31.5.12

Lebe wohl, meine Königin!

Frankreich, Spanien 2011 (Les adieux à la Reine) Regie: Benoït Jacquot mit Léa Seydoux, Diane Kruger, Virginie Ledoyen, Xavier Beauvois, Noemie Lvovsky 100 Min.

„Lebe wohl, meine Königin!" von Benoït Jacquot prägt im historischen Setting der Französischen Revolution ein, immer auf die Stars zu achten und nicht auf die Nebenfiguren. Ganz nah dran am Ende der Monarchie war die Vorleserin der Königin während der Tage um den 14. Juli 1789, ganz leise dringt mit den Ratten Unruhe zum Palast von Versailles. Doch die eigentlich kluge, verschlossene junge Sidonie Laborde (Léa Seydoux) kümmert sich nur um Marie Antoinette (Diane Kruger), die sehr an einer lesbischen Beziehung zur Adels-Kollegin Gabriel von Irgendwas leiden muss. Die aufmerksame Zeugenschaft Sidonies bringt uns ein paar spöttische Impressionen vom Schwarm erbärmlicher Gestalten, die am König kleben, auch die um sich greifende Angst in den dunklen Gängen von Versailles hätte sich zu einem fesselnden Film entwickeln können. Doch dann verliert der Film wie seine Hauptfigur den klaren Blick und lässt sich von einer nicht wirklich tragischen Königin umgarnen, die sich als launige Zicke Modejournale vorlesen lässt. Uninteressant bis zur Schlussszene, in der ein Machtwechsel stattfinden - als Farce. Denn die treuen Diener dürfen mal Herren spielen, um die als Helfer verkleideten Adeligen aus dem Land zu schmuggeln. Ist das politisch gemeint?

Benoït Jacquot, geboren 1947 in Paris, begann als Regieassistent, bevor er 1975 seinen Debütfilm vorstellte. Er arbeitete mehrfach mit Isabelle Huppert, Sandrine Kiberlain und Virginie Ledoyen zusammen. Jacquot ist neben seinen Regiearbeiten wie „Villa Amalia" (2009), „Der Unberührbare" (2006) oder „La Fille Seule" (1995) auch mit TV-Produktionen und Dokumentarfilmen hervorgetreten. 2004 inszenierte er Massenets „Werther" an der Royal Opera in London.

30.5.12

Buck

USA 2011 (Buck) Regie: Cindy Meehl 88 Min.

Diese Dokumentation wie auch ihr Protagonist Buck Brannaman sind enorm eindrucksvoll. Das muss sogar jemand sagen, der Pferdedressur generell veredelte Tierquälerei unterstellt. Hier zeigt Regisseurin Cindy Meehl in ihrem ersten Kinofilm jedoch einen derart sensiblen Umgang mit Pferden, dass man daraus selbst für den Umgang mit Menschen Lehren ziehen kann. Buck Brannaman reist als „Pferdeflüsterer" fast das ganze Jahr durch die USA, gibt viertägige Lehrgänge, meist für Menschen, die mit ihren Pferden nicht zurecht kommen. Oder umgekehrt. Denn eine der vielen verblüffend eingängigen Erkenntnisse lautet, dass „verhaltensgestörte" Pferde meist bei verhaltensgestörten Reitern auftauchen. Die Methode lehnt Zwang und mechanische Folterinstrumente ab. Wie geerdet dieser tiefenentspannte, humorvolle und sehr sympathische Bilderbuch-Cowboy in dem auch schön fotografierten Film rüberkommt, erstaunt umso mehr, wenn seine Vergangenheit erzählt wird: Als Kind war er mit seinem Bruder und Lassokünsten selbst eine Art Zirkuspferd, das vom alkoholkranken Vater brutal geschlagen wurde. Erst Pflegeeltern gaben Bucks Leben eine positive Richtung. Doch auch dies erklärt der Film stimmig: Da solche Trainer besonders sensibel sein müssen, sind sie wohl oft Menschen mit traumatischen Erlebnissen in der Vergangenheit. Dass Buck unter diesen „Pferdeflüsterern" als der Beste gilt, belegen auch Robert Redfords Erinnerungen an seinen Erfolgsfilm mit diesem Titel: Dort haben Buck und sein Pferd in einem Versuch geschafft, was professionelle Filmtrainer mit ihren Pferden in acht Stunden nicht fertig gebracht haben. Brannaman war auch als Berater sehr einflussreich bei den Dreharbeiten. In „Buck" schaffen es Film und Figur, nicht nur Pferdefreunde zu begeistern, sie wirken auch weit über die Koppel hinaus.

29.5.12

Mes - Lauf!

Türkei, BRD 2011 (Mes) Regie: Shiar Abdi mit Abudel Selam Kilgi, Abdullah Ado, Tolay Moseki 88 Min.

Ihre Wege sind direkt durch eine Parallelmontage verknüpft: Der junge, arme Cengo (Abdullah Ado) und der verstörte Alte Xelilo (Abudel Selam Kilgi) leben in dem kleinen kurdischen Ort Nusaybin an der Grenze zu Syrien. Während das Kind versucht, Kaugummis zu verkaufen, beobachtet es staunend der ruhelosen Mann, der hektisch und ohne Ziel hin und her eilt. Eines Tages geht der Junge mit, neben dem Mann im Mantel her, bis zum imaginären Wendepunkt auf der Straße und wieder zurück. Dann, als der zum Verrückten erklärte Xelilo etwas Vertrauen zu den Kindern gefasst hat, die unter der Brücke einer alten deutschen Bahnlinie spielen, ereignet sich der historische Umbruch, von dem sich die Türkei heute immer noch nur mit Mühen erholt: Die Vorführung eines Films von Ylmaz Güney wird von der türkischen Armee mit Waffengewalt aufgelöst, dann bei dem Überfall das ganze Dorf extrem brutal zusammengetrieben. Im Radio laufen nationalistische Parolen zum Putsch des Militärs. Nun läuft Cengo immer auf und ab, um einen wachhabenden Soldaten zu provozieren. Xelilo wurde mit anderen verhaftet, Cengos Bruder kommt nur nachts heimlich ins Dorf, weil er in den Bergen für die kurdische Befreiungsarmee PKK kämpft. Das Mädchen, das ihn fasziniert, zieht weg. Und auch die Versuche, den entlassenen Xelilo vor der Gnadenlosigkeit des Militärs zu schützen, scheitern. Zuerst wird Cengos Vater, dann der Außenseiter völlig grundlos und kaltblütig ermordet.

Ein türkischer Film komplett in Kurdisch ist schon eine Sensation, denn jahrzehntelang wurde dieser Bevölkerungsgruppe verboten, ihre eigene Sprache zu sprechen. Nun also nach „Mîn Dit – Die Kinder von Diyarbakir" wieder ein authentisches Film-Dokument aus dieser unterdrückten und umkämpften Region. Dass es um den Bürgerkrieg geht, ist da nicht verwunderlich, vor allem, weil „Mes" historisch im Jahr 1980 spielt. In warmen, erdigen Farben gut gespielt und inszeniert, will „Mes" keine große Kunst machen, sondern vor allem von einem Unrecht erzählen. Das gelingt mitreißend dank einiger schönen, auch bewegender Szenen sowie mit einer stimmigen Atmosphäre. Als aber weder die Freundschaft mit dem verstörten Mann noch eine junge Liebe überleben, bleibt der weinende Junge zurück. Eine Einblendung legt noch seinen weiteren Weg als Widerstandskämpfer ein paar Jahre später nach. Da ist der Film in der Reaktion eindimensional wie die Soldaten, die Xelilo zusammenschlagen, weil er einem von ihnen eine Zigarette klaute.

LOL (2012)

USA 2012 (LOL) Regie: Lisa Azuelos mit Miley Cyrus, Demi Moore, Douglas Booth 97 Min.

„LOL" war 2008 eine französische Teenager-Komödie über Mütter und Töchter, die auch jenseits der Zielgruppe andere Alter und Geschlechter begeisterte. Nun macht im eigenen Remake der Regisseurin nach Sekunden ein unnatürliches Zahnpasta-Grinsen deutlich, dass Lisa Azuelos ihr eigenes Remake ohne Rücksicht auf Verluste an Hollywood verkauft hat. Dabei hat sich inhaltlich wenig geändert: Als die 16-jährige Schülerin Lola (Miley Cyrus) aus den Ferien kommt, erzählt ihr Freund Chad (George Finn), er hätte was mit einer anderen gehabt. Lola erfindet spontan, dass sie das Gleiche getan habe und schon ist der Schulstart gründlich versaut.

Während sich die an allen hängende Zicke namens „Post-it" demonstrativ Chad krallt, entdeckt Lola beim eifrigen Chat und in einer romantischen Musikmontage, dass ihr bester Freund Kyle (Douglas Booth) die große Liebe ist. Es folgen die üblichen kleinen, dummen Spielchen mit den Gefühlen anderer, Lolas Freundin himmelt in Zeitlupe mit Schmacht-Soul den Dreitagebart-Mathelehrer an und Mama (Demi Moore) hat nach der heimlichen Affäre mit dem Ex-Mann eine richtige mit einem Drogenbeauftragten von der Polizei. So wie im Film munter bei Eltern und Kindern gekifft wird, laufen auch die Gespräche über Sex ähnlich ab: Mögen wir es lieber schnell oder mit Gefühl?

Aus dem sympathischen französischen Film wurde nach einer synthetischen Veränderung eine typische High School-Romanze. Das hat etwas von Genmanipulation: Man nimmt etwas auseinander, was funktionierte, tauscht ein paar Sequenzen, Gesichter, Songs, Orte aus und baut alles wieder zusammen. Das Ergebnis klingt nicht nur wegen einer schlimmen Synchronisation erschreckend. Es wird viel Zeit verpulvert, Demi Moore zu inszenieren, die dauernd Weichzeichner-Linsen und einen Jüngeren abbekommt. In Sachen Humor ist eine Bemerkung über Magersucht besonders und unbeabsichtigt erfolgreich - jeder denkt da selbstverständlich „Weniger ist Moore". Aber vor allem, wenn die verliebte Mama wieder zum verlegenen, unsicheren Teenager werden soll, merkt man selbst nach vier Jahren noch den riesigen Unterschied zwischen der in dieser Rolle tollen Sophie Marceau und einer hölzernen Demi Moore. Als das Filmchen um die übliche Teenager-Romanze eigentlich durch ist, folgt mit einem Tagebuch-Vertrauensbruch der Mutter noch mal eine dramaturgische Strafrunde. Wenn dann das Herz, die Quintessenz des Films, mit dem Satz „Endlich sind wir soweit, uns gegenseitig erwachsen werden zu lassen" auch noch auf die Zunge gelegt wird, merkt man, wie aufgesetzt und falsch „LOL" nun geworden ist. Das liegt mal nicht nur an der schrecklichen Miley Cyrus, einem ehemaligen Kinderstar, der aussieht wie A- oder BeHörnchen mit langen Haaren und bei dem das Ausdrucksvermögen des komischen Gesichts arg beschränkt ist.

Safe - Todsicher

USA 2012 (Safe) Regie: Boaz Yakin mit Jason Statham, Catherine Chan, Robert John Burke, Reggie Lee 94 Min.

Sie werden tatsächlich immer kleiner, diese Datenspeicher aus Asien! Jetzt nutzen chinesische Gangster ein kleines Rechengenie als Safe für eine sehr lange Zahlenkombination. Das Mädchen Mei (Catherine Chan) wird nach New York entführt, mitsamt der wertvollen Fracht in ihrem Kopf. Irgendwann trifft sie auf den Ex-Polizisten und Kampfsportler Luke Wright (Jason Statham), der von der russischen Mafia zum Überleben verurteilt wurde, nachdem die seine Frau aus Rache für eine misslungene Wette ermordete. Es dauert eine halbe Stunde, bis die beiden Geschichten zusammenkommen und Statham zum ersten mal zuschlagen kann: Kurz bevor sich Luke vor eine U-Bahn wirft, sieht er Mei und rettet sie vor ihren Verfolgern. Dann macht die Action erst mal keine Pause mehr. Gleich zwei Gangster-Clans sind hinter Mei her und mitten im Einsatz verhandeln extrem korrupte Polizisten die Bestechungsgelder mit der russischen und der chinesischen Mafia neu. Da Luke meint, dass Mei ihm das Leben gerettet habe, beschützt er sie nun.

Vor allem das Erzählen über clevere Szenen-Sprünge und rasante Handlungsentwicklung macht anfangs bei „Safe" Spaß. Dann übernimmt ein Krimi-Plot, der so überladen ist, dass weder das raffinierte Kind noch die menschliche Seite von Haudrauf-Luke eine große Rolle mehr spielen. Dies ist weder „Leon" noch „Johnny Mnemomic". Die Action wird die Fans zufriedenstellen.

28.5.12

Cannes 2012 Die Liebe siegt - Die Preise

Der haushohe Favorit, der französische Film „Amour" vom Österreicher Michael Haneke, erhielt verdientermaßen die Goldene Palme bei einem eindrucksvoll guten Cannes-Jahrgang. Eigentlich war nur noch offen, ob er oder seine Darsteller Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva einen Hauptpreis bekommen. Denn beides geht laut Reglement nicht. Ausgerechnet Haneke selbst hat mit „Die Klavierspielerin" 2001 diese Regel verursacht, als der Film den Preis der Jury sowie beide Darstellerpreise einsackte! Auch Hanekes letzter Film „Das weiße Band" begann übrigens seinen Siegeszug mit der Goldenen Palme im Jahr 2009.

„Amour", der bei uns am 20. September unter dem Titel „Liebe" ins Kino kommen wird, krönt damit einen Cannes-Jahr, das vom europäischen Film bestimmt wurde. Eine gute Entscheidung der Jury von Nanni Moretti, wenn auch eine für den hermetischen, perfekten Diamanten des Festivals. Ungeschliffenere, kantigere Kunstwerke wie der genial verschrobene „Holy Motors" von Leos Carax blieben dabei außen vor. Nur der Preis für die Beste Regie an den Mexikaner Carlos Reygadas mit dem umstrittenen „Post Tenebras Lux" würdigte das offene Kunstwerk, das provoziert und auf unbekannte Wege führt. Diese Qualität von Cannes - fast alle Wettbewerbsfilme hatten offene Enden! - wurde zu wenig berücksichtigt.

Was, um den Liebes-Reigen zu schließen, dann doch auch für die Darsteller von „Amour" gilt: Mads Mikkelsen ist klasse als Kindergärtner unter falschem Verdacht in „Die Jagd" von Thomas Vinterberg, aber Trintignant in jeder Faser, in jedem Wort ein atemberaubender Ausnahme-Schauspieler. Auch Emmanuelle Riva als Sterbende ist so viel eindrucksvoller als die beiden jungen Rumäninnen Cristina Flutur und Cosmina Stratan als Novizinnen in Cristian Mungius Drehbuchpreis-Gewinner „Beyond The Hills". Somit wäre wieder Haneke ein Grund, diese Regelung zu überdenken. Doch anders als Wims Wenders, der 2008 aus gleichem Grund in Venedig mit „The Wrestler" Mickey Rourke großes Theater machte, nahm der stille Österreicher einfach seine Stars wie selbstverständlich aus Liebe zum guten Schauspiel mit auf die Bühne.

25.5.12

Cannes 2012 Io e te, Bernardo Bertolucci

Bernardo Bertolucci ist längst Legende, ein alter Mann könnte man denken. Doch wie er die kleine, rührende Jugend-Geschichte von Io et te" (Ich und Du) inszeniert, zeigt dass er mit all seinem Können voll im Leben steht. Ein pubertierender Junge will sich vor der Schulfahrt drücken und versteckt sich im Keller des eigenen Mietkomplexes, zufällig kommt seine ältere Stiefschwester vorbei und will ausgerechnet hier mit einem Kalten Entzug von den Drogen loskommen. David Bowies Space Oddity", jeweils einmal in der italienischen und der englischen Version charakterisieren die Drogenproblematik der Schwester und die Isolation des Sohnes. Das Keller-Kammerspiel entdeckt zwei junge Schauspieler, erzählt berührend feinfühlig und schenkt ein bitter-süßes Ende. Das hätte auch in den Wettbewerb gepasst.

 

Cannes 2012 Cosmopolis David Cronenberg

The Return of the Stretch-Limo

Die lautesten Lacher in seinem Wettbewerbsfilm "Cosmopolis" hat Cronenberg Carax zu verdanken: Die wiederholte Frage, wo sind all die Stretch-Limousinen in der Nacht, funktionierte als ungeplanter Querverweis innerhalb des Festivals. Doch man kann diese Variationen auf eine gesellschaftliche Erscheinung durchaus ernst nehmen. Wobei Carax den Cronenberg macht und die unsinnige Perversion der schon pervers ausgebreiteten Erscheinung Auto als die eigentlichen Lebewesen zeigt, in denen Menschen nur als Schmarotzer mitfahren. Und sie in der Nacht miteinander reden lässt. Cronenberg hingegen inszeniert die Limousine als Panzer eines Cyber-Kapitalisten, treffend verkörpert vom Twilight-Blutsauger Robert Pattinson. Kalt und herzlos bewegt sich der Multimilliardär Pucker im Schneckentempo durch New York. Während der Präsident - "Welcher?" "Der USA" - die Straßen blockiert, steigen Puckers Analysten, Ärzte und Affären ein und aus. Er trifft sich mit seiner Frau, die nach einer Heirat zweier Geldfamilien seine Augenfarbe entdeckt und noch immer nicht mit ihm schlafen will. Draußen brechen Unruhen aus, die Weltwirtschaft ist wieder in einer neuen Krise, diesmal wegen des Yuan, und die Idee der Ratte als Währung geistert herum. Gleichzeitig ist ein Attentäter hinter Pucker her. Dieser sucht und erlebt an einem Tag seinen Niedergang, macht den Ikarus. Sowohl die dichten, gesellschafts-analytischen und psychologischen Dialoge als auch einzelne Szene sind dabei hochspannendes Gedanken-Futter. Die Binoche darf an Puckers menschliche Seite appellieren. Während seine Prostata in der Limousine untersucht wird, entdeckt eine vom Joggen durchgeschwitzte Analystin in einer wunderbar absurden Szene ihre verborgenen sexuellen Interessen. Allerdings verliert der Film zum Ende an Drive, ausgerechnet wenn es ans Innerste des Protagonisten und an seine Jugend gehen soll. Wie schon beim Vorgänger Cronenberg, dem C.G. Jung-Film "A dangerous method", macht der Regisseur, der sich früher spektakulär in die Eingeweide des menschlichen Wesens wühlte, nun hauptsächlich Kopf-Kino.

24.5.12

Cannes 2012 Post Tenebras Lux, Carlos Reygadas

Ein leuchtend roter, mexikanischer Teufel trat etwa bei Carlos Reygadas' „Post Tenebras Lux" auf die Leinwand. Pures Licht. Pures Böse? Mit seinen eigenen, kleinen Kindern (und koproduziert von der Kölner Match Factory) erzählt der Mexikaner („Japon", „Battalla en el cielo") von einer aufs Land geflohenen Familie. Doch ihre Probleme im Bett und mit den Gewaltausbrüchen des wohlhabenden Mannes gegenüber seinen geliebten Hunden blieben nicht in der Stadt zurück. Der Titel, das calvinistische Motto "Licht nach der Dunkelheit", könnte sich auf eine Klarheit - samt Erinnerungen aus der Kindheit - kurz vor dem Tode beziehen. Könnte aber auch das Scheitern von Entwicklung sarkastisch kommentieren. Reygadas' tarkowskische Visionen einer paradiesischer Wiesenlandschaft gehören jedenfalls zu den Höhepunkten des Festivals: Ein kleines Kind spielt minutenlang im Nebel (und in seltsamen Tilt Shift-Unschärfen) zwischen Hunden, Pferden und Kühen, die in simpler Sprache von ihm benannt werden. Dass am Ende sich genau hier ein Mörder namens Sieben (Todsünden?) den Kopf abreißen wird, nachdem unter seinem Blick riesige Tannen niederkrachten, ist eindeutig der bösen Gegenwelt zuzuordnen. Aber das Rugby-Team - nicht das teuflisch rote, das andere - in der allerletzten Szene schreit "Wir werden siegen!" Die erste, verständnislose Reaktion zeitigte die heftigste Ablehnung im Wettbewerb - immer ein gutes Zeichen für ein besonderes Werk.

23.5.12

Cannes 2012 On the Road, Walter Salles


 

Jack Kerouacs "On the Road" hat Kultstatus. Als vor ein paar Jahren Walter Salles, der Regisseur, der "Die Reise des jungen Che" zu solch einem Erlebnis machte, mit Kerouac auf Tour ging, weckte das viele Erwartungen. Zudem war es ein Herzens-Projekt des Brasilianers, der er in einer Dokumentation Zeitzeugen und wichtige Leute wie Dennis Hopper über dies berühmte Buch befragte. Die Enttäuschung nach der Wettbewerbs-Präsentation von „On the Road" war deshalb umso größer.

Mit dem Text auf der Tonspur und einer Handvoll jungen Lesern, Säufern und Möchtegern-Literaten reisen wir über ein paar Jahre vom Ende der 40er bis in ein neues halbes Jahrhundert quer durch die USA. Antrieb der Ruhelosigkeit ist der vom Erzähler  Sal Paradise verehrte Lebemann und Frauenverbraucher Dean Moriarty, so wie die irgendwann endende Freundschaft der beiden auch das Herz des Buches ist. Doch der Film atmet nur in wenigen Szenen die große Freiheit der Straße. Es ist als wenn sein Konzept in Zeiten von Billigflieger von vornherein aufgegeben wurde. Nur ein paar exzessive Partyszenen vermitteln die Lebenslust, die viele Leser begeisterte. Da helfen auch die guten Schauspieler von Kristen Stewart über Kirsten Dunst, Viggo Mortensen, Sam Riley bis zum Dean-Darsteller Garrett Hedlund nicht drüber weg.

Cannes 2012 Tickets please?

Der erste Klang, wenn man sich dem momentanen Epicenter der Filmwelt
nähert, ist die Frage "Tickets please?" in einer endlos wiederholten
Mantra. Hunderte gedruckte oder selbstgemalte Schilder und flehende
Augen betteln um eine Eintrittskarte für die großen Filme des Tages.
In diesem Jahr sind iPads als Miniplakat gross im kommen. Andere
bieten ihren Gesang für eine Karte an, ein Akkordeon-Spieler
unterstützt mit einer romantischen Tonspur die Suche einer jungen
Frau: Sie wird Sie heiraten für ein Ticket. Und es klappt, die
Glückliche freut sich mit knallrotem Kopf. Das herzerweichende und
komische Amateuer-Theater steigert sich zum Abend hin, wenn es immer
mehr Smokings droht, draußen zu bleiben.
Dabei ist es die Kartenbeschaffung für die Akkreditierten in Cannes
schon nicht einfach: Wie an der Börse müssen jeden Morgen mit einem
persönlichen Punktekonto die Karten für den Tag ersteigert werden.
Gala ist am teuersten, dann geht der Preis runter in die kleineren
Säle. Wer seine Karte nicht nutzt, wird vom Computer für einen Tag
gesperrt. Dann doch lieber weitergeben. "Tickets please?" (ghj)

22.5.12

Medianeras

Argentinien, Spanien, BRD 2011 (Medianeras) Regie: Gustavo Taretto mit Javier Drolas, Pilar López de Ayala, Inés Efron 96 Min. FSK ab 6

„Medianeras" ist eine großartige, romantische Filmentdeckung, die abseits von den ausgetretenen Wegen und überaus vergnüglich das Zusammenkommen zweier vereinsamter Menschen in Buenos Aires bebildert. Und dies im wahrsten Sinne des Wortes: Der argentinische Festivalerfolg zeigt erst über fünf Minuten lang beste Architektur-Fotografie, unterlegt mit philosophischen Gedanken über Gebäude und wie sie die Menschen beeinflussen. Bis hin zu Depressionen und Selbstmord. Im Gegensatz zu diesen Außenansichten leben Martín (Javier Drolas) und Mariana (Pilar López de Ayala) isoliert meist innen, in ihren Appartements. Die liegen zwar im gleichen Komplex, doch treffen sich die beiden Suchenden immer gerade nicht.

Martín ist lichtscheu und lebt deshalb komplett im Internet, Sex inklusive. Selbst der kleine Straßenvollscheißer, den er pflegt, übernimmt seine Angst vor dem Draußen und anderen Artgenossen. Mariana, eine Architektin, die Schaufenster dekoriert und sich eine Puppe als Partner zuhause hält, knabbert an ihrer letzten Beziehung. Wie diese scheiterte, zeigt eine witzige Animation mit der abnehmenden Zahl fotografierter Momente in den verfließenden Beziehungsjahren. Überhaupt gelingt es dem argentinischen Regisseur erstaunlich leicht, mit immer neuen Bildideen zu erzählen. Mal verschwinden M&M in witzig verzerrten Webcam-Porträts, mal taucht sie aus einem beschlagenen Spiegel auf, dann wischt sie ihren alten Freund bei einer gegenläufigen Auflösung in einem Foto aus. Der so großartig visuelle Film sprudelt nur so vor schönen Einfällen, ganz wie die Wimmelbilder, in denen Mariana immer auf der Suche nach ihrem Freund Wally ist. Allerdings steckt sie selbst in einem riesigen Suchbild - das der vereinzelnden Stadtarchitektur, hinter der sich das Leben versteckt.

So erleben wir die Ängste der beiden, ihre Ausbruchsversuche, die misslingenden Bemühungen um eine neue Beziehung. Das ganze romantisch-schöne Leiden immer wieder unterbrochen von architektonischen Aufnahmen, die im Zusammenspiel mit den lakonischen Off-Kommentaren kongenial die Gefühlszustände der beiden Figuren spiegeln. Bis ihnen ein Durchbruch gelingt - wieder ist der Wortsinn genau zu nehmen. Ein Hinweis: Der Titel „Medianeras" bezeichnet spanisch die Brandmauern von Häusern, die meist ohne Fenster sind.

Gustavo Taretto inszenierte „Medianeras" voller toller Ideen und mit zwei sehr guten Hauptdarstellern auf Basis eines früheren Kurzfilms. Ein herrliches und herzliches Kino-Erlebnis.

21.5.12

Act of Valor

USA 2012 (Act of Valor) Regie: Mike McCoy, Scott Waugh mit Rorke, Michael, Dave, Ajay 111 Min. FSK ab 16

Dreister geht es nicht mehr: Ein Rekrutierungsfilm der US-amerikanischen Armee wird als Kinounterhaltung verkauft! Das kann nur aus einem Land kommen, in dem verzweifelte Arbeitslose schon als Jugendliche der Unterschichten zu unterhaltsamen Reisen nach Afghanistan oder in den Irak eingeladen werden. Sie haben nur eine Wahl: Arm dran oder Arm ab. An der deutschen Kinokasse kann man sich noch entscheiden, ob man Kriege mit Kinokarten quersubventioniert.

Die Idee muss irgendwelchen bleiverseuchten Hirnen beim Militär genial vorgekommen sein: Wenn wir schon Hollywood seit Jahrzehnten mit Kriegen und Kriegsgerät versorgen, können wir die Filmen doch gleich selber drehen. Und mit unseren eigenen (anonym bleibenden) Soldaten besetzen. Können sie allerdings nicht, schon gar nicht, wenn sie ehemaligen Stuntmen die Regie überlassen. Oder wie es der Amerikaner sagen kann: Filme „zu schießen", ist nicht so einfach wie Menschen erschießen.

Unter fast kompletter Negation von allem, was ein Spielfilm zum Erzählen braucht, werden Navy Seals, sogenannte „Elite-Soldaten", in materialaufwändige Einsätze geworfen. Der Trick zur Rechtfertigung der vermeintlich alternativlosen Mordaufträge ist uralt: Da wird eine Soldatin in drastischen Szenen gefoltert; da wollen ungewaschene, bärtige Selbstmordattentäter, die wahrscheinlich schlechtes Englisch sprechen, die USA in die Luft jagen. Nun darf das Militär zeigen, wie gut das Militär ist. Und am Ende kommt tatsächlich ein vor Pathos triefender Rekrutierungs-Spruch. Sollte hier nicht eher Blut triefen? Das ekelhafteste Kinoprodukt seit langem.

Moonrise Kingdom

USA 2012 (Moonrise Kingdom) Regie: Wes Anderson mit Bruce Willis, Edward Norton, Bill Murray, Frances McDormand, Tilda Swinton, Jason Schwartzman 95 Min.

Diese herrlich abgedrehte Komödie war bislang das größte Vergnügen von Cannes 2012, nun erobert „Moonrise Kingdom" bereits die Kinos. Der neue Film von Wes Anderson („Die Royal Tenenbaums", „Darjeeling Limited") erzählt von einer großen Jugend-Liebe. Größer ist nur noch die Detailverliebtheit, mit der die schöne Geschichte mit zahllosen verrückten Ideen und Handlungs-Twists ausgestattet wurde.

Auf einer imaginären Insel vor der Küste Neuenglands entdeckt im Jahre 1965 Oberpfadfinder Ward (Edward Norton) bei der nur etwas seltsamen Morgeninspektion die Spuren einer spektakulären Flucht: Der eigenbrötlerische Sam (Jared Gilman) scheint tagelang daran gearbeitet zu haben, ein Loch in die Zeltwand zu schneiden, das er geschickt mit einer Landkarte verdeckte. Nun bewegt sich der Junge mit einem geklauten Kanu und Proviant auf alten Indianerpfaden zu einem geheimen Treffpunkt. Denn unerkannt von Erwachsenen plante Sam diese Flucht mit Suzy (Kara Hayward), der Tochter des neurotischen Anwalts-Ehepaars Bishop. In einem magischen Moment trafen sich beide in der Garderobe eines Kindermusicals. „Noye's Fludde" (Noahs Flut) von Benjamin Britten wurde in der Kirche gegeben, die im großartig überdrehten Finale alle Protagonisten vor einer fast biblischen Überschwemmung beschützen wird. Doch erst finden sich Sam und Suzy in einem goldgelben Getreidefeld - eine dieser Szenen, die ganz großes Kino sind, auch wenn die romantischen Helden noch was wachsen müssen. Komisch dabei bleibt immer der Gegensatz vom nerdigen, etwas rundlichen Jungen mit dicken Brillenrändern und dem perfekt auf Femme Fatale geschminkten Mädchen mit betörend dunklem Lidschatten.

Doch die Handlung lässt kaum Zeit für genaue Betrachtungen, denn nicht nur die Mit-Pfadfinder, die Sam alle irgendwie hassen, sind auf seiner Spur. Auch der coole Captain Sharp (Bruce Willis), Sheriff der Insel, hat endlich was zu tun. Neben seiner Affäre, die er ausgerechnet mit Mrs. Bishop (Frances McDormand), Suzys Mutter, pflegt. Dass Mr. Bishop (Bill Murray) etwas ahnt, gibt ihm Gelegenheit zu Gefühlsausbrüchen, die in ihrer Skurrilität wohl nur Andersons Dauer-Schauspieler Murray hinbekommt. Etwas Konkurrenz macht ihm Tilda Swinton, hier im Designer-Hosenanzug mit passend blauem Häubchen in der Rolle als „das Jugendamt".

Sie tritt auf, weil Sam ja eigentlich Waise ist, der in Heimen gelernt hat, sich zu wehren. Das übertrifft wiederum nur Suzy, deren Wutanfälle kombiniert mit ihrer Linkshänder-Bastelschere tödlich sein können und Motorräder auf Baumspitzen versetzen. Klingt seltsam? Ist noch viel komischer und witziger! Wes Anderson entzündet ein Feuerwerk höchst origineller Einfälle in Handlung und Ausstattung. Dabei fängt er wie schon oft mit einer seiner „Puppenkasten-Szenen" an. Die Kamera fährt (fast ohne Schnitt) die (aufgeschnittenen) Zimmer der Bishop-Familie ab, blickt hinein in diese traumhaft ausgestatteten Kammern und folgt dem Treiben der großen und kleinen Wesen. Auf einer anderen Ebene wird Brittens "Young Persons Guide to the orchestra" aufgelegt. (Auch diesen tragbaren Plattenspieler möchte man unbedingt haben.) Die vorgestellten Familien der Instrumente ergeben ein Zusammenspiel mit der Handlung und ganz nebenbei ist der große Spaß auch ein komplex verflochtenes Gesamtkunstwerk, das Lachmuskeln strapaziert, für Gänsehaut sorgt und richtig glücklich macht.

20.5.12

Cannes 2012 Es Cannes besser nicht regnen…


Das ganz besondere Spektakel von Cannes wird wirklich besonders, wenn es wie Sonntagabend heftig regnet. So was gehört sich eigentlich nicht und es freuen sich nur die Regenschirmverkäufer, die überall aus dem Boden sprießen. Was für die Berlinale ganz normal ist, ist an der Cote d'Azur widernatürlich – man muss sich auf die Innenräume beschränken! Die werden dann auch ganz schnell voll mit begossenen Pinguinen – vulgo: Smoking-Träger – und anderen armen Vögeln, die unbedingt von einem Termin zum nächsten mussten. Für den Fototermin am Roten Teppich gibt es einen ganz großen und hohen Carport. Die letzten Meter sind allerdings auch für die Stars pitschenass. Der berühmte Teppich spritzt zurück wie überwässerter Kunstrasen. Die Fans müssen komplett ohne Dach auskommen. Der gemeine Kinobesucher, den keine französische Limousine vorfährt, wartet gerne mal eine halbe Stunde im Regen, denn ohne Schlangestehen geht nichts in Cannes. Die Treppen im Inneren des Molochs „Palais des Festivals" werden derweil besetzt. Occupy gegen den Regen? Laut Wetterbericht soll es helfen…

Cannes 2012 Antiviral, Brandon Cronenberg

Dieser Film kann nur in Cannes laufen: Brandon Cronenberg – ja, der Sohn – zeigt in der gar nicht so futuristischen Gesellschafts-Satire „Antiviral" eine Welt, in der sich die Menschen für viel Geld mit den Krankheitsviren der Stars infizieren lassen und in exklusiven Restaurants künstlich gezüchtetes Zellfleisch ihrer Idole verspeisen. Unappetitlich? Klar, das ist ein Cronenberg und der Adams-Apfel fällt nicht weit vom Stammhalter, um im Splatter-Terminus zu bleiben. Doch „Antiviral" ist trotz einige Ekel- und Blut-Szenen vor allem eine raffinierte und stringent gestylte Gesellschafts-Bespiegelung. Held der Handlung ist ein Verkäufer für Star-Viren, der diese heimlich mit im eigenen Körper mit nach Hause schmuggelt, um sie dem Schwarzmarkt zuzuführen. Allerdings muss erst der Kopierschutz geknackt werden, auch bei den Viren gibt es Piraten! Als der Krankheits-Klauer Blut beim Superstar Hannah Geist abzapft, zieht er sich einen tödlichen Virus rein und der nur vermeintlich clevere Dieb wird im Kampf zweier Konzerne um Viren-Patente zermalmt. Originell, witzig, gut inszeniert – wir werden Brandon wohl bald auch im Wettbewerb sehen.

Cannes 2012 Cannes Re-Torten

Cannes Re-Torten

Süß, ist sie die Motividee zum 65-Jährigen von Cannes: Marilyn Monroe bläst eine Kerze auf einer kleinen Torte aus. Inzwischen haben investigative Kollegen herausgefunden, dass dies eigentlich eher das Dokument einer der vielen tristen Momente ihres Monroe-Leben ist. Der Star war an seinem Geburtstag irgendwo auf der Welt auf Publicity-Tour bei einem Diktator und eher einsam als in Feierstimmung. Doch das soll die Stimmung nicht verbittern: In der riesigen Eingangs-Halle des Festivalpalais hängen zur Aufrechterhaltung des cineastischen Zuckerspiegels die schönsten Torten-Szenen der Filmgeschichte. Also nicht nur Marilyn, das immer ein gekickstes Happy Birthday, Mr. President" im Ohr. Bei der Tortenschlacht macht auch Orson Welles mit und ein anderer weiblicher Star hat seinen richtigen Platz gefunden, gemäß Festivalleitung als Tortenfüllung. Nur der Kaffee vom Sponsor, der mit dem Clooney, ist da ähnlich bitter. 

Cannes 2012 The Hunt, Thomas Vinterberg

The Hunt, Thomas Vinterberg

Ein Kindergärtner soll sich vor einem kleinen Mädchen entblösst haben. Doch er ist unschuldig. Eindeutig. Mit dieser Prämisse nimmt Thomas Vinterbergs Film direkt eine nicht unproblematische Position ein. Doch genau darum geht es beim sympathischen Lucas (Mads Mikkelsen), dem geschiedenen Kindergärtner, der von Klara, der kleinen Tochter seines besten Freundes Theo, so gemocht wird, dass diese einen Vorwurf erfindet, den Grethe, die unfähige Leiterin des Kindergartens, gierig zu einem Vorwurf macht und überall verbreitet. Der passionierte Jäger Lucas wird zum Gejagten, in einer Massenhysterie gibt es plötzlich mehr Vorwürfe. Alle Kinder beschreiben den gleichen Keller bei Lucas zuhause, das Sofa, die Tapete. Nur - das alles existiert nicht, Lucas' Haus hat keinen Keller! Trotzdem schlagen Väter den Verdächtigen im Supermarkt zusammen, er darf seinen 15-jährigen Sohn nicht mehr sehen und alle Freunde wenden sich von ihm ab.

"Die Jagd" ist die andere Seite von "Festen", der Missbrauchs-Geschichte von Vinterberg, die 1998 so sensationell einschlug. Sowie die erste Zusammenarbeit der dänischen Stars Mads Mikkelsen und Vinterberg in dessen siebtem Film. Sie passt gut zu dem Lynchmob, der kürzlich einen vermeintlichen Kindermörder selbst aburteilen wollte in Deutschland! Die unfassbare Situation der Jagd" ist glaubhaft erzählt, meist: Irgendein Bekannter Grethes führt ein regelrechtes Verhör mit Klara, legt ihr die erwarteten Worte in den Mund. Da gibt es andere Methoden und irgendwie vermutet man so beschränktes Verhalten nicht in Skandinavien. Doch die Wahrheit hat danach ebenso wenig eine Chance wie das Mädchen, das bald sagt, es sei nichts passiert. Das Vertrackte an der Situation ist, das selbst bei offensichtlicher Unschuld ein Zweifel bleibt. Wie vertrackt sie ist, zeigt eine Szene am Ende, nachdem sich alles aufgeklärt hat und man wieder gemeinsam feiert. Ein Küchenboden mit exzessivem Linienmuster liegt zwischen Lucas und Klara. Verdammt viele Linien, die man nicht überschreiten darf", meint Lucas und es geht längst nicht mehr um das Tritt-auf-keine-Linie-Spiel, das beide auf dem Nachhauseweg hatten. Lucas, der in der Extremsituation lange einen vernünftigen, aufrechten Weg suchte, findet auch hier eine Lösung, nimmt das Kind in den Arm und trägt es zum Papa. Eine ganz einfache Handlung, atemberaubend aufgeladen.

Cannes 2012 Liebe, Michael Haneke


Liebe - ein schönes, kleines, großes Wort: Liebe. Ein einfacher Filmtitel. So wie Michael Haneke die Welt zeigt, kann man allerdings Angst bekommen vor diesem Film. Der Regisseur aus Österreich drehte unter anderem die Jugend-Gewalt "Bennys Video", den Gesellschafts-Abschied "Der Siebte Kontinent", die Beobachtungs-Obsession mit kolonialem Hintergrund in "Cache" und die kaum erträgliche Gewalt-Analyse "Funny Games". (Als US-Remake gleich ein zweites Mal.) Hanekes letzter Film "Das weiße Band" füllt im Presseheft ganze drei Seiten - mit all seinen Preisen, angefangen mit der Goldenen Palme 2009.

Nun zeigt Haneke anscheinend ganz einfach, wie die alte Piano-Lehrerin Anne (Emmanuelle Riva) nach einer missglückten Operation halbseitig gelähmt ist und ihr auch nicht mehr fitter Mann Georges (Jean-Louis Trintignant) versucht, sie zu pflegen. Beziehungsweise es gibt kurz vorher einen Moment des gemeinsamen Lebens in Paris, voller Kultur und Austausch, dann kommen die Aussetzer bei Anne. Erst eine Hälfte des Körpers, dann die Sprache, dann liegt sie nur noch. Das Paar gehört zum wohlhabenden Bürgertum, Pflegerinnen sind bezahlbar, aber auch manchmal fürchterlich ruppig und ohne Einfühlungsvermögen. Die distanzierte und egozentrische Tochter Eva (Isabelle Huppert) kommt nur aus London vorbei, um alles besser zu wissen. Als Anne zu verstehen gibt, dass sie das quälende Füttern nicht mehr will, fasst Georges den Entschluss, dessen Ergebnis schon die erste Szene zeigte…

Wie Haneke dies Einfache, das oft verdrängte Altern und Sterben zeigt, ist ganz große Kunst. Der Holzhammer bleibt in der Schublade und man merkt trotzdem irgendwann, wie sehr man bei diesen Menschen ist, wie man alles einfach versteht, mitfühlt und es unter die Haut geht. Dabei ist „Liebe" in vielen Details raffiniert erzählt. So spiegelt eine alte Geschichte aus dem Jugendcamp, die Georges erzählt, mit einem Postkarten-Geheimcode für die Mutter, die Schwierigkeiten Annes wieder, ein Signal nach außen zu geben. Sowohl die innige Geistes-Gemeinschaft vor der Operation, wie auch das Verständnis nachher berühren dabei tief.

„Liebe" ist in diesem Stadium ein intensives Kammerspiel, nur die Landschaften in Öl zeigen etwas vom Draußen. Es ist auch in der Unfähigkeit der Tochter, zu kommunizieren ein typischer Haneke. Selbstverständlich intellektuell, die Bücherwand mit Noten und Schallplatten bildet den Rückhalt, Berührungen sind selten. Nur wenn der selbst humpelnde Georges Anne aus dem Rollstuhl in den Sessel hilft, dann ist das fast ein letzter Tanz der beiden Liebenden.

19.5.12

Cannes 2012 Beasts of the Southern Wild / Benh Zeitlin

Beasts of the Southern Wild / Benh Zeitlin

Nicht ganz neu, weil schon in Sundance gelaufen, aber sensationell gut ist der Außenseiterfilm Beasts of the Southern Wild" von Benh Zeitlin, der passend zum Thema am Rande des Festivals in der Nebenreihe Certain Regard" läuft.

Die sechsjährige Hushpuppy lebt mit ihrem Vater Wink im Marschland hinter einem Damm, der brave amerikanische Bürger schützt. Die anderen wohnen in der Bathtub", dem unregulierten Becken jenseits des Damms, also in der freieren Natur. Das kleine Mädchen hat eine eigene Hütte, die sie allerdings bald abfackelt, als ihr Vater wieder für einige Tage im Krankenhaus verschwindet. Das kleine Mädchen sucht selbständig Erklärungen für dies alles in der Natur, horcht nach dem Herzschlag von Tieren und Pflanzen. Hushpuppy sucht aber auch ihre Mutter.

Die kindlich fantasievollen Antworten, die wir im Off des Mädchens hören, gehen ins Magische, erzählen vom Schmelzen der Polkappen, einer großen Flut und riesigen prähistorischen Auerochsen, die heranstürmen. Die Flut kommt tatsächlich über die bunte Gemeinschaft von Trinkern, Verlorenen und überzeugten Außenseitern in Form eines heftigen Wirbelsturms. Und über Hushpuppy weil ihr Vater sterben wird.

Einer der eindrucksvollsten und atmosphärisch stärksten Filme von Cannes 2012 bislang erzählt die gelebte andere Seite des Levy", eines Dammes, der bei Katrina brach (was Spike Lee dokumentierte). Hier sprengen die sich freiwillig Ausgegrenzten ein Loch, damit die Flut abfließen kann, die Tiere und Pflanzen umbringt. Die Geschichte eines kleinen Mädchens erzählt neben vielen fantastischen, berührenden Momenten, tatsächlich auch von Globaler Erwärmung und dem Abschmelzen der Polkappen - im Kleinen. Der Film ist das Debüt des jungen Regisseurs Benh Zeitlin, der nachdem Katrina New Orleans zerstörte.

Cannes 2012 Lawless / John Hillcoat

Lawless / John Hillcoat

Der Musiker Nick Cave schrieb das Drehbuch zu dem packenden, brutalen, aber auch sehr durchschaubaren Gangster-Film Lawless" von Regisseur John Hillcoat (The Road" , 2009). Das mit Tom Hardy, Jessica Chastain, Guy Pearce, Gary Oldman, Shia LaBeouf und Mia Wasikowska ziemlich super besetzte Drama spielt 1931, mitten in der Prohibition im Bergdorf Franklin, Virginia. Hier wird an jeder Ecke illegal der Moonshine" gebraut, der in Chicago die ganz großen Gangsterkriege anheizt. Die drei Brüder Bondurant sind ganz groß, vor allem Forrest (Tom Hardy) ist so was wie der Pate der Schnapsbrenner und auch sonst Legende: Nachdem er als einziger seiner Truppe aus dem Krieg zurückkam, glaubt er selbst, er könne nicht sterben. Allerdings tritt Forrest ganz bescheiden in Strickjacke auf, bleibt im Grunzen immer einsilbig, wenn er nicht mit einem Wortschwall Gegner ablenken muss, bevor er mit seinem Schlagring, blutig Eindruck macht.

 

Auch wenn der kleine Bruder Jack (Shia LaBeouf), der als Kind kein Schwein erschießen konnte, mehr Verantwortung und Vertrauen im gesetzlosen Geschäft will, ist die Welt bei diesen Hillbillies in Ordnung. Die Polizisten bekommen ihren Schluck vom Kartoffelschnaps ab, bis der sadistische Special Agent Charlie Rakes (Guy Pearce) mit noch brutaleren Methoden Prozente abkriegen will und einen grausamen Krieg auslöst.

 

Wenn Gary Oldman auf der Dorfstraße zum Maschinengewehr greift und den Ford T seiner Verfolger stilvoll durchlöchert, ist das hochprozentiger Gangster-Stoff. Auch Jessica Chastain hat als Mädchen mit Vergangenheit einen starken Auftritt. Klar, dass sie mit Forrest zusammenkommt, auch wenn er ewig braucht. Klar wie alles andere, wie die Verletzungen der Nebenfiguren, die Bedrohung der Frauen, die Spirale der Gewalt. Dass diese, höchst brutal, effektiv mitreißt, ist als billiges Mittel nicht zu billigen, und auch sonst fühlt man sich öfter vorgeführt mitten im Film. Denn zu offensichtlich sind inszenatorische Brechstange und Entwicklung. Dabei schießt übrigens Shia LaBeouf in starker Ensemble-Umgebung den Vogel und schließlich auch das Schwein ab. Wie sich sein Jack vom ängstlichen Bübchen über eitlen Fatzke zum entschlossenen Killer wandelt, ist gekonnt.

Cannes 2012 Dupa Dealuri (Hinter den Bergen) / Christian Mungiu

Dupa Dealuri (Hinter den Bergen) / Christian Mungiu (Rumänien)

Nach einer realen Geschichte erzählt Christian Mungiu im Wettbewerb wieder von zwei Freundinnen in einer extremen Situation. War es im Cannes-Sieger von 2007 "Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage" eine in Rumänien verbotene Abtreibung, spielt sich nun ein unausgesprochenes Beziehungsdrama in einem ärmlichen Kloster ab und führt zum Mord durch Exorzismus. Das klingt nach Hans-Christian Schmids Requiem" mit Sandra Hüller und auch der Gegensatz zwischen moderner Welt und abergläubischen Traditionen ist ähnlich: Als Alina in den kargen Hütten des kleinen Ordens ankommt, ist ihr Geschenk deplatziert wie sie selbst: Für die elektrische Kerze gibt es hier keinen Strom. Die junge Frau kommt verstört aus Deutschland zurück und will Voichita abholen. Sie waren zusammen im Waisenhaus des nächsten Örtchens und wohl auch mal ein Paar. Nun ist Voichita religiös geworden, redet von Sünde und Beichte, distanziert sich und arbeitet heimlich gegen den Abreiseplan. Die Zugfahrt verpassen sie, weil Alina einen Anfall bekommt, schreit und um sich schlägt. Das Krankenhaus vermutet Schizophrenie, schickt die Frau aber zur Erholung wieder zum Kloster, das nicht mehr als ein Bauernhof mit einer noch nicht geweihten Kirche ist. Dort tut die verzweifelte Arina alles, um mit Voichita zusammen sein zu können, will sogar in den Orden eintreten. Während Voichita sich feige hinter der Religion versteckt und sich nie klar äußert. Der Liebeswahn wird vom lange Zeit bedächtigen Obersten als teuflische Besessenheit interpretiert und mit tödlichen Folgen ausgetrieben. Die anderen Frauen jammern dazu oder schauen ängstlich aus dem Häubchen hervor. Dieses Frauenbild ist auch das eigentlich Verstörende an dem Film, der einige Andeutungen sehr offen lässt. (Was ist mit dem deutschen Herrn Pfaff, der von den Mädchen im Waisenhaus Fotos macht und ihnen eine Kamera schenkt?) In diesem Ausschnitt der rumänischen Gesellschaft warten sie verzweifelt auf einen fremdbestimmten Platz im Kloster, ganz wie im Mittelalter. Der Orden erweist sich aber nur minimal als caritative Institution, ist vor allem um den eigenen Erfolg als Glaubens-Unternehmung besorgt. Mungiu inszenierte dies mit guten Darstellern und einer sehr wirkungsvollen Tonspur, aber dehnt die sehr übersichtliche Geschichte auf über zweieinhalb öfters lange Stunden aus. Dazu ein recht absurdes Ende und fertig ist doch eine Unzufriedenheit im Wettbewerb.

18.5.12

Cannes 2012 Reality / Matteo Garrone

Die Wirklichkeit verliert, der Wettbewerb gewinnt

Cannes. Schein oder Sein - das ist vor allem in Cannes immer eine Frage, die sich aufdrängt beim frenetischen Jubel für sehr viele, sehr schöne Menschen. Womit haben die sich das verdient, fragt der protestantische Geist und staunt über italienische Begeisterung für einen Big Brother-Sieger im Wettbewerbsfilm Reality". Enzo ist dort und auch in der echten Realität eine Berühmtheit. Die ganze, große Familie des neapolitanischen Fischverkäufers Luciano bewundert ihn, findet aber auch, dass Papa, der nebenbei Geld mit Clownereien auf Hochzeiten verdient, selber in den Container sollte. Als er zum Casting nach Rom eingeladen wird, jubelt nicht nur das Viertel bei seiner Rückkehr. Auch der energische, junge Mann dreht völlig ab, vermutet überall Beobachter von der Produktion und verkauft schon mal sein Geschäft. Nur der gläubige  Angestellte und Freund Michelle bleibt auf dem Boden und meint, wir werden alle beobachtet - Gott sieht uns. Das ist nur ein raffinierter Twist von vielen, mit denen Matteo Garrone seiner exzellent gespielten Komödie Tiefgang gibt. Sie spielt tatsächlich auf mehreren Ebenen, nicht erst wenn am Ende die Kamera wieder in den Himmel geht und zum Auge Gottes wird. Garrones Vorgänger Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra" gewann 2008 den Großen Preis der Jury in Cannes und sahnte danach auch bei den Europäischen Filmpreisen mächtig ab. (ghj)

 

Cannes 2012 Paradies: Liebe (Ulrich Seidl)

Frustrierender Liebes-Kauf

Paradies: Liebe

Cannes. Der Österreicher Ulrich Seidl, der mit irritierenden und provokanten Schein-Dokumentationen wie Import Export" (2007), Jesus, Du weißt" (2003) oder Tierische Liebe" (1995) bekannt wurde, präsentiert mit Paradies: Liebe" im Wettbewerb der 65. Filmfestspiele von Cannes den ersten Teil einer Trilogie über Frauen einer Familie, die unterschiedliche Urlaube machen. In "Paradies: Glaube" ist es eine Missionarin und in "Hope" ein Teenager im Diät-Camp. Die "Liebe" suchen in Kenia vier frustrierte, einsame Frauen bei jungen, schwarzen Männern, die mit fadenscheinigen Geschichten Geld für Liebes-Spiel erhalten. Das ist in den besten Momenten eine verspätete Huldigung zu Gerhard Polts Geburtstag, wenn die Damen Erfahrungen austauschen: Die Neger sehen alle gleich aus, aber an der Größe kannst du sie unterscheiden." Die sexuelle Implikation dieses demaskierten Rassismus ist volle Absicht und auch im Bild wird der Film derart deutlich. Die an Originalschauplätzen mit Schauspielern und Laien ohne vorgegebenen Text improvisierten Szenen erschöpfen sich allerdings in Wiederholung. Vielleicht hätte Seidl seine über 80 Stunden Material doch lieber zu einem Film komprimiert und auf die Trilogie verzichtet. Cannes-Starter Laurent Cantet hatte das Thema der umkehrten Geschlechter-Ausbeutung schon 2005 mit In den Süden" und Charlotte Rampling wesentlich dichter behandelt. (ghj)

17.5.12

Cannes-Eröffnung mit Pauken-Schlag

Cannes. Ein Fest mit großem Staraufgebot, dazu ein Spektakel für Augen und Ohren im Kino war die Eröffnung der 65. Filmfestspiele in Cannes. Für die wichtigste Nebensache dabei, sorgte Regisseur Wes Anderson mit seinem genialen Kunstwerk „Moonrise Kingdom", ein bis ins kleinste Detail verschrobenes und verspieltes Romantik-Abenteuer zweier exzentrischer Jugendlicher.

Doch vor den Film hat der Cannes-Gott den Roten Teppich mit den am häufigsten fotografierten Treppenstufen der Welt gesetzt  - "Les Marches" schwärmt der Franzose. Den Sexismus (eines Wettbewerbs ohne Regisseurinnen) auf die Spitze trieb Alec Baldwin, der seine Verlobte (in den Medien auch ohne Namen), die Stufen zum Palast hochtrug. Man kann diesen Wesen auch nicht zumuten, wie Jury-Mitglied Diana Kruger auf der Suche nach irgendeiner Hochzeit, exorbitante Schleppen selbst zu schleppen. Oder es länger in gemeingefährlichen High Heels auszuhalten. Dagegen sollen übrigens spezielle Einlage-Sohlen helfen, mit denen ein "Gift Store" im Hilton Hotel Stars beschenkt, die sich hierhin verirren. Passender Name der heißen Sohlen: Red Carpet - Roter Teppich! Bill Murray setzte seine spezielle Note beim Verkleidungszwang mit einer knallbunten Fliege. Wer seine vergessen hat, bekommt im Supermarkt ein Billigst-Modell für nur 35 Euro!

Murray glänzt auch im neuen Wes Anderson Wettbewerbs-Starter „Moonlight Kingdom" wieder mit Verschrobenheit. Wie aus einem Puppenhaus ganz großes Kino wird, ist das wunderbare Erlebnis, dass Wes Anderson zur Eröffnung in Cannes präsentierte: Absonderliche Familien zeigte er schon in den „Royal Tenenbaums" und in „The Darjeeling Limited". Nun paart er solch einen herrlich skurrilen Haufen mit noch etwas schrägeren Pfadfindern, macht das Ganze zu einer Benjamin Britten-Oper, mischt Motive von Tiermärchen unter und verbreitete in Design und Farben der 60er Jahre großen Spaß. Um reinzukommen, lasse man einfach „Le Temps de l'Amour" von Françoise Hardy anklingen.

Es ist das Jahr 1965 und in 3 Tagen wird ein historischer Wirbelsturm über diese Region hereinbrechen. Der Pfadfinder-Flüchtling Sam (Jared Gilman) und die zwischen depressiv und cholerisch schwankende Suzy (Kara Hayward), Tochter einer Anwaltsfamilie Bishop, haben ihr Abenteuer auf der Neuengland-Insel lange vorbereitet. Während er im Stile von „Die Verurteilten" aus dem Zelt mit einem absurden Loch, um das eigentlich eine Wand gehört, abhaut, kommt sie mit Koffer, Katze und tragbarem Plattenspieler zur romantisch vernebelten Bucht, die später Moonrise Kingdom genannt wird. Die beiden ungewöhnlichen Teenager verhalten sich weiterhin nicht nach der Regel "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing" und tanzen zu Françoise Hardy den Rock ihrer ersten Liebe. (Dieser Genitiv-Kalauer musste sein.)

Wie noch nie zuvor gelingt es Wes Anderson, seine eigenwilligen Visionen mit ganz allgemeingültigen Gefühlen zu verbinden. Wie immer bewegt sich bei ihm die Kamera durch die bis ins kleinste Detail liebevoll konstruierten oder restaurierten Räume eines sehr großen Puppenhauses. So mussten Zelte im Schottenmuster her und auch die Requisiten sind so, dass Bill Murray zugibt, einige geklaut zu haben. Insgesamt ein Dekor, ein ganzer Film zum sich Reinsetzen - wohlgemerkt nicht ins Kino, das ist selbstverständlich, direkt in den Film will man, in das Haus der Bishops oder in die Bucht von Sam und Suzy.

Auf einer ganz anderen Ebene wird ganz am Anfang des Films Brittens "Young Persons Guide to the orchestra" aufgelegt. Die Familien der Instrumente sowie Percells Variantionen dazu  ergeben ein Zusammenspiel mit der Handlung, das man sich noch mal in Ruhe anhören muss. Ko-Autor Roman Coppola ist übrigens ein zweites Mal im Wettbewerb, bei Walter Salles "On the Road" war er Produzent.

 

Längst war die Bühne, auf der Beth Ditto einen Auftritt hatte, wieder vom Glamour befreit, als die Presse bekam an gleicher Stelle zum Frühstück das heftige Drama „De Rouille et d'os" mit einer großartigen Marion Cotillard vorgesetzt. Die Piaf- und Coco Chanel-Darstellerin spielt im neuen Film vom Cannes-Sieger Jacques Audiard ( „Ein Prophet") eine Orca-Trainerin, der bei einem Unfall beide Beine abgebissen werden. Das ist extrem heftig inszeniert und tatsächlich wichtiger als ihre unbedeckten Brüste, die das Boulevard interessierten. Noch wichtiger eigentlich die Hauptrolle vom Flamen Matthias Schoenaerts („Bullhead"), der einen Kickboxer spielt, der sich weder um die am Boden zerstörte Frau noch um seinen kleinen Sohn kümmert - außer wenn er seine Fäuste einsetzen kann, um den ins Eis eingebrochenen Kleinen zu retten. Zwischen den Spielorten Côte d'Azur und Ardennen, zwischen großen Namen und intensivstem Autoren-Drama packt der sehr starke Film in fast jeder Szene. Stärker noch: Er haut um, schockt, bewegt, erschüttert.

„De Rouille et d'os"  ist übrigens der erste von zwei Startern im Wettbewerb, die aus Lüttich stammen. Eine Produktionsfirma ist "Les Films de Fleuve" der Brüder Dardenne. Sie sind irgendwie immer in Cannes, auch wenn sie gerade keinen neuen Film haben. So wie Bouli Lanners, der Regisseur und Darsteller aus Lüttich, diesmal mit einer endlich ernsten Rolle als Kampf-Manager der  tragischen Hauptfigur.

Außerhalb des Wettbewerbs enttäuschte Cannes-Liebling Fatih Akin: Für seine „Heimat"-Doku „Der Müll im Garten Eden" drehte er fünf Jahre im türkischen Dorf Camburnu, aus dem seine Eltern stammen. Ein politischer Beschluss machte aus den idyllischen Hügeln am Schwarzen Meer eine Hölle aus Gestank, Tierplagen und schwarzem Grundwasser.  Der Film stellt zwar den aussichtlosen Kampf der – vor allem – Frauen aus dem Ort dar, schafft es aber nicht, über den Tellerrand hinaus zu blicken. Das Wort Müllvermeidung fällt kein einziges Mal. Das hinterlässt keinen besonderen Footprint im Festivalgeschehen und man kann sich ganz aufgeräumt wieder dem Wettbewerb widmen. Ulrich Seidls  „Paradies: Liebe" ist hoffentlich verführerischer.

 

 

14.5.12

Our Idiot Brother

USA 2011 (Our Idiot Brother) Regie: Jesse Peretz mit Paul Rudd, Elizabeth Banks, Zooey Deschanel, Emily Mortimer 90 Min. FSK o.A.

Ned (Paul Rudd) ist ein herzensguter Kerl. So gut, dass er auf einem „farmers market" bei New York einem Polizisten ein Tütchen Gras schenken will, weil der Mann in Uniform ja so gestresst ist... Damit wandert Ned nicht nur in den Knast, nach der Rückkehr schmeißt ihn auch die total alternative Superegoistin aus Beziehung und Biobauernhof raus. Schlimm ist dabei vor allem Neds herzzerreißende Trennung von seinem geliebten Hund Willy Nelson. Nach diesem Auftakt kommt der Latzhosen-Mann bei seiner netten, toleranten Familie unter. Da gibt es die Mutter, eine lesbische und zwei andere Schwestern, nur keine finanzielle Unterstützung für den schrecklich naiven Späthippie, der aussieht wie ein kleiner Bruder des Dude Lebowski. Sie werden es alle bereuen, die Schwesterlein - drei jede auf eigene Art schrille Ladies, die sich in ihrer extremen Selbstsucht ähneln. Ohne allzu viel zu tun oder zu wollen, außer nett und naiv zu sein, sprengt Ned wunderbar sanft die Leben seiner Schwestern.

Die liebevoll komische Geschichte vom Narren, der immer die Wahrheit sagt, ist zwar voll im Heute situiert, könnte aber auch Märchen oder eine Parabel sein. Ein erfrischend komisches Märchen, das keine Nebenfiguren hat und durchgängig großartig besetzt ist. Selbstverständlich begleitet von Willie Nelson-Liedern. Allerdings nimmt auch Ned Schaden, bei zweiten Mal ist es kein Versehen, dass er seinem Bewährungsoffizier von einem Joint erzählt. Die Nachricht aus dem Knast an die Familie lautet „Go, fuck yourselfs" - Ihr könnt mich mal! Dass sich nun alle plötzlich bessern und ihrem Leben eine andere Richtung geben, ist etwas zu viel des Guten. Ebenso, dass Willi Nelson am Ende auf der Hundewiese eine Dolly Parton trifft.

Hanni & Nanni 2

BRD 2012 Regie: Julia von Heinz mit Jana Münster, Sophia Münster, Heino Ferch, Suzanne von Borsody, Anja Kling, Katharina Thalbach, Carolin Kebekus 90 Min. FSK o.A.

Never change a winning Lindenhof! „Hanni & Nanni 2" ist der eineiige Zwillings-Film zum ersten Kinoerfolg und wird wieder die kleinen Zuschauer begeistern. Minimale Variationen erhalten die Freundschaft, obwohl Lilli, die nervig laut singende Cousine, sich wenig Freunde macht, als sie jetzt auch in Lindenhof ist. Anfangs gibt es reichlich Verwicklungen, so erfährt Lilli von ihrer Mutter, dass Hanni und Nannis Eltern sich
getrennt haben und plaudert dieses an Hanni aus. Die will ihre Schwester schützen und verrät nichts, was nur Probleme einbringt. Das Internat ist immer noch in Geldnöten, Teile sind schon als Schafweide verpachtet, wobei es es nicht nur Schafe auf der Wiese gibt. Alles gipfelt darin, dass Nanni durch eine Verwechslung entführt wird. Sie ruft Hanni zu Hilfe, denn die Kinder spüren, dass die Erwachsenen grad mit sich selbst beschäftigt sind...

Nach dem gleichen Konzept wie bei Film 1 werden einige Problem auf- und am Ende wieder abgebaut, ansonsten alles Friede, Freude, Butterkuchen beim friedlichen Lindenhofidyll mit den vielen bunten Farben. Das allerdings so rasant schnell, dass man kann kaum Luft holen kann. So kann die Filmserie problemlos bis Teil 100 fortgesetzt werden.

Lachsfischen im Jemen

Großbritannien, 2011 (Salmon Fishing in the Yemen) Regie: Lasse Hallström mit Ewan McGregor, Emily Blunt, Amr Waked, Kristin Scott Thomas, Tom Mison 108 Min. FSK ab 6

Herrlich, wie dieser verstaubte britische Beamte Dr. Alfred Jones (Ewan McGregor im Tweed) seine Zeit im Büro absitzt und den perfekten Angelwurf übt. Er sitzt ja auch im Landwirtschafts-Ministerium seine Zeit ab. Und in einer weder besonders leidenschaftlichen, noch freuvollen Ehe. Ausgerechnet den muss die flotte Harriet (Emily Blunt), die gerade von einem stürmischen Soldaten erobert wurde, für ihren reichen, arabischen Auftraggeber überzeugen, Lachse im Jemen anzusiedeln. Denn dieser Scheich (Amr Waked) hat mal eine andere Vision: Keine Formel 1-Strecke, keine Palmen-Insel, nein, ein Strom voller Lachse soll durch die Wüste fließen. Der Scheich angelt gerne, nicht nur auf seinem schottischen Schloss. Da auch die britische Außenpolitik gerade ein weiteres Desaster in Afghanistan erlebt, entdeckt die Presse-Chefin des Premierministers (Kristin Scott Thomas) die völlig bescheuerte Fisch-Umsiedlung als „positives Projekt britisch-arabischer Zusammenarbeit" und schmeißt ihm auch ein paar Millionen hinterher...

So schön bescheuert wie die ganze Aktion hat Drehbuchautor Simon Beaufoy („127 Hours", „Slumdog Millionär") die Figuren und die Dialoge geschrieben, die dies alles ironisieren. Vor allem Kristin Scott Thomas ist als Presse-Tusse Patricia Maxwell so gnadenlos zynisch und herrisch, dass man wünscht, es sei ihr Film. Aber, man möchte einen von Patricias deftigen Flüchen ablassen, dieses filmische Fischen im Erfolgsbuch vom ehemaligen Ingenieur Paul Torday, wird als romantische Komödie verkauft und erreicht auf diesem Terrain die Trockenheit der immer mal wieder schön gefilmten jemenitischen Lokalitäten. Wie der nerdige Sonderling Alfred und die lebensfrohe Harriet zusammenkommen, kann man höchstens mit der Liebe für ein gemeinsames Projekt erklären, dem der Scheich trotz einiger Reden und weiser Sprüche (während er bis zum Bauch im Wasser steht und angelt) keinen tieferen Sinn abgewinnen kann. Hier, vor den geplanten Traumkulissen, versandet nicht nur der spöttische Schwung der Geschichte, es wird sogar ärgerlich, wenn dem Märchenscheich eine unfassbar naive Revolte entgegengesetzt wird. Dieses Buch entstand weit vor der Arabellion!

Lachse schwimmen gegen den Strom. Lasse schwimmt immer mit dem Main- und dem Hallström. So kann man die Erkenntnis in einen Satz verkalauern, dass der sehr talentierte schwedische Regie-Veteran („ABBA - The Movie") immer wieder Bestseller auf ansehnliche Kinoerfolge eindampft. Sei es „Schiffsmeldungen" (2001), „Chocolat" (2000) oder Ivings „Gottes Werk & Teufels Beitrag" (1999) - immer denkt man, so banal kann doch das Buch nicht gewesen sein. „Das Feld der Träume" will auf diesem Wüstenboden nicht angehen. Der kleine melodramatische Ausflug in Richtung Nicolas Sparks, als Harriets Soldat vermisst wird, vermittelt zu wenig echtes Gefühl. Abba, verzeihung: Aber wenn nur die Chemie funktioniert hätte, dann würde man alles andere tolerieren. Doch Ewan ist nur niedlich und während man Harriet nicht wünscht, als zweite Ehefrau an dieser Seite zu versauern, weiß man, seit „Young Victoria" (2009) und „Sunshine Cleaning" (2008), dass auch Emily Blunt mehr kann. So will man dauernd zurückschalten, zu Alfreds Chef Bernhard, der verzweifelt versucht, 10.000 Lachse von fanatischen schottischen Anglern loszueisen. Und zur Medien-Zicke Patricia, die selber auch entschieden hätte, alle anderen ertrinken zu lassen, damit es ihr Film wird.

11.5.12

Marley

USA/Großbritannien, 2012 (Marley) Regie und Buch: Kevin Macdonald 145 Min. FSK ab 6

Der Schotte Kevin Macdonald erzählt in mehr als zwei packenden Stunden das Leben der Reggae-Legende Bob Marley (1945-1981). Obwohl aus Marleys Jugend in ärmsten Verhältnissen auf Jamaika kaum Dokumente existieren, schafft es der Regisseur vom „Last King of Scotland" und Cutter der You-Tube-Kompilation „Life in a Day" mit vielen originellen Geschichten ein ambivalentes Bild des weltweit verehrten Musikers zu zeichnen. Dabei müssen die Hits wie „One Love" oder „No woman, no cry" gar nicht ausgespielt werden, ebenso faszinierend wie der musikalische Siegeszug eines von allen Seiten verachteten Mischlings - „German Boy" nannte man den Weißhäutigen - ist die religiöse Komponente des Rastafari und die persönliche eines Mannes, der immer behauptete, keinen Ehrgeiz zu haben, aber seine elf Kinder von sieben Frauen beim Wettrennen immer schlagen musste. In kommentierenden Einblendungen und über die pointiert gewählten Aussagen der Zeitzeugen steckt keine Mystifizierung sondern überraschend viel Humor. Sogar bis zum tragischen Ende, als der schwer krebskranke Jamaikaner, der zwischendurch auch mit der Miss World 1976 zusammen war, ausgerechnet in der Klinik eines obskuren holistischen Arztes im oberbayrischen Rottach-Egern eingeschneit zu sehen ist.

Macdonald ist Enkel der Regie-Legende Emeric Pressburger und feiert die Premiere des Films bei der Berlinale 2012 während seine Frau Tatiana am gleichen Abend in London den Britischen Filmpreis für das beste Produktions-Design erhielt.

Die Kunst zu lieben (2011)

Frankreich, 2011 (L'art d'aimer) Regie und Buch: Emmanuel Mouret mit François Cluzet, Frédérique Bel, Julie Depardieu, Emmanuel Mouret, Pascale Arbillot 88 Min.

Eine Melodie des Verliebens soll es geben, erzählt ein Komponist zu Beginn des Films. Er selbst erweckt bei seinen Zuhörern die Erinnerung daran, obwohl er die Melodie selbst nie gehört habe. So ähnlich wirkt dieser in freundlichster Auslegung „nette" Episodenfilm, der Liebe konjugieren will, aber nie ein Gefühl dafür hervorruft. Selbstverständlich findet sich dies alles postkarten-schön in Paris, der Stadt der Liebesversuche.

Da drängt die Freundin der untersexten Frau quasi den Freund fürs Bett auf - nur leihweise wohlgemerkt, und es sei ja nur wie eine Massage. Was in der geschickten Montage des Films erst ein Traum war, wiederholt sich für Isabelle bald ganz real. Eine andere Geschichte amüsiert sich an den Liebes-Schmerzen eines jungen Paares. Nach einem ziemlich unnötigen Eifersuchts-Streit einigen sie sich auf ein Gleichgewicht des Schreckens. Doch keiner nutzt den Freifahrtschein und nun tun beide so als gingen sie fremd, während sie beim Doppelselbstbetrug einsam gequält im gleichen Café sitzen, ohne voneinander zu wissen. Eine glückliche Mutter überzeugt die Freundin davon, mit ihrem aufdringlichen Verehrer anonym ins komplett abgedunkelte Bett zu gehen, mit sehr verdrehten Folgen. Beim komödiantischen Schauspiel am überzeugendsten sind die holperigen Annäherungsversuche zweier Nachbarn: Achille (François Cluzet) und seine neue, sehr lustvolle Anwohnerin (Frédérique Bel) kommen immer wieder nicht zueinander, weil sich beide als schwierige Spontaneitätsbremsen erweisen. Mit Judith Godréche („Das Schmuckstück") oder Julie Depardieu („Ein Geheimnis") sorgen auch weiteren gute französische Darstellern für das gekonnte Spiel mit den Wirrungen und Irrungen ums große Gefühl. Die große Kunst des Liebesfilms ist das Werk des routinierten Regisseurs Emmanuel Mouret („Küss mich Bitte") dabei allerdings nicht. Eher eine nette Nichtigkeit.

Kill me please

Frankreich, Belgien 2010 (Kill me please) Regie: Olias Barco mit Aurélien Recoing, Benoît Poelvoorde, Muriel Bersy, Nicolas Buysse 96 Min. FSK ab 16

Selbstbestimmt Sterben ist besonders in Deutschland ein heikles Thema. Da tut der fast anarchische, aber auf jeden Fall herrlich schwarz-humorige Umgang von „Kill me please"gut: Im winterlichen Dekor erwartet ein altes Hotel auf dem Lande seine Gäste. Die sind allerdings hier im Geiste von „Hotel California" „You can check out anytime you like, but you can never leave". Lebend jedenfalls kommen sie hier nicht raus, weil Dr. Krueger (Aurélien Recoing) seiner erlesenen Kundschaft einen schönen, selbstbestimmten Tod anbietet. In der einzigartigen Einrichtung wirkt der Todeswunsch auf den ersten Blick dekadent. Ein bekannter Regisseur (Benoît Poelvoorde) gibt vor, unheilbar krebskrank zu sein, nur um aufgenommen zu werden. Ein Intellektueller stirbt beim Sex mit einer Studentin. Dies war sein letzter Wunsch.

Der immer gefasste Anstaltsleiter Krueger, der seine Emotionen beim Joggen ausschwitzt, sieht sich als Künstler, der erst in Zukunft anerkannt wird. Er ist aber auch ehrlich begeistert, als eine Kundin einfach nach Hause will. Was sich plötzlich als schwierig erweist, weil die Dorfbevölkerung gegen das Sterben in der Klinik aufbegehrt, indem sie alle abknallen will.

Die Logik der braven Bürger ist herrlich einleuchtend im Sinne der Schildbürger: Wir wollen nicht, dass ihr euch umbringt, deswegen erledigen wir das! Das hat was vom Staat, der Selbstmord-Versuche mit der Todesstrafe belegt. Der skurril komische und dabei verblüffend kluge Film steigert die schizophrenen Situationen: Die Asthmatikerin, die eigentlich wieder leben wollte, muss außer Atem fliehen. Bei immer mehr ungeplanten Todesfällen durch Kopfschuss wird die Farce zu einem Krimi. Denn auch eine Dame von der Finanzpolizei ermittelt wegen Erbschleicherei.

Der ganze Aufstand hat was von Frankenstein, aber auch den ebenso scharfsinnigen wie -züngigen Witz von Gesellschaftssatiren wie „Clockwork Orange". „I hired a contract Killer" heißt es hier gleich mehrfach, wobei das aberwitzige Motto „Ich bin lebensmüder Star - holt mich hier raus" mit sehr sorgfältigen Personenzeichnungen (von Rapper bis zur alternden Diva) und gutem Schauspiel (u.a. Bouli Lanners und Saul Rubinek) unterfüttert ist. Auch wenn die Komödie schon sehr bitter ist, die Menschen zu Tieren wurden und der Horror ist da, bleibt „Kill me please" trotz viel Blut dank passendem Schwarzweiß gnädig. Bis zur letzten, sozial und gesamtwirtschaftlich bitteren Note.

Kill me please ****

Frankreich, Belgien 2010 (Kill me please) Regie: Olias Barco mit Aurélien Recoing, Benoît Poelvoorde, Muriel Bersy, Nicolas Buysse 96 Min. FSK ab 16

Selbstbestimmt Sterben ist besonders in Deutschland ein heikles Thema. Da tut der fast anarchische, aber auf jeden Fall herrlich schwarz-humorige Umgang von „Kill me please"gut: Im winterlichen Dekor erwartet ein altes Hotel auf dem Lande seine Gäste. Die sind allerdings hier im Geiste von „Hotel California" „You can check out anytime you like, but you can never leave". Lebend jedenfalls kommen sie hier nicht raus, weil Dr. Krueger (Aurélien Recoing) seiner erlesenen Kundschaft einen schönen, selbstbestimmten Tod anbietet. In der einzigartigen Einrichtung wirkt der Todeswunsch auf den ersten Blick dekadent. Ein bekannter Regisseur (Benoît Poelvoorde) gibt vor, unheilbar krebskrank zu sein, nur um aufgenommen zu werden. Ein Intellektueller stirbt beim Sex mit einer Studentin. Dies war sein letzter Wunsch.

Der immer gefasste Anstaltsleiter Krueger, der seine Emotionen beim Joggen ausschwitzt, sieht sich als Künstler, der erst in Zukunft anerkannt wird. Er ist aber auch ehrlich begeistert, als eine Kundin einfach nach Hause will. Was sich plötzlich als schwierig erweist, weil die Dorfbevölkerung gegen das Sterben in der Klinik aufbegehrt, indem sie alle abknallen will.

Die Logik der braven Bürger ist herrlich einleuchtend im Sinne der Schildbürger: Wir wollen nicht, dass ihr euch umbringt, deswegen erledigen wir das! Das hat was vom Staat, der Selbstmord-Versuche mit der Todesstrafe belegt. Der skurril komische und dabei verblüffend kluge Film steigert die schizophrenen Situationen: Die Asthmatikerin, die eigentlich wieder leben wollte, muss außer Atem fliehen. Bei immer mehr ungeplanten Todesfällen durch Kopfschuss wird die Farce zu einem Krimi. Denn auch eine Dame von der Finanzpolizei ermittelt wegen Erbschleicherei.

Der ganze Aufstand hat was von Frankenstein, aber auch den ebenso scharfsinnigen wie -züngigen Witz von Gesellschaftssatiren wie „Clockwork Orange". „I hired a contract Killer" heißt es hier gleich mehrfach, wobei das aberwitzige Motto „Ich bin lebensmüder Star - holt mich hier raus" mit sehr sorgfältigen Personenzeichnungen (von Rapper bis zur alternden Diva) und gutem Schauspiel (u.a. Bouli Lanners und Saul Rubinek) unterfüttert ist. Auch wenn die Komödie schon sehr bitter ist, die Menschen zu Tieren wurden und der Horror ist da, bleibt „Kill me please" trotz viel Blut dank passendem Schwarzweiß gnädig. Bis zur letzten, sozial und gesamtwirtschaftlich bitteren Note.