31.8.12

Venedig 2012 Bad 25 von Spike Lee

Schlecht war nicht alles, am 1987er-Album „Bad" von Michael Jackson - sagt selbst der Prince-Fan. Richtig gut macht allerdings erst Regie-Meister Spike Lee in seiner Jubiläums-Doku „Bad 25" klar, was die Scheibe an kulturgeschichtlicher Bedeutung trägt. 25 Jahre nach dem Rekord-Erfolg in Sachen Verkauf, Nummer-Eins-Hits und Konzert-Tournee, geht der geniale Regisseur und rabiate Kämpfer für die Rechte der Afroamerikaner alle elf Stücke der LP durch: "I just cant stop loving you", "Smooth Criminal", "Dirty Diana"… Lee bekommt für die Interviews extrem prominente Partner. Martin Scorsese drehte und kommentiert aktuell das U-Bahn-Video zu „Bad", mit dem Wesley Snipes bekannt wurde. (Mit Spike Lee drehte Snipes drei Jahre später „Mo' Better Blues".) Von Stevie Wonder bis Justin Biber huldigen viele ihrem Idol, aber vor allem der innere Kreis von Mitarbeitern um den legendären Produzenten Quincy Jones macht die Genialität und den enormen Arbeitsethos deutlich, mit dem Michael Jackson seinen eigenen Erfolg aufbaute. Außerdem gibt es langersehnte Erklärungen beispielsweise dafür, wer Annie ist, nach deren Wohlergehen sich „Smooth Criminal" erkundigt. (Eine Reanimations-Puppe.)

Dabei bleibt Spike Lee erstaunlich zahm und huldigt brav mit. Es bleibt lächerlich bis tragisch wie Jackson an seinem Image bastelt wie an seinem Gesicht. Gerade das Video zu „Bad" ist ein gutes Beispiel, wie das Jüngelchen mit der Piepsstimme und den zu kurzen Hosen vergeblich versucht, „tough" zu wirken. Dass der Star über eine enorme stimmliche Bandbreite verfügte, aber seine tiefe Stimme im Gespräch nicht nutzte, wird in einer der zu seltenen tiefergehenden Momente als Beleg gesehen, dass er nicht erwachsen werden wollte. Trotzdem ist Lees zweistündige Doku selbst für einen, der sich eher über Prince begeistert, ein detailliertes und bewegendes Stück Musik- und Zeitgeschichte. Und vielleicht auch ein populär-politisches, trojanisches Pferd im Sinne des Schlusssongs „Change".

Venedig 2012 At any price

Schuld und Ernte

Kleine Giganten kopieren Gen-Mais und amerikanische Filmgeschichte.

Venedig. Und sie wissen sehr wohl, was sie tun! Junge Filmemacher, die einen Dean gegen den Baum und gegen die Prinzipien des Vaters rasen lassen, haben ihren Stevenson gut studiert. Und hängen angesichts solcher "Giganten" die Vaterfigur sehr hoch. So bleibt im Wettbewerbsfilm „At any price" vom iranisch-stämmigen US-Amerikaner Ramin Bahrani das Ur-Amerikanische in der Geschichte einer kleinen Maisfarmer-Dynastie kraftlos. Zac Efron und Dennis Quaid sind Abziehbilder größerer Idole. Die Frauen und Affären an ihrer Seite (Heather Graham, Kim Dickens, Maika Monroe) können mehr überzeugen in einem Film, der den Schwebezustand nie verlässt. Dabei bricht alles zusammen: das Unternehmen der Familie Whipple, weil es die Copyright-Fesseln eines Konzerns gebrochen hat, der "das Leben patentierte". Die Rennfahrer-Karriere vom Sohn, Efrons Raser Dean. Und die Hoffnungen auf den anderen Erben, der lieber in Südamerika Berge besteigt. Dass erst ein Mord Vater und Sohn zusammenbringt, ist nicht unausweichlich, aber recht dramatisch. Neu ist nur der Wandel im Treibstoff auf der wirtschaftskritischen Ebene des Films: Vom Öl in Stevensons Klassiker "Giganten" zum Gen-Mais, der bald Biosprit sein wird und im Hintergrund drehen sich schon die Windräder. Dann werden auch die größten Haie, die mit ihrer Landrafferei andere Familien ins Verderben gestürzt haben, am Haken der Lebensmittel-Konzerne verenden. So erweist sich der Eröffnungsfilm „The Reluctant Fundamentalist" erneut als Schlüssel: Auch im Mais-Staat Iowa gibt es einen Fundamentalismus, eine Religion, die ins Verderben führt. "Grow or die", das Wachsen um jeden Preis („At any price") führt in die Tragödie, oder: zu "Schuld und Ernte".

30.8.12

Venedig 2012 Paradies Glaube

Mehr als Skandal: Das Kreuz mit der Religion

Österreicher Ulrich Seidl glaubt an die Provokation

Venedig. Jedes Festival braucht seinen Skandal und wohl dem, der einen Ulrich Seidl-Film im Wettbewerb hat: Nach dem eindimensionalen Trilogie-Auftakt über karibische Callboys mit „Paradies: Liebe" in Cannes, zeigt „Paradies: Glaube" - Gott, sei Dank! - in Venedig sehr raffiniert vielschichtig Glaubens-, Geschlechter- und Ehe-Krieg in einer peinlich aufgeräumten Österreicher Wohnung. Aber auch Flagellation gegen die Fleischeslust vor dem Kreuz und Masturbation mit demselben! Die Produzenten wollen den dritten Teil über Diäten-Wahn bei der Berlinale platzieren.

Anna Maria (Maria Hofstätter) ist nicht nur gläubig, sie liebt ihren Jesus - weil er doch so gut aussieht - bis zum Gutenachtkuss. In den Ferien bleibt sie zuhause und zieht mit ihrer Wander-Madonna durch die Häuser, um mit den Menschen zu beten. Regelmäßig wie ihr ganzes aufgeräumtes Leben ist, trifft sich die Gebetsgruppe Legio Herz Jesus bei Anna Maria. Als „Sturmtruppen und Speerspitze des Glaubens" schwören sie, dass Österreich wieder katholisch wird. Klingt fundamentalistisch faschistisch und nach leichtem Fressen für Religionskritiker. Doch dieses einfache Glaubens-Opfer nimmt Regisseur Seidl („Import/Export", 2007; „Jesus, Du weißt", 2003; „Tierische Liebe", 1996) nicht an. Er bringt der Anna Maria nach zwei Jahren wieder ihren Ehemann ins Haus: Den querschnittsgelähmten Moslem Nabil, der bald weinerlich um etwas Sex bettelt. Nun ist die extremistisch Gläubige nicht nur im Konflikt zwischen zwei Männern - Jesus und Nabil. Auch Barmherzigkeit und Keuschheit kämpfen unter ihren Brüsten. Obwohl die Mischung aus Vorwürfen und Jämmerlichkeit schwer erträglich ist, bleibt Trennung undenkbar: „In allen Religionen ist es deine Pflicht, für mich zu sorgen", weiß Nabil. Leider steht seine Macho-Position auf schwachen Beinen, um es im provokant direkten Stile Seidls zu sagen. Mitleid für einen impotenten Behinderten, der doch noch die Vergewaltigung versucht? Bewunderung für die Standfestigkeit einer völlig durchgeknallten religiösen Eiferin? Nein, der oft halb-dokumentarisch arbeitende Seidl stellt nicht einfach nur bloß in seinen, passend zum Ordnungswahn Annas streng symmetrischen Bildern. Wenn die Katholikin mit dem Moslem nach vielen kindischen Gemeinheiten raufend am Boden liegt, kann man nicht mehr auseinanderhalten, ob es hier um Religionen, Geschlechter oder In- und Ausländer geht. So wie der Name Anna lässt sich der Film von allen Seiten lesen. Dabei sorgten die skurrilen extremistischen Handlungen der penetranten Missionarin immer wieder für große Heiterkeit. Beim Glauben kennt Seidl, der selbst eine harte religiöse Erziehung durchleben musste, sich aus. Ein doppelbödiges Vergnügen, ein Gewinn im Wettbewerb. Das Urteil des Kollegen vom Osservatore Romano steht allerdings noch aus, hoffentlich muss der vatikanische Kritiker nicht unter Protest seine Badehose einpacken und zurück in den Schoß der Kirche.

Venedig 2012 Superstar und Serienkiller

Die französischen Superstars Kad Merad („Willkommen bei den Sch'tis") und Cecile de France („Der Junge mit dem Rad") konnten die oberflächliche Medienkritik „Superstar" von Xavier Giannoli nicht davor retten, die erste Enttäuschung im frühen Wettbewerb abzuliefern. Außerhalb des Löwen-Rennens hingegen sorgte ein eisiger Serienkiller für große Begeisterung im nicht nur für „The Iceman" stark heruntergekühlten Pressekino: Der erst vierte Film, des 1973 in Israel geborenen Ariel Vromen („Visions - Die dunkle Gabe") hat atemberaubende Starpower, eine knallharte Gangsterstory und ein Psychodrama, das in dieser Kombination Seinesgleichen sucht. Man könnte direkt Scorsese zum Vergleich heranziehen, aber vor allem Michael Shannon, der den Massenmörder Richard Kuklinski als sensiblen Psychopathen und Familienmensch zeigt, macht „The Iceman" zu etwas Speziellem. Ray Liotta als Gangsterboss, James Franco als Kuklinskis Kumpel und Winona Ryder als seine Frau komplettieren den Kino-Genuss.

Venedig 2012 Franziska Petri begeistert als russische Verführerin

Geht ein Mann zum Arzt, sagt die Ärztin (Franziska Petri): Mein Mann betrügt mich mit ihrer Frau. Diese Info bringt das EKG durcheinander, ebenso wie der surreale Unfall, dem der Mann danach nur knapp entgeht. Der „Betrug" (Originaltitel: Izmena) des Russen Kirill Serebrennikov betrügt als erster Wettbewerbsfilm erst einmal die Erwartungen mit rätselhaften Entwicklungen. Gleichzeitig verführt er sein Publikum mit aufreizenden Darstellern und Bildern. Tatsächlich kommen die Ärztin und den Mann in einem futuristischen Hotel zusammen, nur um zu sehen, wie sich ihre Partner auf dem Balkon darunter vergnügen. Dass die Ehebrecher eine Szene später mehrere Etagen tiefer eng umschlungen und mit dem Geländer unter sich, tot aufgefunden werden, ist nicht mal der originellste Twist dieses subtil erotischen Schuld und Sühne-Thrillers. Filmisch sensationeller Wendepunkt dann der Gang der Ärztin durch einen Wald, ihr Umziehen mit zufällig gefundenen Kleidern und das Heraustreten auf die Straße fünf Jahre später. Hier kann jemand Film und lässt es uns deutlich sehen.
Die 1973 in Leipzig geborene Franziska Petri kann schon jetzt als Entdeckung des Festivals verbucht werden. Nach vielen TV-Rollen von „Donna Leon" bis „Lasko" und einigen bemerkenswerten Kinoauftritten, etwa in „Das Herz ist ein dunkler Wald", hatte sie gestern ihren Auftritt auf der großen internationalen Bühne. Sie beeindruckt dabei sehr, erst durch mysteriöse Kühle, dann als leidenschaftliche Liebhaberin mit Einlagen verträumter Abwesenheit. Bei dem preisverdächtig guten Spiel war sogar noch Petris Russisch gut - das kam allerdings aus dem Synchronstudio.

29.8.12

Venedig 2012 Wenn die Gondeln Filmstars tragen...

Wenn die Gondeln Filmstars tragen...

Von Günter H. Jekubzik

Venedig. Die Jury um Regisseur Michael Mann ist eingeflogen, Kate Hudson wird für den großartigen Eröffnungsfilm „The Reluctant Fundamentalist" erwartet, wobei das Warten in Venedig seinen besonderen Reiz hat. Malerisch am Kanal zu verharren und hoffnungsvoll auf die Wassertaxis zu blicken, die das Festivalgelände am Lido anlaufen, hat viel mehr Charme, als einfach hinter einem Gatter irgendwo in Cannes oder Berlin zu stehen. Der Auftakt der 69. Filmfestspiele Venedigs ist mit einem sehr diversem Dreiklang gelungen. Der Liebes-Polit-Thriller von Mira Nair und ein Ausflug von Jonathan Demme in die World-Music wurden von „Bait", einer Trash- und Splatter-Beilage aus Australien, abgerundet.

Mira Nair, die mit „Monsoon Wedding" einen Goldenen Löwen gewann, legt eine komplexe Eröffnungsszene hin. Die Entführung eines amerikanischen Professors, der im pakistanischen Laore lehrt, geht einher mit einer lokalen Feier und „göttlicher Musik". Während nun der CIA Verdächtige für die Entführung beobachtet, interviewt der Journalist Bobby (Liev Schreiber) den ehemaligen Wallstreet-Mitarbeiter Changez Khan (Riz Ahmed), der nach den Anschlägen vom 11. September und der folgenden Diskrimierung frustriert nach Pakistan zurückkehrte. Ist aus dem jungen Mann, der die USA liebte, halbe Belegschaften feuerte und den Gott des Kapitalismus anbetete, ein Glaubenskrieger geworden? Ein spannendes Gespräch und Duell zwischen zwei Männern, die beide sozialen Wandel wollen, aber andere Wege einschlugen. Neben Riz Ahmed, der als weiser junger Aussteiger nachhaltig beeindruckt, spielt auch Kate Hudson als dessen große Liebe sehr, sehr gut. Eine nuancenreich erzählte Geschichte unserer Zeit auf der Basis eines Romans von Mohsin Hamid, ein ergreifender Liebes-Film, ein kluger politischer Thriller - so gut kann Kino sein. Mira Nair, die in „The Namesake - Zwei Welten, Eine Reise" 2006 eine ähnliche Geschichte der Entwurzelung etwas weniger radikal und gut erzählte, spendiert Venedig die perfekte Eröffnung.

Das Reden über Musiker
Wieso dreht Jonathan Demme, der Regisseur von „Das Schweigen der Lämmer" und dem Neil Young-Konzertfilm „Heart of Gold" (2006)
eine Dokumentation über den neapolitanischen Musiker Enzo Avitabile? Nach „Enzo Avitabile Music Life", dem wunderbaren Film über den Weltmusiker stellt sich die Frage nicht mehr: Der geniale Saxophonist und Komponist ist in Sessions mit anderen Musiker aus vielen Ländern zu erleben. Avitabile und Demme erzählen dabei auch vom Leben in Neapel, von universellen Rhythmen und ethnisch verschiedenen Tonleitern. Wenn da der Kubaner Eliade Ochoa und der Iraner Naseer Shamma mit dem im lokalen Dialekt singenden Avitabile zusammen spielen (und Demme die Stücke respektvoll bis zum Ende wiedergibt), ist auch das ein gutes Sinnbild, für die internationale Gemeinschaft eines Filmfestivals - nur da läuft nicht alles gleichzeitig und kann ganz verschieden gut klingen.

Obwohl beim Hai-Horrorfilm „Bait 3D" von Kimble Rendall (dt. Start im Dezember) sicher herrlich über die Berechtigung von solchem Unterhaltungskino im Festival diskutiert wird. Doch auch das gehört zum Spiel dazu.

28.8.12

Venedig 2012 Venedig strömt sich weg

Zum Auftakt gab es als sündiges Vergnügen auch noch den Horrorfilm „Bait 3D" von Kimble Rendall (dt. Start im Dezember), in dem ein Tsunami ein paar Australier in einem Supermarkt einsperrt - zusammen mit einem weißen Hai in 3D! Soll damit etwa verhindert werden, dass Festivalgäste in der Mittagspause im lauen Wasser der Adria schwimmen gehen? Die große Welle ist auf dem Lido eher nicht zu befürchten, der Inselstreifen soll sogar zusammen mit benachbarten Küsten die Lagune dahinter vor Hochwasser schützen. Doch das Festival bedroht sich stattdessen selbst mit einer neuen Strömung: Das Streaming von 10 Filmen und 13 Kurzfilmen der Reihe „Orrizonti" beweist, dass hier jemand einen beschränkten digitalen Horizont hat. Täglich kann man also online Filme des Festivals sehen, zeitgleich mit den öffentlichen Vorführungen. Das neue Kino namens „Web" ist allerdings auf 500 Personen pro Vorstellung beschränkt, die jeweils 4,20 € für ihr „virtuelles Ticket" zahlen sollen. Mit dieser Beschränkung läuft die Aktion dem Geist des Internets zuwider und gräbt gleichzeitig dem einzigartigen Festivalcharakter solcher Premieren das Wasser ab. Weshalb noch die extremen Zimmerpreise zahlen, wenn der Film ja auch auf dem Rechner läuft? (Die ausführende Site Festivalscope.com entwickelt sich sowie gerade als Festivalersatz-Mediathek.) Und mit 2100 € Einnahmen pro Film kann der Veranstalter wahrscheinlich gerade mal den Server für solche Bandbreiten bezahlen. Eine katastrophale Idee, die man schnell an die Fische verfüttern sollte. (ghj)
www.labiennale.org

Am Ende eines viel zu kurzen Tages

BRD, Irland, Österreich 2011 (Death of a Superhero) Regie: Ian FitzGibbon mit Andy Serkis, Thomas Sangster, Aisling Loftus, Michael McElhatton 97 Min. FSK ab 12

Ein Feuerwerk starker Szenen und Zeichnungen charakterisiert den Teenager Donald Clarke (Thomas Sangster). Der 15-jährige Krebskranke verschließt sich aus Angst vor dem Tod, zeichnet Comics mit düsteren Superhelden, spielt Selbstmorde durch und treibt seine Eltern zur Verzweiflung. Die Chemotherapie hat ihn kahl gemacht. Rechtlich ist er längst nicht mehr zurechnungsfähig, kann also seine Graffiti großflächig in der Stadt verteilen. Erst „Psycho Nr. 6"Dr. Adrian King (Andy Serkis), der sich sehr für seine Zeichnungen interessiert, kann zu Donald vordringen. Obwohl er erstaunlicherweise nicht viel macht.
Nach einem Drehbuch von Anthony McCarten, der seinen eigenen Roman „Superhero" adaptierte, entstand diese energische Mischung aus Realfilm und Animation. Super gespielt, behandelt der Film ohne Klischees den schwierigen Umgang mit Krankheit und Tod.
Jessica Schwarz hat übrigens eine kleine Rolle als Prostituierte, bevor sie nächste Woche in „Heiter bis wolkig" selbst eindrucksvoll die Patientin spielt.

27.8.12

The Exchange

Israel, BRD 2011 (Hahithalfut) Regie: Eran Kolirin mit Rotem Keinan, Sharon Tal, Dov Navon, Chirili Deshe 98 Min. FSK ab 12

Eran Kolirin hat „Die Band von Nebenan" gedreht, diese herrliche Reise eines Orchesters ins Nirgendwo, kann sich also einiges in Sachen Komödie und spöttischem Blick auf Israel und seine Nachbarn zugute halten. Diesmal siedelt er eine kafkaeske Geschichte in Tel Aviv an: Ein junger Wissenschaftler vergisst seine Tasche zuhause und kehrt zu einer ungewöhnlichen Zeit nach Hause zurück. Er erwischt seine Wohnung dabei, irgendwie anders zu sein als sonst. Von nun an bewegt er sich unmerklich neben den normalen Leben und findet sogar einen Mitbewohner, der diese seltsame Kunst schon länger ausübt und perfektioniert hat. „The Exchange", der von der Kölner Pandora-Film koproduziert und teilweise in Hanau gedreht wurde, wirkt stellenweise wie eine Mischung aus Kafka, Loriot und auch Kishon. Eran Kolirin zeigt das nicht besonders flott oder prickelnd, aber das Abseitige hat durchaus seinen Reiz.

26.8.12

The Cabin in the Woods

Scope. USA, 2011 (The Cabin in the Woods) Regie: Drew Goddard mit Kristen Connolly, Chris Hemsworth, Anna Hutchison, Fran Kranz, Jesse Williams, Richard Jenkins, Bradley Whitford 95 Min. FSK ab 16

Teenie-Horror wird hier reihenweise in den Papierkorb geschrieben, weil er zu den einfallslosesten Genres des Kinos gehört und es außerdem viel zu viel davon gibt. Mit diesen Vorbehalten im Gepäck ging es zu „The Cabin in the Woods" und schon in der ersten Szene überrumpelt der sehr außergewöhnliche Film alle Vorurteile. Der übliche Horror reflektiert sich postmodern und erinnert an Michael Christons „Westworld" mit Yul Brunner.

Die (frisch gefärbte) Blonde Jules, der Football-Star Curt, der komisch näselnde Kiffer Marty, der vernünftige, neue Freund Holden und das brave Mädchen Dana. Wenn so ein Set an amerikanischen Studenten ein Wochenende zusammen verbringen will, noch dazu in einer einsamen Hütte im Wald, ist klar, was kommt: Schreien, Rennen, Abstechen. Teenie-Horror. Aber was hat das diesmal mit den zig Wissenschaftlern zu tun, die mit gestärkten Hemden, wie Comedy-Stars scherzend, in einer aufwändigen unterirdischen Anlage ein Experiment vorbereiten? An der letzten Tankstelle vor der Wildnis verabschiedet die fünf ein gefährlich griesgrämiger Hinterwäldler, genau wie in „Tucker & Dale vs Evil". Das Team in der Forschungszentrale nimmt derweil Wetten an...

Oben beginnen die Spannungsmomente beim heftigen Knutschen mit dem ausgestopften Wolfskopf an der Wand. Im Keller entdecken die Studenten gleich haufenweise Horror-Utensilien, die man eins für eins nicht anfassen, lesen, sehen, aussprechen oder sonst was sollte. Doch einer muss sich ja in Latein versuchen und schon kriechen Zombies aus dem Waldboden. Damit ist die Abteilung Unterhalt beim Wetten siegreich. Die Monitore von den anderen Versuchsstationen zeigen ein Scheitern für das brennende Berlin und in Tokio einen Geist aus dem Arsenal des J-Horrors, der kleine Schulmädchen erschreckt. Es bleibt rätselhaft.

Klar, hier findet ein Experiment statt und die Studenten sind Laborratten in Horror-Umgebung: Wenn es mit dem Paarungsdrang der jungen Menschen nicht von alleine klappt, hilft man mit Pheromon-Nebel nach. In hervorragender Bildqualität erfreuen sich die Zuschauer dank zahlloser Minikameras an den bloßgelegten Brüsten, bevor die Zombies blutig zuschlagen und die Versuchsleiter doch leicht erschrocken ein Gebet aussprechen. (Klasse: Richard Jenkins als Oberwissenschaftler!) Dann kippt die ganze Sache wieder vom absurd Rationalen ins Mystische, wenn einer der Herren mit den gestärkten Hemden rituell Blut in eine Form fließen lässt.

Wenn „Scary Movie" eine Horror-Parodie des Postmodernen war, wird in „The Cabin in the Woods" gezeigt, wie Wissenschaftler mit Horrorfiguren spielen. Genau wie es Filmemacher sonst für das Publikum tun. (Unter anderem wird endlich das unerklärliche Verlangen erklärt, sich in gefährlichen Situationen entgegen aller Vernunft zu trennen. Eine Verblödungsdroge in Gasform ist schuld.) Regisseur Drew Goddard und sein Ko-Autor Joss Whedon haben reichlich Erfahrung aus bester Schule bei „Lost", „Buffy", „Alias" oder „Angel" und bauen nun ein riesiges Rechenzentrum für die größte Show der Welt - nach der Truman-Show? (Ein neuer Wachmann heißt übrigens Truman.) Doch wer sind die geheimnisvollen Auftraggeber? Was ist das Ritual und wieso muss eine Jungfrau dabei sein?

Während das Team schon feiert und sich die Überstunden ausrechnet, drehen Dana und Marty als Superheld mit ausschiebbarem Thermosbecher-Bong das Spiel eine Ebene weiter. Wie auch in „Panem" und „Truman Show" sind sie klug genug, die Spielregeln zu brechen und landen in einem Cube-Labyrinth des Schreckens. In einem genialen Schachzug öffnen sie die Aufzugpforten der Höhle ins Innere und lassen eine Armee aus Alptraum-Gestalten auf die Experimentatoren los. (Selbst ein Einhorn erweist sich dabei als gar nicht so süß!)

Wenn dann Sigourney Weaver wieder mal das Schicksal der Menschheit in ihrer Hand hat, könnte man sich fragen, ob der ganze Horror-Scheiß, der die Kinos überflutet, nicht doch einen tieferen Sinn hat. Hier schlummern ganz unten riesige Urzeit-Wesen, die beruhigt werden wollen. Gemäß Küchen-Psychologie besänftigt der in experimenteller Reinraum-Klinik (Kino) erzeugte Schauder tiefere und größere Ur-Ängste. Man muss nicht so tief in den Eingeweiden der Seele wühlen - während die Monster mit anderen Innereien das Labor rot einfärben. Allein das Angebot des Denkens auf mehreren Ebenen macht diesen raffinierten und spaßigen Horror außergewöhnlich.

24.8.12

Holy Motors

Frankreich, BRD 2012 (Holy Motors) Regie: Léos Carax mit Denis Lavant, Edith Scob, Eva Mendes, Kylie Minogue, Elise Lhomeau, Michel Piccoli, Jeanne Disson, Léos Carax, Nastya Golubeva Carax, Reda Oumouzoune, Zlata, Geoffrey Carrey, Anabelle Dexter Jones 115 Min.

Der beste Film von Cannes 2012 hat leider keinen Preis bekommen: Mit „Holy Motors" zeigt Leos Carax einen sensationellen Trip in Film- und Fantasie-Welten. Geheimnisvoll wie David Lynch, immer wieder stark wie ein genialer Video-Clip. Mythisch, magisch und unvergesslich eindrucksvoll.

Monsieur Oscar (Denis Lavant) verabschiedet sich am Morgen von seinen Lieben. Die Stretch-Limousine mit Fahrerin Celine (Edith Scob) wartet mit wichtigen Terminen. Monsieur Oscar, ein Firmenboss, ein Politiker oder Banker? Ein erster Stopp verwirft das lineare Erzählkonzept, denn auf einer der Seine-Brücken von Paris bettelt Monsieur Oscar bis zur Unkenntlichkeit verkleidet als bucklige, alte Frau in folkloristischen Lumpen. Zum Nachdenken bleibt kaum Zeit, denn ein paar Ecken weiter stürmt der Protagonist aus der Limousine und attackiert Menschen in einem Straßen-Café. Dann zieht er sich wieder im Wagen um, mit engem Body-Suit tanzt er, nur über aufgeklebte Punkte erkennbar, in einer Blackbox einen erotischen Paarungs-Akt. Danach entführt das zwergenhafte Märchen-Monster Monsieur Merde, die nächste Figur, ein Fotomodell (Eva Mendes) vom Shooting auf dem Friedhof in die Katakomben unter der Stadt. Ein weiterer Schlüsselmoment für die Rolle(n) Oscar, der wie ein Auftrags-Mörder Mappen seiner Zielpersonen studiert, ist ein gespiegelter Mord an sich selbst. Oscar stürmt in eine Werkstatt, sticht einen groben Mann mit Schnurrbart nieder, um sich dann mit Schminke und Verkleidung in diesen zu verwandeln, währenddessen irgendwann der Erstochene den ersten Angreifer ersticht. Ein verwirrendes Vexierbild, aus dem sich auch Oscar nur schwer verletzt retten kann.

„Holy Motors" ist ganz großes Kino und spielt auf faszinierende Weise mit Erwartungen und Gefühlen. Gerät dabei aber nie zu einer Nummernrevue, immer bleibt man Monsieur Oscar emotional verbunden, auch wenn man nicht weiß, wer er ist. Redet er vielleicht mit seiner eigenen, scheuen Tochter, die er von einer Party abholt? Ist es wahre Liebe, die sich nach Jahren in einem verlassenen Kaufhaus wiedertrifft? Oder ist die Kollegin im Trenchcoat (Kyle Minogue) auch nur ein Auftrag? Beim Nachdenken verwindet sich der Film immer wieder in sich selbst wie eine Möbiusschleife: Das Leben inszeniert sich selbst. Alles ist ein Spiel. Aber wer sind dann die Schauspieler? Und wo gehen sie abends hin? Das kann man - gerne auch bei mehrmaligem Genuss dieses Kino-Universums - herausfinden. Eindeutig beantwortet wird nur die Frage, wo all die Stretch-Limousinen abends sind: In einer riesigen Garage unter der Leuchtschrift „Holy Motors" unterhalten sie sich über ihren Tag und ihre seltsame Fracht. Ein Cronenberg-Moment, der sein darf, denn dieser Carax ist Kino pur und auch fantastische Kino-Geschichte.

Leos Carax, der nach den sensationellen Filmen „Boy meets Girl" (1983), „Die Nacht ist jung" (1986), „Die Liebenden von Pont-Neuf" (1991) sowie dem Flop „Pola X" (1999) lange von der Bildfläche verschwand, meldet sich mit einem großen Meisterwerk zurück. „Holy Motors" ist dabei auch der Film von Denis Lavant, der in elf Rollen und Verkleidungen auftritt. Schon 1991 in „Die Liebenden von Pont-Neuf" von Carax begeisterte der drahtige Künstler. „I just can't get you out of my head" hört man Kyle Minogue irgendwann in „Holy Motors" singen und nach ihrer atemberaubenden Szene bekommt man sie genau so wenig aus dem Kopf wie die Erklärungsversuche dies existenzialistische Kinospiel mit seinen wunderbaren Szenen.

To Rome with Love

Italien, Spanien, USA 2012 (To Rome with Love) Regie: Woody Allen mit Woody Allen, Penélope Cruz, Alec Baldwin, Roberto Benigni, Judy Davis, Jesse Eisenberg, Ellen Page, Greta Gerwig, Ornella Muti 112 Min.

Woody Allens Europa-Tour zum Einsammeln von Fördergeldern wird nach London, Barcelona und Paris jetzt in der Ewigen Stadt der Liebe fortgesetzt. Und wenn die Kritik so beginnt, kann der Film nur verlieren, denn große Romanzen werden vom komischen Zyniker höchstens demontiert. Ein paar nette Episoden unterhalten leidlich; die eine Szene, die Filmgeschichte schreiben wird, ist völlig absurd. Doch nach „Midnight in Paris" konnte es schwerlich besser werden. Also: „Mäßig in Rom".

„Volare" - es ist so einfach, in italienische Gefilde abzuheben, ein Klischee auf der Tonspur, ein paar andere im Bild (Colloseum, Piazza di Spagna, Monumento Vittorio Emanuele II) und fertig ist die Stimmung... Sollte sie jedenfalls sein. Aber weder dem unbekannten Verkehrspolizisten am Anfang noch dem Anwohner der „Spanischen Treppe" im letzten Bild nimmt man die Rom-Begeisterung ab. Letztendlich auch nicht Woody Allen.

So bleiben eine Reihe von Episoden mit Einheimischen und Eingeflogenen: Allen selbst kommt als neurotischer Schwiegervater zur Hochzeit seiner Tochter, die einen linken römischen Anwalt liebt. Während diese Beziehung völlig emotionslos am Rande verläuft, stürzt sich Allens Figur Jerry, ein verschrobener Opern-Regisseur im Ruhestand, auf den Vater des Bräutigams. Michelangelo (Tenor Flavio Parenti) schmettert nämlich Arien wie ein großer Meister - unter der Dusche. Den scheuen Bestatter groß rauszubringen, scheitert zuerst, dann wird die Duschkabine auf die Bühne gebracht und der Film hat seine beste Szene gefunden. Ein Bajazzo, der nackig unter der Brause heraus mordet, der wird Filmgeschichte machen. Und irgendwie hätte man auch gerne Jerrys andere Flops gesehen, „Tosca" in der Telefonzelle beispielsweise. Den typischen One-Liner dazu liefert seine Ehefrau (Judy Davis), die praktischerweise auch seine Analystin ist: Ruhestand ist für ihn wie in der Kiste, deshalb zieht er jetzt einen Bestatter aus der Kiste.

Woody listet zwar wieder eine eindrucksvolle Reihe von Stars auf, wirklich Eindruck macht aber kaum einer. Penélope Cruz spielt die Prostituierte Anna in einer boulevardesken Verwechslung routiniert runter. Sie kann viel dreckiger und war in „Vicky Cristina Barcelona" unvergleichlich besser. Alec Baldwin besucht als Star-Architekt John seine eigene Vergangenheit in Trastevere. Er beobachtet altersweise, wie sein junges alter ego (Jesse Eisenberg) den schalen Verführungen der prätentiösen und unbeschäftigten Schauspielerin Monika (Ellen Page) verfällt und seine Liebe Sally (Greta Gerwig) betrügt. Ein sarkastischer Kommentar zu albernen Gefühlsregungen ist Allens Antwort auf Rom-Klischees.

Die Einheimischen (Stars) dürfen nur Abziehbilder abliefern: Beim Auftritt von Ornella Muti wird Rom plötzlich zur Filmszene. Roberto Benigni erlebt als kleiner Büroangestellter Leopoldo für ein paar Tage surrealen Medienruhm und albert in dieser angestrengten Parabel nervig herum. Dass der Film von Berlusconis ungeliebter Produktionsfirma Medusa hergestellt wurde, ist dabei der eigentliche Medienwitz. Ansonsten hätte eine durchgehende, richtig ausgearbeitete Geschichte dem Rom-Ausflug gut getan. Aber vielleicht hat sich der Senior Allen auf seiner italienischen Reise ansonsten gut unterhalten.

23.8.12

Step up: Miami Heat

USA 2012 (Step Up Revolution / Step up 4 3D) Regie: Scott Speer mit Ryan Guzman, Kathryn McCormick, Misha Gabriel, Peter Gallagher 97 Min.

„Step up Revolution" heißt die vierte Auflage im Original. Revolution und eines dieser Tanzfilmchen, die Jugendliche höchstens dazu bewegen, sich für irgendein TV-Casting zu melden? Abwegig, aber nicht völlig. „Step up: Miami Heat", so der deutsche Titel, erzählt zwar nur die triviale Geschichte des ehrlichen Jungen und des reichen Töchterleins. Aber die Tanz-Szenen haben es in sich: Die typische Straßen-Szene seit „Fame" läuft diesmal direkt als Auftakt und Flash Mob am Ocean Drive mit ausgewechselten Autos und Rhythmen.

Der Kellner Sean (Ryan Guzman) ist dabei ein auch von der Polizei gesuchter Tänzer. Seine Schicht dauert nicht länger als 10 Sekunden, dann wird im Beach Club des Restaurants weiter getanzt. Die schöne Unbekannte, die dort nach einer heißen Sohle plötzlich wie Aschenputtel verschwindet, ist selbstverständlich Emily (Kathryn McCormick), Tochter des großen Magnaten Mr. Anderson (Peter Gallagher). Das Team von „The Mob" will mit möglichst vielen Hits einen You Tube-Preis gewinnen, das Prinzesschen muss sich in der Auswahl für eine Tanz-Compagnie bewähren. Klassisch dass sie dazu den Clash aus Standards und Street Style, aus Klassischem und Originellem braucht.

Als ein altes Viertel Miamis für Spekulanten platt gemacht werden soll, meint ausgerechnet die reiche Tochter, dass (Tanz-) Kunst politisch werden muss. Den eindrucksvollen Tanznummern im Restaurant und - mit viel Trompe-l'œil - im Museum folgt ein toller Tanz-Protest von Banker-Anzügen in der Stadtverwaltung. Dann spielt „Step Up" die Spaltung fast jeder politischer Bewegung in gewaltfrei und aggressiv nach. Bevor das Filmchen aber zu „rough" (oder RAF) wird, konzentriert es sich darauf, Liebe und Freundschaft wieder zu kitten. So endet auch das soziale Märchen gut, ohne dass man politisch aktiv sein muss, und die Karriere hebt ab, ohne dass allzu lang für die Choreografien trainiert wird. Die Versöhnung zwischen Kapital und Hand (oder hier: Fuß) im Stile von Metropolis findet in einem großen, bewegten Finale an den Docks statt.

„Step Up" oder „Street Dance", die Titel sind austauschbar wie Dramaturgie und Aufbau. Selbst Typen wie „väterlicher Wirt" ähneln sich. Romantik, karibische Rhythmen, immer wieder etwas „Dirty Dancing" im Gegenlicht, wie gehabt. Das 3D hat zeitweise einen Hauch von der Bewegungs-Intensität im Raum wie bei Wenders' „Pina", gelungen. Doch der politische Diskus ist auffällig. Ebenso, wie im Tanz massiv Elemente von Staats-Gewalt parodiert werden. Vielleicht bewegt diese zappelige Bewegung ja wirklich was: Steppt Stuttgart 21, rappt den Rettungsschirm, tanzt die Postdemokratie!

The Expendables 2

USA 2012 (The Expendables 2) Regie: Simon West mit Sylvester Stallone, Jason Statham , Liam Hemsworth, Bruce Willis, Arnold Schwarzenegger, Jean-Claude Van Damme, Jet Li 103 Min.

Weil die Banken nie genug bekommen, müssen alle anderen länger arbeiten. Besonders schmerzlich ist das im Falle von Action-Opas wie Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger. Nach dem schon unsäglichen Auftakt mit „Expendables" müssen die im wahrsten Wortsinne Überflüssigen nun wohl die Renovierung ihrer Pools und vielleicht noch ein paar Alimente abbezahlen. Deshalb gibt es mehr rohe Action und Krach. Keine Erklärungen, eine kurze Ortsangabe, die bekannten Action-Visagen und ein Haufen Menschen, die eine fremde Sprache sprechen. Dann fliegen schon Blut und Fleischfetzen durch die Luft, dazu ein paar lustige Sprüche - massen-morden soll ja Spaß machen. Als erstes befreien die Söldner um Stallone Schwarzenegger. Die folgende Suche nach Plutonium in falschen Händen (das sind die, die nicht mit kleinen Dosen davon die eigene Bevölkerung vergiften) ist fast so alt wie die Halbwertzeit von diesem strahlenden Gift. Die Vorgestrigen führen immer noch gegen den Ostblock Krieg, auch mal in den Kulissen eines Fassaden-New Yorks, die für den Kalten Krieg irgendwo vom gegnerischen Militär aufgebaut wurden. Zu diesen grunddebilen Konzepten gehört auch, dass die Gegner nie und die Mörder in Protagonisten-Rolle immer treffen. Trotzdem bleibt erschreckend, wie viele Menschen umgebracht werden, damit sich ein paar Anabolika-Idioten gut fühlen. „Expendables 2" bleibt ganz grobschlächtiges, extrem unmodernes Action-Kino mit ein paar gesichtsgelähmten Schauspielern, denen das Rentenalter keineswegs mehr Ausdruck verliehen hat. Dazu A-Team-Einlagen und total witzig inszenierte, lahme Auftritte so genannter Legenden. Das einzige, was nicht völlig verstaubt daher kommt, ist ein Chuck Norris-Witz in Filmform. Und eine Frau, die klüger als all die muskelbepackten Schrumpfhirne agiert.

20.8.12

ParaNorman

USA 2012 (ParaNorman) Regie: Sam Fell, Chris Butler 93 Min.

Ein Zombie-Film für Kinder? Ja, aber wie! Der elfjährige Norman schaut wieder einmal Zombie-Filme mit seiner blinden Großmutter. Die gutmütige Oma klagt über kalte Füße - klar, sie ist ja auch schon eine Weile tot. Nur Norman kann sie sehen und mit ihr reden. Was sein Vater gar nicht gut findet. Da der stille Einzelgänger Norman auch alle anderen Toten sieht, die durch ein schreckliches Ereignis umkamen oder noch etwas zu erledigen haben, ist er in der Schule ein verspotteter Außenseiter. Norman schaut so viel Horrorfilm, dass ihm die Haare einfach dauernd zu Berge stehen. In seinem Zimmer gibt es haufenweise Horror-Figuren und Bilder, in die die herrlich spaßig-schaurige Stop-Motion-Animation fröhlich einblendet. Lustig ist „ParaNorman" sowieso meistens, zum Totlachen wie die besten Zombie-Späße. Und zum Erschrecken, denn die lebenden Toten rufen ja immer die Monster in den Menschen hervor.

Denn in letzter Minute (seines Lebens) vererbt Normans verschrobener Onkel Prenderghast, der von der Familie ferngehalten wurde, dem Junge eine Aufgabe: Um das Örtchen Blithe Hollow, das viel Rummel um eine Hexe macht, vor einem Fluch von eben dieser zu retten, soll der Junge am Grab der Hexe in einer bestimmten Nacht ein Märchen lesen. Die legendäre Nacht kommt mit düsteren Wolken, Norman kann dem Hausarrest entwischen, entreißt das Buch in einem umwerfend komischen Totentanz den Händen seines verblichenen Onkels und weiß dann nicht, wo das Grab der Hexe ist. Deshalb kriechen die sieben Richter, die vor 300 Jahren ein schändliches Urteil sprachen, als Zombies aus dem Friedhofsboden und sorgen in der Stadt für heftigen Aufruhr.

Man kann sich die Augen ausschauen an den tollen Zombies und den nicht minder gemein karikierten Dörflern. Augen fallen auch mal von selbst aus, mal ist ein rechter Richter-Arm dran, dann wieder ab. Der abbe Arm hält aber bei der Jagd auf Norman für die anderen Zombies die Augen auf. Kleine Details und Szenen-Zitate belegen eine Begeisterung für das Genre, die aber nicht davongaloppiert, ohne auch noch ein paar gute Gedanken fürs Leben mitzunehmen.

Die Hexenjagd mit Massenaufläufen und Lynchgelüsten in dem klugen Kinderfilm „ParaNorman" unterscheidet dieses handwerklich herausragende Vergnügen von plumpen Horror-Klamotten und -Satiren. Denn vor 300 Jahren wurde ein Mädchen, das genau wie Norman die Toten sah, als Hexe ermordet. Der Junge versteht besser als die Erwachsenen, dass es die Angst der anderen vor den besonderen Fähigkeiten war, die zur Gewalt führte. Und dass jetzt wieder die Angst des kleinen Mädchens das Dorf heimsucht. Selbst Zombies sind ziemlich menschlich, wenn man ihnen mal ohne Angst in Ruhe zuhört! So wie Norman die kleine Hexe mit einem Märchen beruhigen soll, ist „ParaNorman" selbst ein Märchen, ein modernes - mit dessen Grausamkeiten und Wahr- und Weisheiten. Der kluge Spaß mit den grandios animierten Figuren könnte von Tim Burton sein, stammt aber von der Produktionsfirma Laika, die zwar 2005 schon „Corpse Bride - Hochzeit mit einer Leiche" realisierte, aber vor allem zuletzt die ähnlich im süßlich-melancholischen Schrecken des Außenseitertums angesiedelte „Coraline". So ist „ParaNorman" sicher nicht „für die ganze Familie", aber wer von Disneys heiterer Buntheit immer Pickel bekommt, fühlt sich hier vielleicht besser verstanden.

17.8.12

Total Recall

USA, Kanada 2012 (Total Recall) Regie: Len Wiseman mit Colin Farrell, Kate Beckinsale, Bryan Cranston, Jessica Biel, Bill Nighy 118 Min.

In einer Zeit, die „recall" mit prolligem Dumpf-Sänger und piepsiger Modell-Quälerin verbindet, kann man tatsächlich ein Remake von Schwarzeneggers / Paul Verhoevens „Total Recall" aus dem Jahr 1990 bringen. Wobei die total runderneuerte Version direkt enttäuscht: Alles was in den ersten 30 Minuten passiert, wurde bereits im Trailer verraten: In einer verseuchten Zukunft, in der zwischen die Vereinigten Staaten von Großbritannien und die ausgebeuteten Kolonien (Australien) ein unterirdischer Schnelltunnel verbindet, will sich der frustrierte Arbeiter Douglas Quaid (Colin Farrell) mit dem künstlichen Traumtrip der Firma „Rekall" von seinen Alpträumen erholen. Doch bevor ihm dabei klar wird, dass er eigentlich der sagenhafte Geheimagent Hauser ist, hat er auch schon einem ganzen Trupp schwer bewaffneter Regierungssoldaten umgebracht. Seine zu schöne Ehefrau Lori (Kate Beckinsale) will ihn von nun an ums Leben, und die andere Schöne, Melina (Jessica Biel), sicher zu den Rebellen in den Kolonien bringen.

Das Original von 1990 wirkt nicht nur aus heutiger Sicht mit den horrenden Mutationen auf der Mars-Kolonie wie ein Trash-Filmchen, kann aber trotzdem einige Punkte machen. Jeder Film sieht nach 20 Jahren digitaler Tricktechnik besser aus, was jedoch in dem ganzen „production design" verloren geht, ist die Idee von Philip K. Dick. Nach „We Can Remember It For You Wholesale", einer der vielen Kurzgeschichten des legendären Science Fiction-Autors, entstand „Total Recall" und wie immer haben bei ihm die Identitäten doppelte Böden, die selbst ihre Eigner nicht kennen. Beziehungsweise erst im Laufe der Handlung schmerzlich erkennen müssen. „Glaube nichts und niemanden" könnte so ein Kerngedanke der Dickschen Aufklärung sein. „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?" ist als Frage aber auch immer noch zeitgemäß. Ebenso wie die Entscheidung zwischen dem Sein oder Nicht-Sein, dem Wachen oder dem Träumen (Hamlet), der roten oder der blauen Pille (Neo). All dies kann selbst heftigster Action-Ballast nicht ganz untergraben, weitestgehend schon.

Doch genug philosophiert, Action ist 2012 eindeutig die Hauptsache. Bei all dem ermüdenden Rennen und Raufen läuft als Running Gag mit, dass Hauser von seiner Frau Lori verfolgt wird. Dann gibt es noch etwas Zicken-Krieg und die Geldscheine der Vereinigten Staaten von Großbritannien ziert der Kopf von Obama. Ansonsten nehmen wir alles sehr ernst. Da sehnt man sich fast nach dem nicht gerade begnadeten Schauspieler Arnold Schwarzenegger, dessen humoristische Einzeiler wenigstens nachhaltig funktionierten. Colin Farrell spielt Hauser ziemlich verkrampft, Kate Beckinsales Lori wirkt lange wie die eigentliche Heldin. Sie ist auch Gattin des „Underworld"-Regisseurs Len Wiseman. Gut sieht das in die Hand implantierte Handy aus, das sich mit jeder Glasplatte zum kompletten Computer erweitern lässt. Allerdings gehört es auch zur totalen Überwachung.

Technische Spielereien genehmigt sich der Film selbst reichlich: Beim Verfolgungsjagd mit fliegenden Autos schießt man immer noch irgendwie auf die Reifen. Im riesigen, multi-direktionalen Aufzugsschacht, wechselt man weiterhin die Richtung mit beherztem Sprung. Auch der Effekt von Maschinengewehr-Rückstößen in Schwerelosigkeit ist eindrucksvoll, aber nicht originell. Schön höchstens, dass zur Erinnerungs-Hilfe eine Klavier-Szene aus „Blade Runner" (ebenfalls von Dick) nachgebaut wird. Auch die Straßen-Szenen in der Kolonie kopieren dreist, genau wie die Roboter, die peinlich nach „Clone Wars" oder „I, Robot" aussehen. Also mehr Schein als Sein, was wieder eine Aussage von Dick sein könnte, jedoch kaum so von den Filmemachern gemeint.

15.8.12

Starbuck

Kanada 2011 (Starbuck) Regie: Ken Scott mit Patrick Huard, Julie LeBreton, Antoine Bertrand 109 Min. FSK ab 12

Was für eine herrliche Idee: Da kann sich ein etwas fahrige Mann, der als Fahrer für eine Fleischerei arbeitet, nicht ganz zur Schwangerschaft seiner Freundin Valérie durchringen und hört kurz darauf, dass er bereits 533-facher Vater ist - dank eifriger Samenspenden in der Vergangenheit. 143 seiner Kinder wollen nun über eine Sammelklage die Identität ihres Erzeugers erfahren. David Wozniak (Patrick Huard) beauftragt seinen dicken Freund und Anwalt (Antoine Bertrand) mit der Verteidigung seiner Anonymität. Gleichzeitig macht er sich daran, seine Kinder heimlich und anonym kennenzulernen. Auch dass sich sein Freund im Familienbild mit vier Kindern völlig überfordert zeigt, kann David nicht von diesem Wunsch abbringen. Sein erster Sohn auf der Liste erweist sich als Torjäger - eine Offenbarung für den Fußballfan! Einem Kellner hilft David, die Rolle seines Lebens zu bekommen. Als Pizzabote rettet er eine Tochter vor einer Überdosis, bei einem schwer behinderten Jungen kann er nur für eine Weile einfach da sein. „Starbuck" macht sich gar nicht die Mühe, all die Begegnungen besonders glaubhaft zu gestalten. Aber sie wirken echt aus dem Leben gegriffen. Patrick Huard zeigt sich als toller Komödiant: Herrlich wie er immer staunend vor den Früchtchen seiner Lenden steht.

Das ergibt viele schöne und auch einige wunderbare Momente vor dem Hintergrund Montreals mit seinem originellen französischen Dialekt „québécois". Ein Treffen von Davids Sprösslingen am See feiert das Leben mit allen seinen Formen, seinen Tattoos, seinen Spielbällen. Das alles zeigt Regisseur und Ko-Autor Ken Scott in scheinbar ganz einfachen, aber genau den richtigen Szenen, sodass die Sympathie für diesen Wohlfühlfilm wächst und wächst. Wie auch die für David, der sich zu einem Super-Papa entwickelt, aber immer noch seine Valérie überzeugen muss. Derweil interessieren sich auch die Zeitungen weltweit für den mysteriösen Starbuck und ein paar Geldeintreiber wollen immer nachdrücklicher seine Schulden abkassieren ...

14.8.12

360

Großbritannien, Österreich, Frankreich, Brasilien 2011 („360: A Vida é Um Círculo Perfeito") Regie: Fernando Meirelles mit Anthony Hopkins, Jude Law, Rachel Weisz, Moritz Bleibtreu 110 Min. FSK ab 12

Der neue Mereilles, ein Beziehungsreigen um die ganze Welt, ist eine runde Sache. Und ästhetisch ein Meisterwerk - das bei all seinen Dramen ein gutes Gefühl hinterlässt. In einer sehr freien Adaption von Arthur Schnitzlers Bühnenstück „Der Reigen" erleben wir mit zehn Hauptpersonen die Globalisierung von Schicksalen und Gefühlen.

Der „perfekte Kreis des Lebens" (so der portugiesische Titel) beginnt und endet in Schnitzlers Wien. Die Dirne von 1920 ist heute die junge Slowakin Mirka (Lucia Siposová) aus Bratislava, die bei einem ekligen Wiener Fotograf ihre Karriere als Prostituierte beginnt. Der britische Geschäftsmann Michael Daly (Jude Law) verpasst seine Stunde mit ihr, weil ein hinterhältiger Geschäftspartner (Moritz Bleibtreu) ihn erwischt. In einer der vielen genialen Bildkompositionen des Films wird Law während der Erpressung durch Bleibtreu in seinem Bildausschnitt ganz klein. So winzig kommt er auch in seine Londoner Wohnung zur Ehefrau Rose (Rachel Weisz) zurück. Die hat inzwischen ihrem jüngeren brasilianischen Liebhaber einen Korb gegeben, der wiederum zuhause das Abschiedsvideo seiner Freundin Laura (Maria Flor) findet. Im Flieger trifft diese auf John (Anthony Hopkins), der in die USA reist, um eine Leiche in Augenschein zu nehmen, die seine seit Jahren verschwundene Tochter sein könnte. Auf dem Flughafen von Denver hängt wegen eines Schneessturms auch der Sexualstraftäter Tyler (Ben Foster) fest, der erstmals Freigang hat und nur schwer den Versuchungen des menschlichen Kontaktes widerstehen kann. Ausgerechnet an seinen Tisch setzt sich Laura und nimmt ihn sogar in mit ins Hotelzimmer...

Vor allem diese Szene ist unheimlich bedrohlich, während die unterschiedlichen Aspekte von Beziehung, Treue oder Untreue durch intensives Schauspiel fesseln. Obwohl die „Aktwechsel" im Gegensatz zu Schnitzlers „Reigen" nicht immer den direkten Anschluss zeigen, packt jeder neue Blickwinkel jeder neuen Episode - auch durch die sehr prominente Besetzung und tolle Songs im Übergang. Eine kleine Soloshow von Hopkins, in der sich sein John bei den Anonymen Alkoholikern einiges klar wird, gehört zu den vielen Höhepunkten von „360".

Während der Wiener Reigen 1920 bitter und gnadenlos seine Gesellschaft sezierte und auch wegen vieler Sexual-Akte bis 1981 nicht aufgeführt werden durfte, führt diese Weltreise zu Akten der Emanzipation: Vom Glauben, von einer Trauer, von einem Partner. Was nicht immer zu neuem Glück führen muss. Die Pariser Zahnarzthelferin Valentina (Dinara Drukarova) wird von ihrem durch Psychoanalyse und Religion fehlgeleiteten Chef und Liebhaber (Jamel Debbouze) abgewiesen. Das wieder spannende Finale zurück in Wien - nach einer Fahrt um den Ring! - ist dann fast märchenhaft.

„360" vom Brasilianer Fernando Meirelles („Die Stadt der Blinden", „Der ewige Gärtner", „City of God") beginnt mit einem Foto-Shooting und endet mit einem Schuss. Was längst nicht die einzige Finesse dieses sehr raffiniert gestalteten Films ist (Buch: Peter Morgan). Immer wieder gibt es reizvolle Splitscreens, Dialoge über Spiegel und die innere Zerrissenheit der Lügen und Geheimnisse spiegelt sich in doppelten Reflexionen wieder (Kamera: Adriano Goldman). Zentral bleiben die Fragen „Wie kommen wir hier hin? Welche Entscheidung sollen wir treffen?" Die Antwort ist so überzeugend wie der Film.

Wer's glaubt, wird selig

BRD 2012 Regie: Marcus H. Rosenmüller mit Christian Ulmen, Marie Leuenberger, Nikolaus Paryla, Lisa Maria Potthoff, Fahri Yardim, Hannelore Elsner 101 Min. FSK ab 6

Für private Innenansichten vom Papst braucht man keine Vati-Leaks, man lädt ihn sich einfach zum Spaghetti-Essen nach Hause. So lässt es der am meisten überschätzte Regisseur der deutschen Filmgeschichte, Marcus H. Rosenmüller („Wer früher stirbt, ist länger tot",„Der Sommer der Gaukler"), seinen Hamburger Trottel Georg (Christian Ulmen) in bayrischen Gefilden tun. Dessen Schwiegermutter Daisy (Hannelore Elsner), eine extremistische Katholikin, streckte ein schweres Kreuz nieder, weil nebenan ihre Tochter Emilie (Marie Leuenberger) mit Georg den ersten Sex nach Monaten hat. Da in Hollerbach wegen Schneemangel auch der Tourismus daniederliegt, will der frustrierte Ehemann die Daisy mit zwei inszenierten Wundern zur Heiligen machen und trifft im Rahmen der lächerlichen Aktion „santo subito" tatsächlich auf den Papst, um Beziehungsprobleme zu besprechen.

Die haarsträubend hanebüchene Konstruktion des üblen Bauerntheaters „Wer's glaubt, wird selig" knarzt dramaturgisch an allen Ecken und Kanten. Ja, der verfilmte Schenkelklopfer des maßlos überschätzten Dialekt-Regisseurs Rosenmüller ist so grottig, dass Christian Ulmen endlich mal was aufwerten kann. Ulmen gibt den Ulmen und darf dämlich verliebt dreinblickend wieder infantil stammeln. Nur Hannelore Elsner bringt als böse Schwiegermutter ein paar gute Momente in die einfältige Klamotte. Das einzige Wunder dabei ist die Tatsache, dass dieser Film ins Kinos kommt.

13.8.12

We Need to Talk About Kevin

Großbritannien, USA 2011 Regie: Lynne Ramsay mit Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Siobhan Fallon 112 Min.

Die Mutter des Amokläufers

Eingetaucht in zahllose Rotvarianten von der südländischen Tomatenernten-Orgie, bei der Swinton schon gekreuzigt erscheint, bis zu Tomatensuppen-Regalen und der von Nachbarn vollgeschmierten Hausfront durchlebt Tilda Swintons Figur Eva ihr Mörder-Mutter-Martyrium, für das die Britin mit dem Europäischen Filmpreis 2011 als Beste Darstellerin ausgezeichnet wurde: Eva hat etwas Böses getan - einen Amokläufer großgezogen. In einem manchmal euphorisierenden manchmal anstrengenden Fluss der Erinnerungen und Leidensmomente rekapituliert Eva von der Zeugung, über Zweifel in Schwangerschaft und auch sonst ihre durch ein veritables Monster immer überforderte Mutterschaft. Kevin ist ein echtes Biest - Rosemarys Baby dagegen ein Schätzchen. Mit hämischen Grinsen setzt er seinen hübschen Kopf durch, notfalls hilft er mit hinterhältigen Intrigen nach. Dass er an seiner Schule kaltblütig ein Massaker anrichtet, konnte man jedoch nicht ahnen. Oder doch, schließlich hatte er schon das Auge seiner kleinen Schwester herausgeschossen...

Genau einmal darf man bei diesem anderen „Kevin" lachen, als zwei Mormonen auf die Frage nach Evas Verbleib im Jenseits von ihr sofort die überzeugte Antwort „Im ewigen Fegefeuer" erhalten. Die 1969 in Glasgow geborene Regisseurin Lynne Ramsay legt ihr in vieler Hinsicht packendes und Fragen aufwerfendes Drama - nach Lionel Shrivers Roman „Wir müssen über Kevin reden" - berauschend und erschlagend an. Inhaltlich wie formal. Ein gewaltiges Kino-Stück!

Magic Mike

USA 2012 (Magic Mike) Regie: Steven Soderbergh mit Channing Tatum, Alex Pettyfer, Matthew McConaughey, Cody Horn 110 Min.

Ein Dachdecker, der morgens in seinem großen Strandhaus in Tampa, Florida neben zwei Frauen im Bett aufwacht, wirkt etwas ungewöhnlich. Erst als sein neuer Kollege Adam (Alex Pettyfer) den Bauarbeiter Mike (Channing Tatum) abends vor einem Club wiedersieht, entdecken wir mit ihm Mikes eigentlichen Job: Er ist als Magic Mike Star der Stripper-Truppe Xquisite, die Abend für Abend junge und alte Frauen begeistert. Adam, der gleich am ersten Tag seinen Job am Bau wieder verlor, soll erst mal den Strippern beim Umkleiden helfen, wird aber weil Not am nackten Mann ist, bald auf die Bühne gestoßen: „Like a Virgin" lautet sein Jungfern-Song vor einer heißen Menge kreischender Weiber. Danach hat er die Hose voll - mit Geldscheinen.

Nackte Männer, die sich in gekonnten, aber immer noch affigen Tänzen ausziehen und in allen möglichen Posen Luft-Sex spielen - will man das sehen? Frau auf jeden Fall, denn auch bei uns sind Chippendale-Touren ausverkauft. Doch vor allem die Inszenierung von Steven Soderbergh sorgt dafür, dass man(n) sich für diese gut gebauten Jungs und ihre Geschichten interessiert. Selbst wenn Männer im Bunny-Kostüm und eine Penis-Pumpe in Großaufnahme nicht nur Adam irritieren.

„Magic Mike" ist die Story von Channing Tatum, der sich von "Step Up" Schritt für Schritt hochgearbeitet hat in Filmen wie "21 Jump Street", "Für immer Liebe" oder "Der Adler der neunten Legion". In "Haywire" spielte er bereits 2011 bei Soderbergh und nun ist er sogar als Produzent dabei. Aber am Anfang seiner Karriere verdiente er genau so als Stripper Geld. Zusammen mit Soderbergh und Drehbuch-Autor Reid Carolin baute Tatum als Hauptdarsteller um die Figur des Mike eine Geschichte von Liebe, Freundschaft, Verrat und persönlicher Entwicklung. Denn schnell verliebt sich Mike in Adams Schwester Brooke (Anke Engelke-Imitat Cody Horn), während „der Kleine" mit Drogen dazu verdienen will.

Oscar-Sieger Steven Soderbergh ("Ocean's 11/12/13", "Traffic", "Erin Brockovich") macht auch aus diesem Thema einen tollen Film. Wieder übernahm er zusätzlich Kamera (als Peter Andrews) und Schnitt (als Mary Ann Bernard). Und zaubert ganz nebenbei einen grandiosen Himmel auf die Leinwand. Nur für dieses im Meer gebrochene Sonnenlicht bei einer Sandbank-Party, das keinen Hauch kitschig, aber im jedem Pixel atemberaubend ist, lohnt der Film.

Dazu gibt es selbstverständlich flotte Tanzeinlagen, Tatum kann den Streetdancer richtig gut. Die Kamera zeigt echte Ganzkörper-Aufnahmen im Gegensatz zu furchtbar zerschnittenen Filmchen wie „Street Dance". Obwohl das restliche Ensemble mit Tarzan und Tanga, mit Matrosen, Polizisten, Spritzenmännern und andere sexuellen Fantasie-Figuren immer an der Grenze zur YMCA-Lächerlichkeit rumturnt, wirkt „Magic Mike" teilweise so ehrlich wie eine Reportage. Dabei sind auch die anderen Darsteller exzellent, trauen sich, wie Matthew McConaughey als Club-Senior, einiges. Cody Horn ist wieder mal so eine typische Soderbergh-Entdeckung: Zuvor zig mal übersehen, kann auch sie ihr Können voll ausspielen. Einer der vielen Gründe, sich diese heiße, komische und ernstzunehmende Nummer anzusehen.

8.8.12

Familientreffen mit Hindernissen

Frankreich 2011 (Le Skylab) Regie: Julie Delpy mit Lou Avarez, Julie Delpy, Eric Elmosnino, Aure Atika, Noémie Lvovsky 114 Min. FSK ab 12

Julie Delpy macht komische Familienfilme. In solchem Maße, dass bei „2 Tage Paris" und „2 Tage New York" sogar ihre Eltern mitspielten. Julie selbst übernahm selbstverständlich die Hauptrolle in einer schwierigen transatlantischen Beziehung. Dies „Familientreffen mit Hindernissen" beginnt wieder mit einer französisch-englische Beziehung im Heute, doch dann schweifen die Gedanken einer erwachsenen Frau (Karin Viard) zurück ins Jahr 1979: Das Alter Ego von Delpy heißt diesmal Albertine und zählt gerade mal elf Jahre. Zusammen mit Eltern und Geschwister geht die Sommerreise von Paris an die Bretonische Küste, wo sich eine Riesenfamilie trifft. Man grillt ein Spanferkel im Garten, die Männer spielen Fußball, die Frauen reden über die Männer und den Sex. Dann folgt eine wunderbare Gesangsrunde, am Strand müssen die FKK-Nachbarn genau inspiziert werden und vor Albertines staunenden Augen steigt ein junger Neptun aus den Fluten.

Überschattet wird dieses sommerlich leichte Treiben nur vom drohenden Absturz der US-Raumstation „Skylab". So heißt auch der Film im Original, der deutsche Titel „Familientreffen mit Hindernissen" suggeriert viel mehr Drama und in der Referenz auf andere „Familientreffen" eine Beliebigkeit, die Julie Delpys sympathische Regie-Arbeit gerade nicht transportiert.

Das Herz der Geschichte schlägt tatsächlich für Albertine, die sich zum ersten Mal verliebt und gleich darauf die unglückliche Liebe kennenlernt. Da interessiert es sie gar nicht mehr, ob ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Doch am nächsten Morgen ist wieder alles in Ordnung und die Feier der (Groß-) Familie klingt fröhlich aus. Man kann Delpys Retro-Party dank toller Schauspieler, einer netten Geschichte mit witzigen Szenen und Dialogen sehr schön mitgenießen, vielleicht sogar mitsummen und sich dabei das Herz erheitern lassen.

7.8.12

Locarno 2012 40 Jahre Ökumenische Jury

Ein erstaunliches Jubiläum wird beim Filmfestival Locarno dieser Tage gefeiert: Vor 40 Jahren wurde die Idee einer Ökumenische Jury geboren. Damit war das Schweizer Festival beispielsweise Cannes einige Jahre voraus. Viele weitere Festivals folgten. Die Initiative ging vom ehemaligen Festivaldirektor Moritz de Hadeln aus, der später die Berlinale leitete. Der Schweizer besänftigte damals auch Gegenwind der regionalen Kirchen im katholischen Tessin. Seit 40 Jahren wird dieser aktuell mit 20.000 Schweizer Franken dotierte Preis, der seinen Fokus mehr und mehr auf friedliches Zusammenleben der Kulturen legt, verliehen. Dabei schenkt sie „ihre Aufmerksamkeit qualitativ herausragenden Werken, welche spirituelle Aspekte unserer Existenz berühren und Werte wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Respekt gegenüber der Umwelt, sowie Frieden und Solidarität ansprechen", so die offizielle Medienmitteilung der ökumenischen Jury. Das Preisgeld ist allerdings an den Verleih in der Schweiz gebunden und wird ausbezahlt, wenn ein Schweizer Verleiher bereit ist, die Auswertungsrechte für den Film zu kaufen und ins Kino zu bringen.
Die Jurys sind längst nicht mehr nur christlich, auch jüdische oder sogar atheistische Juroren hat es schon gegeben. Auffällig bleibt jedoch, dass unter den Weltreligionen das Christentum eine besonders intensive Beschäftigung mit dem Film pflegt. Als Ehrengast in Locarno ist der polnische Regisseur Krzysztof Zanussi eingeladen. Er bringt mit „Illuminacja" den ersten ökumenischen Preisträger von 1973 zurück ans Festival. (jek)

Locarno 2012 Ehrung für Lebenswerk Harry Belafonte

Leoparden auf den Hund gekommen

Locarno. „Oh island in the sun..." - wahrscheinlich haben so viele Menschen anlässlich des Preises für Harry Belafonte und sein Lebenswerk diesen sonnigen Hit des charismatischen Sängers, Schauspielers und Vorkämpfers für Menschenrechte im Kopf gesummt, dass sich pünktlich zur Ehrung am Montagabend die Wolken beim 65. Filmfestival Locarnos (1.-11. August) verzogen. So strahlte das Festival mit dem Unicef-Botschafter um die Wette, verlor aber einige Punkte, sobald Belafonte beispielsweise erzählte, wie er Unterhaltung und Engagement verbindet: Chaplin etwa mit „Der große Diktator" sei sein großes Vorbild. Überhaupt hätten Shakespeare, Dostojewski oder Pirandello auch hervorragend unterhalten.

Belafonte beehrte Locarno aus Anlass der großen Otto Preminger-Retrospektive. Unter den vielen Meisterwerken des in die USA emigrierten Österreichers (1905-1986) wie „River of no return", „Bonjour Tristesse", „Der Mann mit dem goldenen Arm" oder „Exodus" findet sich auch die etwas skurrile, geboxte Version von Bizets „Carmen" namens „Carmen Jones" aus dem Jahr 1954. Der erste Auftritt eines schwarzen Helden auf der Leinwand war Belafontes Durchbruch, neben dem „Banana Boat"-Song. Die nicht mehr ganz aktuelle, aber immer noch gute Dokumentation „Sing your song" erzählt nach, wie der an vielen Fronten aktive Star diesen Ruhm sehr bewusst im Kampf für die Rechte der Schwarzen einsetzte und sogar Kennedy beriet.

Mit all seinem Engagement kann der 85-jährige Belafonte dem 65-jährigen Festival noch etwas vormachen, denn den politischen Punch, den Locarno vor allem unter Irene Bignardi hatte, der Vor-Vorgängerin vom Künstlerischen Direktor Olivier Père, ist längst erschlafft. So überwiegen auf der Piazza und im Wettbewerb neben eher belangloser Unterhaltung („Magic Mike", „Bachelorette") reizvolle Absurditäten und Hunde in Hauptrolle - passend zum bisherigen Hundewetter: In „Wrong" von Quentin Dupieux („Rubber") löst die Entführung eines geliebten Hundes eine Kette surrealer Ereignisse aus. Bei den britischen „Sightseers" ist der Raub eines Kläffers Beiwerk der makaber-komischen Mordserie eines Pärchens auf den Spuren der „Natural Born Killers" Mallory und Mickey. Als Wettbewerbs-Hund muss der Vierbeiner einer todkranken alten Dame in „Quelques jours du printemps" zuerst wegen Rattengift dran glauben und in „Starlet", der schönen Freundschaft einer Porno-Darstellerin und einer zurückgezogen lebenden Seniorin, trägt der titelgebende Handtaschen-Hund ebenso viel Strass wie sein Blondchen.

Unter all den mal amüsanten, mal unnötigen Albernheiten hat auf der Piazza „Lore" bislang am meisten Eindruck gemacht: Die britisch-deutsche Produktion von Cate Shortland („Somersault") erzählt von der Nachkriegsflucht einer Gruppe von Geschwistern durch drei Besatzungszone vom Schwarzwald bis zu einer Watteninsel. Die Eltern machten sich aus dem Staub, weil der Vater Massenmorde im KZ kommandierte. Hannelore (Saskia Rosendahl), die Älteste, ist noch dem Naziwahn verfallen. Selbst als der junge Jude Thomas (Kai Malina) sie mehrfach rettet, will sie nicht vom gleichen Tisch essen. Mit enorm starken Atmosphären und guten Schauspielern berührte dieser Kinderzug durch Wälder und abseits von Klischees die ganze Piazza.

Kein Nachfolger von Preminger, aber höchst spannendes Kino aus Österreich zeigen Tizza Covi und Rainer Frimmel in einem Wettbewerbs-Favoriten: „Der Glanz des Tages" ist die reizvolle Begegnung des Theaterschauspielers Philipp Hochmair (gespielt von Philipp Hochmair) mit dem Cirkus-Artisten Walter Saabel (Walter Saabel). Zwar spielen beide Neffe und entfernter Onkel, die sich noch nie gesehen haben, doch sie bringen auch ganz von ihrem eigenen Leben in die fiktionale Geschichte. Ein reizvolles Vexierbild zwischen Leben und Kunst, das selbstverständlich beides thematisiert und am Samstag bei der Preisverleihung wenigstens einen Darstellerpreis verdient hätte.

6.8.12

Prometheus - Dunkle Zeichen

USA 2012 (Prometheus) Regie: Ridley Scott mit Noomi Rapace, Michael Fassbender, Charlize Theron, Idris Elba, Guy Pearce 124 Min. FSK ab 16

Wo kommen wir her? Wer ist unser Schöpfer? Das fragen sich vielleicht auch die außerirdischen Killerwesen aus „Alien". 33 Jahre ließ sie ihr Schöpfer Ridley Scott und uns im Dunklen: Wer war der „Space Jockey", den man am Anfang der Alien-Saga kurz sah? Jetzt folgt mit „Prometheus" - und vielleicht noch mit „Prometheus 2" - was vorher geschah: Im Jahre 2093 kommt das Raumschiff Prometheus nach sehr langer Reise beim Planeten an, auf den prähistorische Höhlenzeichnungen verschiedenster Kulturen deuteten. Hier könnte der Ursprung irdischen Lebens her stammen, wie auch ein Prolog des Films andeutet. Das Team aus einem Wissenschaftler-Paar, einer knallharten Kommandantin (Charlize Theron), dem bodenständigen Kapitän und dreizehn weiteren Crewmitgliedern erkennt bald ein faszinierendes Gebäude und stürzt sich auf dessen Entdeckung.

Deutlich wird auch, dass die Handlung von „Prometheus" vor „Alien" liegt: So unvorsichtig wie sich die Besatzung den Spuren fremden Lebens nähert, ist zwar förderlich für Spannung, aber nicht für die Gesundheit. Schnell findet sich grüner Schleim und schon sorgen rennende Holografien für ersten Schrecken. Alien-Attacken bleiben nicht lange aus. Die Astronauten haben etwas geweckt und das ist nicht freundlich. Hier lagern zahllos intergalaktische Zecken, die gerne mal ein paar tausend Jahre auf ihre neuen Wirte warteten. Diesmal macht es der Film jedoch längst nicht so lange spannend wie beim originalen „Alien" und auch H.R. Gigers Kreationen bleiben unerreicht.

Der übliche, die Besatzung vom Raumschiff trennende Weltraum-Sturm erinnert an andere All(zweck)-Dramaturgien und Einiges wie Eier oder von innen explodierte Skelette an „Alien". Trotzdem eröffnet „Prometheus" mit eindrucksvollen Bildern eine faszinierend andere Welt. Dazu gibt es eine Menge „2001", also intelligenten Science Fiction, wobei allerdings die teilweise flachen Figuren nichts besonders Kluges sagen müssen.

„Prometheus" transportiert eine Handvoll grandioser Schauspieler, die sich auch in dem eindrucksvollen Produktionsdesign behaupten können: Noomi Rapace („Millennium") zeigt als neue Heldin Elizabeth Shaw, dass es auch in der Zukunft kein Vergnügen (für Beteiligte und Zuschauer) ist, sich selbst ohne Betäubung zu operieren. Rapace erfüllt die Erwartungen als Protagonistin extremer Szenen zur Gänze. Außerdem tritt sie das in die Vergangenheit vorverlegte Erbe von Alien-Mutter Sigourney Weaver an. Michael Fassbender zeigt sogar kopflos überragendes Schauspiel. Er gibt den freundlichen Roboter David als Mischung zwischen Data von der Enterprise und R2D2, dabei Peter-O'Toole zitierend. Doch letztendlich erweist er sich als echter Erbe vom hinterhältigen Hal 3000. Dass ausgerechnet die Maschine David besonders viel Charakter hat, wirkt nur kurios, wenn man nicht „Blade Runner" (auch von Scott) kennt.

Angesichts von Fortsetzungs-Schrott wie „Alien vs Predator" ist es ein Glücksfall, dass Scott persönlich sein „Alien"-Universum erweitert. Er entdeckt dabei Holografie als futuristische Methode der Vermittlung und zeigt das mit meist dezentem 3D in ästhetisch reizvoller Weise bis zum gewaltigen Crash im Finale, das man schon aus den Trailern kennt. Der Rest lohnt die Entdeckungsreise und unbekannte Welten und ferne Galaxien.

Locarno trumpft mit Dokus auf

„Vergiss mein nicht" heißt der neue Film des freien Produzenten Martin Heislers und seiner Berliner Firma „Lichtblick Media". Heisler stammt aus Aachen und feierte gestern beim 65. Internationalen Filmfestival von Locarno mit der sensiblen Dokumentation über eine an Alzheimer erkrankte Mutter persönlich eine ausverkaufte Premiere.

Während im Wettbewerb und auf der Piazza Grande selbst deutsche Koproduktionen rar gesät sind, stammen in der exklusiven und anspruchsvollen Sektion „Kritikerwoche" gleich drei von sieben Dokumentationen von deutschen Produktionsfirmen. Mit „Camp 14 - Total Control Zone" der Kölner Engstfeld-Film begeisterte der ausgezeichnete Regisseur Marc Wiese bereits am Freitag das Publikum. Die Geschichte von Shin Dong-huyk, der in einem nord-koreanischen Gefangenenlager geboren wurde und nach furchtbaren Erlebnissen und Qualen im Alter von 23 Jahren fliehen konnte, brachte eine selten gehörte Stille in das Festivalkino.

Auch „Vergiss mein nicht" des jungen Regisseurs David Sieveking hat ein schwieriges Thema: Die Mutter des Filmemachers ist an Alzheimer erkrankt und der Sohn kehrt ins Elternhaus zurück, um dem Vater bei der Pflege zu helfen. Produzent Martin Heisler, erzählte vor der Premiere, dass er ein „paar Tage" überlegen musste, bevor er sich entschied, diesen Film zu machen. Obwohl oder auch vielleicht weil er mit Sieveking studiert hatte, sich über ihren letzten gemeinsamen Film „David wants to fly" eine Freundschaft entwickelte und auch Heislers Mutter im gleichen Zeitraum schwer krank war. Noch während des Films stellt man sich die Frage, ob man einen nahen Menschen so im geistigen Verfall zeigen kann. Doch Martin Heisler fand schließlich, „Vergiss mein nicht" sei „ein Blick auf Familie und Krankheit der erzählenswert ist."

Die sehr familiäre Dokumentation ist das, was Heisler als Produzent bei aller Anstrengung von jahrelanger Projektarbeit für jeweils einen Film an seinem Beruf, der vor allem Film-Leidenschaft ist, reizt: „ In irgendeiner Form Menschen berühren und vielleicht auch etwas verändern." Momentan setzt sich die bemerkenswerte Karriere äußerst positiv fort: Gerade ist mit „Headhunter", in dem Ulrich Tukur die Hauptrolle in NRW und den USA spielt, der bislang größte Film fertig geschnitten worden. „Vergiss mein nicht" beginnt seine internationale Festival-Tour und wird am 17. Januar 2013 bundesweit in die Kinos kommen.

Fast als Begleitprogramm funktionierte da am Sonntagabend die Piazza Grande, die diesjährig unter heftigen Gewittern zu leiden hat: In dem französischen Drama „Quelques heures de printemps" entscheidet sich eine alte Frau, bei der unheilbare Gehirntumore diagnostiziert wurden, sich in einem Schweizer Hospiz betreut das Leben zu nehmen. Das schwierige Verhältnis zum reifen Sohn, gespielt vom Star Vincent Lindon, wird zwar nicht innig, aber wenigstens kehrt angesichts des nahen Todes eine respektvolle und nahe Ruhe ein. Regisseur Stéphane Brizé („Mademoiselle Chambon") kann sich ganz auf die exzellenten Darsteller verlassen, wenn er Sterbehilfe als selbstverständlich und sehr einfach darstellt. Ein stiller, sehr berührender Höhepunkt des bisher auch oft nur unterhaltsamen Piazza-Programms.

2.8.12

Magic Mike

USA 2012 (Magic Mike) Regie: Steven Soderbergh mit Channing Tatum, Alex Pettyfer, Matthew McConaughey, Cody Horn 110 Min.

Ein Dachdecker, der morgens in seinem großen Strandhaus in Tampa, Florida gleich neben zwei Frauen im Bett aufwacht, wirkt etwas ungewöhnlich. Erst als sein neuer Kollege Adam (Alex Pettyfer) den Bauarbeiter Mike (Channing Tatum) abends vor einem Club wiedersieht, entdecken wir mit ihm Mikes eigentlichen Job: Er ist als Magic Mike Star der Stripper-Truppe Xquisite, die Abend für Abend junge und alte Frauen begeistert. Adam, der gleich am ersten Tag seinen Job am Bau wieder verlor, soll erst mal den Strippern beim Umkleiden helfen, wird aber weil Not am nackten Mann ist, bald auf die Bühne gestoßen: „Like a Virgin" lautet sein Jungfern-Song vor einer heißen Menge kreischender Weiber. Danach hat er die Hose voll - mit Geldscheinen.

Nackte Männer, die sich in gekonnten, aber immer noch affigen Tänzen ausziehen und in allen möglichen Posen Luft-Sex spielen - will man das sehen? Frau auf jeden Fall, denn auch bei uns sind Chippendale-Touren ausverkauft. Doch vor allem die Inszenierung von Steven Soderbergh sorgt dafür, dass man(n) sich für diese gut gebauten Jungs und ihre Geschichten interessiert. Selbst wenn Männer im Bunny-Kostüm und eine Penis-Pumpe in Großaufnahme nicht nur Adam irritieren.

„Magic Mike" ist die Story von Channing Tatum, der sich von "Step Up" Schritt für Schritt hochgearbeitet hat in Filmen wie "21 Jump Street", "Für immer Liebe" oder "Der Adler der neunten Legion". In "Haywire" spielte er bereits 2011 bei Soderbergh und nun ist er sogar als Produzent dabei. Doch am Anfang seiner Karriere verdiente er genau so als Stripper Geld. Zusammen mit Soderbergh und Drehbuch-Autor Reid Carolin baute Tatum als Hauptdarsteller um die Figur des Mike eine Geschichte von Liebe, Freundschaft, Verrat und persönlicher Entwicklung. Denn schnell verliebt sich Mike in Adams Schwester Brooke (Anke Engelke-Imitat Cody Horn), während „der Kleine" mit Drogen dazu verdienen will.

Oscar-Sieger Steven Soderbergh ("Ocean's 11/12/13", "Traffic", "Erin Brockovich") macht auch aus diesem Thema einen tollen Film. Wieder übernahm er zusätzlich Kamera (als Peter Andrews) und Schnitt (als Mary Ann Bernard). Und zaubert ganz nebenbei einen grandiosen Himmel auf die Leinwand. Nur für dieses im Meer gebrochene Sonnenlicht bei einer Sandbank-Party, das keinen Hauch kitschig, aber im jedem Pixel atemberaubend ist, lohnt der Film.

Dazu gibt es selbstverständlich flotte Tanzeinlagen, Tatum kann den Streetdancer richtig gut. Die Kamera zeigt echte Ganzkörper-Aufnahmen im Gegensatz zu furchtbar zerschnittenen Filmchen wie „Street Dance". Obwohl das restliche Ensemble mit Tarzan und Tanga, mit Matrosen, Polizisten, Spritzenmännern und andere sexuellen Fantasie-Figuren immer an der Grenze zur YMCA-Lächerlichkeit rumturnt, wirkt „Magic Mike" teilweise so ehrlich wie eine Reportage. Dabei sind auch die anderen Darsteller exzellent, trauen sich, wie Matthew McConaughey als Club-Senior, einiges. Cody Horn ist wieder mal so eine typische Soderbergh-Entdeckung: Zuvor zig mal übersehen, kann auch sie ihr Können voll ausspielen. Einer der vielen Gründe, sich diese heiße, komische und ernstzunehmende Nummer anzusehen.

1.8.12

Jeff, der noch zu Hause lebt

USA 2011 (Jeff, who lives at home) Regie: Jay Duplass, Mark Duplass mit Jason Segel, Ed Helms, Susan Sarandon, Judy Greer 83 Min. FSK ab 6

Ein dreißigjähriger „Jeff, der noch zu Hause lebt", hört sich nicht besonders reizvoll an. Doch der neue Film der Brüder Jay und Mark Duplass („Cyrus") ist mitnichten eine der zotigen Idioten-Komödien sondern erweist sich wie sein verschluffter Protagonist als wunder verspielte und liebenswerte Entdeckung.

Jeff (Jason Segel) schlurft trotz fortgeschrittenen Alters mit kurzen Hosen und Hoody wie ein Teenager durch den Tag. Was einen aber schon nach wenigen Minuten zum Wahnsinn treibt, ist das absolut ziellose Rumhängen mit dem entsprechenden, vom Kiffen verstärkten Durchzug im Gehirn. Wie muss es da erst der Mutter Sharon (Susan Sarandon) gehen, die das Riesenbaby in ihrer Wohnung nicht mal dazu bekommt, die Küchentür zu reparieren, während sie ihren öden Bürojob absitzen muss. Aber eine falsche Verbindung bei einem Anruf lässt Jeff fortan wie besessen dem Namen „Kevin" folgen. Denn „Signs - Zeichen" ist Jeffs Lieblingsfilm und man müsse im Leben auf Zeichen und seine Gefühle achten.

So beginnt Jeffs Odyssee durch eine amerikanische Stadtlandschaft. Märchenhaft naiv folgt er einem Basketball-Shirt mit dem Aufdruck Kevin, dann einem Lieferanten für Süßwaren. Dass Jeff dabei immer wieder auf seinen Bruder Pat (Ed Helms) trifft, scheint seiner Methode recht zu geben. Pat wähnt sich mit gerade auf Raten gekauftem Porsche und Firmen-Polo äußerlich erfolgreich, ist aber völlig am Ende, weil ihn seine Frau Linda (Judy Greer) wegen des unverantwortlichen Autokaufs rausgeschmissen hat. Dass er den nagelneuen Wagen frontal gegen einen Baum setzt, bevor er wegen Falschparkens abgeschleppt wird, dass dies bei der Verfolgung von Linda und einem vermeintlichen Liebhaber eher hinderlich ist, das alles bringt Pat dazu, die Geringschätzung für den scheinbar nutzlosen Bruder zu überdenken. Denn so verschieden sie wirken, sie haben immerhin den gleichen Traum mit ihrem viel zu früh verstorbenen Vater. Gleichzeitig bekommt ihre Mutter im Büro anonyme Mails von einem Verehrer, was zu ebenso prickelnden wie peinlichen Situationen führt.

Diese besondere und wunderschön komische Familienzusammenführung schafft es, auf kleinem Raum und in kurzer Zeit wichtige Fragen für drei Leben zu stellen. Alle Albernheiten führen schließlich dazu, dass die Masken fallen und wir im Finale wie bei „Signs" den Sinn der Zeichen erkennen. Jeff, der unter Abwesenheit des Vaters leidet, rettet zwei kleine Mädchen vor dem gleichen Schicksal und dann repariert er endlich die Küchentür seiner Mutter. Ganz banal und doch einfach großartig. So wie der sehr empfehlenswerte Film „Jeff, der noch zu Hause lebt". Die Magie dieser klaren Erleuchtungen im trüben Alltag liegt beispielsweise darin, dass sich selbst im Großraumbüro ein Kuss unter dem Wasserfall erleben lässt. „Jeff" erzählt ein schönes Filmmärchen, aber nicht abgehoben im Stile Hollywoods. Wie schon beim Duplass-Vorgänger „Cyrus" mit John C. Reilly und Marisa Tomei glaubt man, dass diese Menschen wirklich sind und nimmt ihre Ideen mit nach Hause. Solchen Zeichen für Qualität und innere Werte darf man gerne folgen.

Red Lights

Spanien, USA 2012 (Red Lights) Regie: Rodrigo Cortés mit Cillian Murphy, Sigourney Weaver, Robert De Niro 119 Min.

Der Poltergeist poltert heute Abend wieder sehr laut. Doch die Séance bei rotem Licht wird von den Wissenschaftlern Margaret Matheson (Sigourney Weaver) und Tom Buckley (Cillian Murphy) begleitet. Besonders die Institutsleiterin durchschaut schnell die Tricks eines kleinen Mädchens, das nicht mehr in dem alten Haus wohnen will. Souverän überführt sie auch einen naiven Kollegen von der Parapsychologie, der sich einen Kartentrick über seine spiegelnde Brille als Hellsehen andrehen lässt. Doch vor dem Magier Simon Silver (Robert De Niro), der nach jahrelanger Abwesenheit wieder einige Shows gibt, hat die reife Skeptikerin großen Respekt. Einst ist einer seiner Kritiker mitten in der Vorführung an Herzversagen gestorben. Der junge Physiker Tom ist nun ganz heiß darauf, auch Silver zu überführen, doch Margaret stoppt ihn. Bis sie nach einigen unerklärlichen Ereignissen selbst tot aufgefunden wird. Nun spielt Tom Detektiv, mit gefährlichen Folgen.

„Red Lights" sind wie paranormale Erscheinungen schwer zu fassen: Ist es ein Thriller um einen gefährlichen Scharlatan oder Mystery um außerordentliche Fähigkeiten? Rodrigo Cortés („Buried - Lebend begraben", 2010) macht immer wieder grundlos Angst und legt viele Fährten aus. Während Dramaturgie und Synchronisation holperig wirken (Schnitt: Rodrigo Cortés selbst), schaffen es drei exzellente Hauptdarsteller, für die Thematik zu interessieren: Wie tragisch, dass Margaret ihren Sohn Jahrzehnte lang hoffnungslos im Koma liegen lässt, weil sie nicht glaubt - dass es etwas anderes nach dem Tod gibt. Robert DeNiro deutet als blinder, reicher Mr. Silver kurz an, wie dämonisch er spielen kann. Cillian Murphy („In Time" 2011, „Inception" 2010) vermag wie kein anderer verschiedene Gefühlslagen in seinem Gesicht zu spiegeln und sorgt für angedeutete Ambivalenz. Dass die Auflösung sehr weit hergeholt wirkt, kann stören. Doch die Idee, die sich dadurch im großen, lauten Finale entfaltet, hat ihren Reiz.