titel „Inside Dave Van Ronk" einspielte. Das stilistische Meisterwerk bildet quasi die B-Seite, die Verlierer-Seite von Martin Scorseses Dylan-Geschichte „No Direction Home". Allerdings entstand mit Unterstützung von Marcus Mumford, Sänger und Songwriter der britischen Band „Mumford & Sons", entstand ein erlesener Soundtrack, der moderne und klassische Musiktraditionen verbindet. Und die Coens selber finden sich mit „Inside Llewyn Davis" in der Tradition ihres eigenen Künstlerfilms „Barton Fink" wieder.

Oldboy (2013)

USA 2013 Regie: Spike Lee mit Josh Brolin, Elizabeth Olsen, Sharlto Copley, Samuel L. Jackson, Michael Imperioli 104 Min.

Es war einst ein unglaublicher, unfassbarer, aufwühlender und verstörender Film: „Oldboy" vom genialen koreanischen Regisseur Park Chan-Wook („Stoker", „Durst", „I'm a Cyborg, But That's OK", „Lady Vengeance") erhielt in Cannes 2004 den Großen Preis der Jury. Jetzt folgt nach langem Hin und Her ein harmloses Remake durch den exzellenten us-amerikanischen Regisseur und Produzenten Spike Lee („Inside Man", „Malcolm X", „Do The Right Thing"). Dass der 2013er „Oldboy" immer noch hammerhart und zeitweise sehr unbekömmlich ist, bestätigt nur die Qualitäten des Originals, das auf einer Manga-Vorlage von Garon Tsuchiya und Nobuaki Minegishi basiert.

Der Verlauf blieb gleich: Joe Doucett (Josh Brolin), ein extrem unsympathischer, saufender und heftig fremdgehender Werbemann, findet sich nach noch einer durchzechten Nacht nackt in einem hermetisch verriegelten Hotelzimmer wieder. Hinter der Fensterscheibe gibt es nur per Bildschirm wechselnde Landschafts-Aufnahmen, auf einem Plakat höhnt ein schwarzer Page: „Können wir Ihren Aufenthalt angenehmer gestalten?" Der „Aufenthalt" dehnt sich von ein paar Tagen auf Monate und schließlich 20 Jahre aus. Das Aufbegehren weicht einer inneren und äußeren Abhärtungs-Strategie. Zwischendurch entsagt Joe dem Alkohol und erlebt in den Fernseh-Nachrichten, dass seine Frau vergewaltigt und ermordet wurde - angeblich von ihm. Seiner Tochter Mia schreibt er eine ganze Sammlung von Briefen, die auch nie das Zimmer verlassen. Als er völlig unerwartet frei gelassen wird, gibt ihm eine mysteriöse Figur (Sharlto Copley) zwei Fragen mit: Wer hat ihn 20 Jahre eingesperrt und weswegen?

Mit einer Liste der Leute, die er jemals verletzt hat, und dem Geschmack der chinesischen Teigrollen, die er täglich gegessen hat, auf den Lippen, sucht der Gequälte Rache. Hilfreich ist ihm dabei die Sozialarbeiterin Marie (Elizabeth Olsen), deren Helferkomplex sofort anspringt, als sie den verwirrten Joe kurz nach dessen Entlassung trifft. Doch wie bei den guten düsteren Detektivgeschichten wird Joe nur sein eigenes schreckliches Geheimnis entdecken...

Im direkten Vergleich zwischen Original und Fälschung zeigt sich, wie eingeschränkt Hollywoods Filmemachen selbst bei einem ehemaligen Rebellen wie Spike Lee doch ist. Alles wird simpler, stringenter, einfacher und eindimensionaler. Fantastische oder surreale Momente fielen weg. (Was auf Dauer ein Film-Illiteralität zur Folge hat. Wenn ein paar Auslassungen schon nicht mehr verstanden werden, wie in vielen Kritiken zu „The Counselor" geschehen, schrumpft das Kino-Angebot auf tägliches Weißbrot.)

Das Schlimmste dabei ist, dass der neue „Oldboy" sich auch zu einer moralischen Simplifizierung aufschwingt: Der Grund für alles ist im Original eine zerstörte Liebe, im falschen Remake ein verratenes Verbrechen. Nur ein paar der vielen faszinierenden Ideen haben überlebt, etwa dass die angebliche Freiheit nur ein größeres Gefängnis ist, mit den Mauern aus Schuld und Rache. Und selbstverständlich die hammerharte Gewalt. Wobei, weshalb Fleischstückchen aus dem Hals schneiden jetzt harmloser oder besser sein soll als Zähne ziehen, muss man wahrscheinlich Sigmund Freud fragen. Oder hat der „Marathon Man" in Hollywood das Copyright darauf? Einen Zahn muss man Spike Lee aber doch ziehen, diesen Film hätte er sein lassen sollen.