27.3.12

Das bessere Leben

Frankreich, Polen, BRD 2011 (Elles) Regie: Malgoska Szumowska mit Juliette Binoche, Anaïs Demoustier, Joanna Kulig 99 Min.

Mit „33 Szenen aus dem Leben" und „Leben in mir" beeindruckte die polnische Regisseurin Malgoska Szumowska eindringlich. Für ihr neuestes Werk „Das bessere Leben" erhielt sie erneut die Unterstützung der Filmstiftung NRW und konnte Juliette Binoche als Hauptdarstellerin einsetzen. Der französische Star spielt die erfolgreiche Pariser Journalistin, Ehefrau und Mutter Anne (Juliette Binoche) bei der Recherche über das Leben von Studentinnen, die sich mittels Prostitution finanzieren. Es sei „wie mit den Zigaretten - schwer aufzuhören" ist einer der unaufgeregten Kommentare von Lola und der Polin Alicja. Während die Redaktion zur Abgabe drängt, die beiden Söhne versorgt werden wollen und ein repräsentatives Abendessen für den Mann vorbereitet werden muss, lassen Rückblenden die Gespräche und das Leben der jungen Frauen einfließen.

Geschickt wird Frauen-Leben miteinander verglichen, pointiert dessen zeitweilige Absurdität herausgestellt. Während Lola alles mit Leichtigkeit zu nehmen scheint, braucht Alicja, deren Mutter als verkörpertes schlechtes Gewissen sogar zu Besuch kommt, viel Wodka. Und irgendwann sieht man auch ein speziell männlich-weibliches Dienstverhältnis darin, dass Anne ihrem Vater im Pflegeheim die Füße massiert. Dabei kommt dies alles nicht dogmatisch oder kämpferisch daher, es wird mit einer schönen Leichtigkeit erzählt. Szumowska bleibt jedoch trotz viel nackter Haut und einigem Sex weniger offen und emotional als in dem sehr bewegenden „33 Szenen aus dem Leben". Die nicht so neue Erkenntnis, dass sich alle Frauen irgendwie prostituieren, wird aber mit vielen witzigen Momenten garniert, vor allem, wenn Binoches Anne an den Tücken des Haushalts scheitert. Das Schlussbild, eine Fantasie mit lauter nackten Freiern am Tisch, die Jacques Préverts „Les feuilles mortes" singen, ist ein echter Leckerbissen.

The King of Devil’s Island

Norwegen, Frankreich, Schweden, Polen 2010 (Kongen av Bastøy) Regie: Marius Holst mit Stellan Skarsgård, Benjamin Helstad, Kristoffer Joner, Trond Nilssen, Magnus Langlete 116 Min. FSK ab 12

Was für ein großartiges und trauriges Bild: Nach tagelanger Jagd wird ein Wal mit drei Harpunen im Körper erlegt. Seine Haut ist voller Narben. Auch den jungen Seemann Erling (Benjamin Helstad) zeichnen Narben und blaue Flecken als er 1915 in der norwegischen Erziehungsanstalt Bastøy für jugendliche Delinquenten ankommt. Auf der Gefängnisinsel führt Bestyreren (Stellan Skarsgård) ein strenges, religiös unterfüttertes Regime. Die Jungens werden durchnummeriert und haben keine Namen mehr, gleich der erste Gedanke des angeblichen Mörders an Flucht wird brutal mit Schlägen auf die Handflächen bestraft. Die Wege der beiden Neuankömmlinge unterscheiden sich: Der trotzige, kräftige Erling wehrt sich gegen die Unterdrückung, während der ängstliche, feingliederige Ivar (Magnus Langlete) regelmäßig vom „Hausvater" Bråthen (Kristoffer Joner) vergewaltigt wird. Zwar ringt sich Olav (Trond Nilssen), als C-1 der verantwortliche Junge von Baracke C, durch, dem Direktor zu melden, was alle wissen, doch niemand will ihn hören. Wodurch für den gequälten Ivar nur noch der Selbstmord bleibt. Dem Opfer die Schuld gegeben, es sei nicht stark genug für unsere Gesellschaft. In einer großen Solidaritäts-Szene müssen die Jugendlichen, moralisch reifer als die Erwachsenen, selber für Gerechtigkeit sorgen. Eine echte Revolution, ein blutiger Aufstand der Geknechteten, gegen die der Staat gleich ein ganzes Kriegsschiff schickt und mit einem Heer die Kinder wieder einfängt. Dabei sind die meisten Soldaten auch nicht viel älter.

Marius Holsts vierter Spielfilm ist ein Gefängnisdrama, das in Sachen Analyse der rigiden Gesellschaften vom Anfang des 19. Jahrhunderts durchaus mit „Das weiße Band" verglichen werden kann. Und auch in seiner klaren, gradlinigen und packenden Erzählweise der „Flucht von Alcatraz" ebenbürtig ist. Ein großes, in dunklen blauen und brauen Farben sehr sorgfältig inszeniertes Werk. Hauptdarsteller Benjamin Helstad sieht aus wie ein junger, pummeliger Robert Redford und man kann auch an dessen frühen Film „Der Unbeugsame" denken. Ein weiterer Fokus auf den von Stellan Skarsgård eindrucksvoll gespielten Direktor, der versucht, gerecht zu sein, den Ansprüchen seiner fordernden Frau zu entsprechen und den Tod eines Jungen verschuldet, weil er nicht entschlossen gegen den Päderasten handelt. Weniger als die realen Aufnahmen der Anstalt Bastøy vor dem Abspann erschrecken die Überlegungen, dass so was heute immer wieder passiert, in Besserungsanstalten in den USA beispielsweise. Und dass die Folgen noch immer in Menschen stecken.

26.3.12

The Music never stopped

USA 2011 (The Music never stopped) Regie: Jim Kohlberg mit J.K. Simmons, Lou Taylor Pucci, Julia Ormond, Cara Seymour 105 Min.

Musik ist die beste Zeitmaschine, das beweisen unzählige „Weißt du noch-Momente" bei vielen Songs. Der wunderbare kanadische Film „C.R.A.Z.Y." nahm beispielsweise den gleichnamigen Hit von Patsy Cline als Grundlage, das schwierige Verhältnis eines Vaters zu seinen Söhnen zu zeigen. Söhne, deren Vornamen sich mit C.R.A.Z. und Y. buchstabieren lassen. Nun erzählt „The Music never stopped" basierend auf der Fallstudie „The Last Hippie" von Dr. Oliver Sacks zwar etwas eindimensionaler aber ebenso rührend von Vater und Sohn, die über Musik wieder zueinander finden.

Am Anfang stand das Lied, bei dem sich Henry (J.K. Simmons) und seine Frau Helen (Cara Seymour) kennenlernten. Hab ich dir schon erzählt... fragt Henry seinen kleinen Sohn Gabriel immer wieder, wenn der Song im Radio erklingt. Dann, Ende der 60er Jahre, zerreißt der Vietnam-Krieg auch diese Familie. Gabriel (Lou Taylor Pucci) haut ab und es dauert zwanzig Jahre, bis er wieder auftaucht. Mit einem Gehirntumor liegt er im Krankenhaus, nach der Operation hat das Gedächtnis stark gelitten, der Patient kann keine neue Erinnerungen aufnehmen, kaum kommunizieren und ist in einem engen Zeitfenster gefangen. In seiner Verzweiflung wendet sich Henry an die Musiktherapeutin Dr. Dianne Daly (Julia Ormond) und der Beatles-Song „All You Need is Love" wirkt Wunder: Gabriel erwacht aus dem autistischen Zustand, beginnt das Lied zu erklären und erzählt von früher. Wobei „All You Need is Love" symptomatisch für die weitere Entwicklung von Vater und Sohn sein wird...

Diese Geschichte erinnert nicht nur ein wenig an „Zeit des Erwachens" („Awakening", 1990), die Verfilmung des Buches vom britischen Neurologen und Schriftsteller Dr. Oliver Sacks mit Robert De Niro und Robin Williams. Das phasenweise Erwachen Gabriels wird ausgelöst von tollen Liedern, aber auch immer mehr von den Grateful Dead, die zu seiner Lieblingsband wurden. Das entsetzte den Vater fast so sehr wie das Verbrennen der US-Flagge oder Gabriels Vegetariertum. In musikalischen Rückblenden zur Schulzeit oder zur eigenen Band entfernen sich die beiden immer mehr. Jetzt, arbeitslos und mit dem Sohn in einer Pflegeeinrichtung, überwindet sich Henry, tauscht die eigene Plattensammlung gegen „Neues", also was aus den 60ern. Täglich hören sie gemeinsam Musik, Gabriel erklärt Bob Dylans „Desolation Row" und auch der Vater verlässt so die Zeit, in der er eingesperrt war.

Schön ist dabei nicht nur das zwischenmenschlich Menschelnde, es macht auch Spaß, wie treffend die Lieder und das Persönliche ineinander greifen. Die Marseillaise steht nicht ohne Grund am Anfang (von „All you need is love"), weil sie auch für Freiheit steht. Für eine kleine Liebesgeschichte gibt es mit Paul Simons „Cecilia" das passende Lied. Der häufige Humor des Films kommt überraschenderweise mit trockenem Witz von Gabriel selbst. Die Besetzung überzeugt auch ohne Star-Glamour mit J. K. Simmons als liebevollem Vater, einem selbst hinter dickem Bart eindrucksvollen Lou Taylor Pucci als rebellischem Sohn und „Fräulein Smilla" Julia Ormond als Therapeutin sehr. Wie immer bei Sacks ist die Geschichte auch populärwissenschaftlich aufschlussreich. So fällt der Patient nur anfangs sofort wieder in Lethargie zurück, später aktiviert die Therapie auch wieder sein Kurzzeitgedächtnis. (Wie Musiktherapie wirken kann, zeigt übrigens sehr schön ab Ende Mai die anders bewegende Dokumentation „Der Garten der Klänge" mit dem Schweizer Wolfgang Fasser.) So hört „The Music never stopped" auch nach dem Filmende nicht auf zu wirken und wird, wenn schon kein Superhit, so doch ein Evergreen, den man immer wieder auflegen kann.

Die Piraten - Ein Haufen merkwürdiger Typen

Großbritannien, USA 2011 (The Pirates! Band of Misfits) Regie: Peter Lord 88 Min. FSK: o.A.

Johnny Depp als Knetfigur? Mitnichten! So was kommt uns nur ins Flaschenschiff. Diese Piraten aus der berühmten Aardman-Werft sind noch verrückter als die Kollegen aus der Karibik. Sie können rückwärts einparken mit dem Schiff und haben Kanonen mit Münzeinwurf. Klar, denn Strippenzieher der animierten Knethelden der sieben oder so Weltmeere ist Peter Lord, der schon mit „Arthur Weihnachtsmann", „Hennen rennen" sowie „Wallace & Gromit" begeisterte.

Die Wahl zum Piraten des Jahres steht an und die schillernde Konkurrenz trägt ganz dick auf, parkt teilweise mit dem Wal direkt vor der Spelunke. Die Mannschaft des Piraten Kapitän genannten Piraten-Kapitän ist dagegen ein peinlicher Haufen. Gerade mal 12 Dublonen und ein gratis Kuli werden auf seinem Steckbrief geboten. Doch obwohl ihr Anführer laut verlacht wird, steht seine treue, aufmunternde Truppe zu ihm. Vor allem Nummer Zwei ist auch ein wenig Psychiater, eigentlich sieht das verdammt nach betreutem Piraterien aus, was die so treiben. Zur Crew gehören außerdem ein Fisch mit Piratenhut, ein „überraschend kurvenreicher Pirat" mit verdächtig hoher Stimme und vor allem der Papagei Polly, der - obwohl faul und dämlich - zum Star des Films wird. Man hätte ihn auch „Die Piraten und das Geheimnis des Dodo" nennen können.

Nur der gemeinsame Schinken-Abend erheitert noch die erfolglose Truppe, denn die Seeräuberei bleibt eine lange Flaute. Bis Piraten Kapitän nach zahllosen vergeblichen und umwerfend komischen Enterversuchen auf Darwins Beagle trifft. Der erkennt kurz bevor er über die Planke geht, dass Polly kein Papagei, sondern der wohl letzte lebende Dodo der Welt ist. Nun will Piraten Kapitän unbedingt zur Royal Society in London, weil er bei „nicht mit Gold aufzuwiegen" nur Gold verstanden hat. Erst als Pfadfinderinnen und dann als verrückte Wissenschaftler verkleidet, ziehen sie in die Höhle des Löwen. Denn Königin Victoria hasst Piraten und ist auch sonst ein Biest, mit dem nicht zu scherzen ist. Die erste Gefahr droht allerdings von Darwins zum Hausdiener beförderten Affen, der irgendwie aussieht, als seien sie miteinander verwandt. Das führt zu einer famosen Action-Verfolgungsjagd mit Badewanne und einem Kopf von der Osterinsel im Treppenhaus-Labyrinth.

„Die Piraten" präsentieren nicht nur ein See-Bombardement komischer Ideen, der ganze Familien-Spaß begeistert auch mit seiner Detailverliebtheit bis in die kleinsten Ritzen der hintersten Planken. Da ist das Spiel mit alten See-Karten, wobei die roten Punkte, die Käpitäns Strecke markieren, eigenhändig von der Crew ausgeworfen werden. Auch das Seemonster, laut Darwin nur zur Dekoration eingezeichnet, wiederholt seinen großen Auftritt aus dem Trailer. Der Ausflug nach London bietet nicht nur Königin Victoria auf einem Pony, in einer Seemanns-Spelunke treffen sich Jane Austen und der Elefantenmensch. Historisch nicht ganz korrekt, aber ansonsten ein nettes Paar. Was ausbleibt, ist das erwartete Zitatfestival etwa mit dem Tauchgang des „Roten Korsar" Lancaster.

„Die Piraten" - und das ist neu bei Aardman - können aber jetzt auch ganz groß, etwa wenn
Königin Victoria 1 an einem titanischen Schaum-Berg aus Backpulver und Essig zerschellt. Da ist der Spaß-Film auch für einen Moment politisch, wenn die rücksichtslosen Weltherrscher ganz im Sinne von Occupy und Anonymus einen Haufen Torten ins Gesicht bekommen. Nur der dick ausgelegte Musikteppich (Theodore Shapiro) nervt öfters, erst hier wünscht man sich die technisch bedingte Reduktion alter Episoden von „Wallace & Gromit" zurück. Ob 3D für die Aardman-Filme mit ihrem ganz speziellen Humor ein Gewinn ist, bleibt fraglich. Auf die Piraten-Fahne mit den herausspringenden Augen kann man gerne verzichten. Auf den tollen Film sollte man auf keinen Fall verzichten.

25.3.12

Die Frau in Schwarz

Großbritannien, Kanada, Schweden, 2011 (The Woman In Black) Regie: James Watkins mit Daniel Radcliffe, Ciarán Hinds, Janet McTeer, Shaun Dooley 95 Min.

Das ist der Hammer: Daniel Radcliffe ohne Nickelbrille! Und wenn Zauberei zu Horror mit dem Vorschlaghammer wird, weicht der Schrecken schnell Peinlichkeit und ungewolltem Lachen.

Während im Teaser noch zu schönem Horror mit Spieluhrmusik drei Mädchen aus dem Fenster springen, verliert der Film sofort jedes Maß. Schon im nächsten erkennbaren Bild setzt Harry Potter sich vor dem Spiegel ein Rasiermesser an den Hals, während ihn eine geisterhafte Frau aus dem Spiegel anspricht. In späteren, schön gefilmten Einblendungen erfahren wir, dass der junge Anwalt Arthur Kipps (Daniel Radcliffe) seine Frau bei der Geburt des Sohnes verloren hat.

Wir sind im 19. Jahrhundert, Kipps schaut immer traurig drei und erhält ganz im Sinne moderner marktliberaler Gnadenlosigkeit eine letzte Job-Chance, an der Küste den Nachlass von Alice Drablow zu regeln. Von den einheimischen Dörflern nicht gerade freundlich begrüßt, verfolgen Kipps bald weitere Erscheinungen. Aus dem Dunkeln, das in allen Ecken herrscht, blicken Gestalten, ebenso aus fast blinden Fenstern und den Spiegeln. Der seltsam furchtlose Kipps jagt fortwährend diese Schatten, obwohl ihm das ausgeredet wird. Selbstverständlich übernachtet er in dem verlassenen Haus auf einer Insel, die übers Watt nur bei Ebbe erreichbar ist, und auch sonst wie die britische Version von Mont St. Michel aussieht.

Dort quietscht und stöhnt es im Gebälk, Schaukelstühle rumpeln heftig ohne Besitzer, der arme Anwalt kann keine Minute arbeiten, weil wirklich immer etwas Schauriges passiert. Da das nicht im Schrecken, sondern in seinem Übermaß schier unerträglich ist, sei kurz zusammengefasst, was Kipps in alten Briefen entdeckt: Jennet, der Schwester der Besitzerin des Hauses, wurde ihr Kind genommen, bevor es im Watt ertrank. Die Mutter wurde wahnsinnig und trieb nach ihrem Dahinscheiden als Frau in Schwarz die Kinder der Gegend in den Tod. Nun wartet Kipps darauf, dass sein Söhnchen aus London kommt...

Spannend? Nun ja, wenn man Shakespeares Sonette im Original lesen kann, während Hardrock zu laut dröhnt, entdeckt man beim Reizüberfluss der „Frau in Schwarz" vielleicht auch was Reizvolles. Hier steht ein veritables Geisterhaus, das so offensichtlich schauerlich ist, dass es schon langweilt. Ein erstaunlicher Effekt bei derartiger Hardcore-Erschreckung. Überdeutlich wirkt alles immer gruselig in Bild und Ton. Einiges, wie die verstaubten und ausgebleichten Räume, sieht aus wie klassischer Gothic Horror. Doch Regisseur James Watkins, der Erfahrung mit härteren Stoffen hat, bringt bei dieser Produktion des wiedergeborenen Hammer-Labels die moderne Unsitte des „Zuviel" mit. Wenn die drei (mechanischen) Affen immer wieder losscheppern, wird ihr Sinnbild verständlich: Zu viel Hören, zu viel Sehen, zu viel Reden. „Die Frau in Schwarz" hat nicht das feine Raffinement von „Sleepy Hollow" oder „The Others". Eigentlich von Anfang an klar, denn der Billig-Horror der Hammer-Produktionen belastete sich nie mit großem Anspruch.

Radcliffe Potter kann kein besonderes schauspielerisches Vermögen ausgraben und daher auch den Film nicht rausreißen. Dazu kommen handwerkliche Mängel der Produktion, Kipps bewegt im Gegenschuss-Bild noch den Mund, während auf der Tonspur schon der Dialogpartner dran ist. Und so ist auch der Film schon vergessen, während er noch läuft.

Der perfekte Ex

USA 2011 (What's your number?) Regie: Mark Mylod Anna Faris, Chris Evans, Ari Graynor, Dave Annable 102 Min. FSK ab 12

Es ist ein seltsames Ding mit dem Sex - im amerikanischen Film: Die ganze Zeit über wird ziemlich viel und explizit drüber geredet, während man kaum nackte Haut sieht. Außer bei Allys Nachbar von Appartement 6A (schon wieder eine dieser Anspielungen). Nun ist zu erwarten, dass man über die Synchronisation in Deutschland noch prüder werden will als die Amerikaner. Ansonsten ist „Der perfekte Ex" - im Original expliziter: What's your number? - eine mittelmäßige Nummernrevue der Komikerin Anna Faris, die vor allem als Schreihals aus den „Scream"-Horrorparodien bekannt ist.

Das hat frau davon, wenn sie ihre moralischen Leitlinien nicht bei Emmanuelle (Kant) sondern bei Brigitte oder Petra sucht: Ally Darling (Anna Faris) gerät in Panik, weil „ihre Nummer" - die Zahl der Sexualpartner - über dem angeblichen Durchschnitt liegt. Bei zwanzig soll endgültig Schluss sein, der Mann fürs Leben muss jetzt her. Ihr cooler Nachbar Colin Shea (Chris Evans) macht den Detektiv für die Web 2.0-Suche nach dem Richtigen unter den ehemaligen Zwanzig. Selbstverständlich wissen wir längst, dass er es selbst ist. Aber einstweilen schmunzelt man über den kumpelhaften Umgang miteinander und das perfekte Zusammenspiel beim Rauswerfen seiner One-Night-Frauen.

Gemäß der bescheuerten Prämisse des Films sucht Ally nun ihre Ex-Lover auf. In Washington ein Studienfreund, der sie sofort heiraten will - als Cover, weil die Welt reif für einen schwarzen Präsidenten ist, aber nicht für einen schwulen schwarzen Präsidenten. In Miami praktiziert der Gynäkologe, der Ally erst mit seinem beruflichen Fachblick zwischen die Beine wiedererkennt. Und als guter Running Gag läuft ihr immer der einst peinliche und vollgefressene Freund über den Weg.

„What's your number?" - Der perfekte Ex - lebt von der komischen Nummer Anna Faris. Die Ulknudel mit der im Original herrlich rauen Stimme wirkt wie eine Slapstick-Komödiantin, die mal einen richtigen Film machen darf. Was einige Frische in das Format dieser Romantischen Komödien bringt, die aber nur jeweils eine Szene hält. So sind einige Momente ganz witzig, alles zusammen aber extrem ausgelutscht. Und letztendlich wird jeder freche Spaß schnell wieder in das restriktive Rom-Kom-Korsett gequetscht, wie in ein zu enges Brautkleid. Da braucht man sich gar nicht aufregen über moralische Zwangsvorstellungen Allys, die nebenbei fast den ganzen Film säuft.

21.3.12

Wer weiß, wohin?

Frankreich, Libanon 2011 (Et maintenant, on va où?) Regie: Nadine Labaki Claude Baz Moussawbaa, Layla Hakim, Nadine Labaki 102 Min. FSK ab 12

In einem staubigen arabischen Dorf nimmt der Trauermarsch alter und junger Frauen in Schwarz das Schlagen auf die Brust zum Rhythmus eines klagenden Tanzes auf. Mit dieser fantastischen Szene beginnt Nadine Labaki, Regisseurin der libanesischen Frauen-Frisörsalon-Komödie „Caramel", ihre märchenhafte Geschichte über das Entstehen von Glaubenskonflikten, die in witzigen, fast surrealen Szenen einige Weisheit entwickelt. Der neu installierte, alte Fernseher bringt die Idee des Glaubenskrieges in die Gemeinschaft, die im Libanon angesiedelt ist, und auch mal Ähnlichkeiten zur den Figuren von „Asterix" aufweist. Wir befinden uns auf (historisch) gefährlichem Terrain, über eine Schlucht führt ein schmaler Grat zu Dorf, vermint mit Warnschildern, als die Jugendlichen auf den Hügeln Satelliten-Empfang suchen. Beim Rauskramen des verstaubten Fernsehers fällt die heilige Jungfrau zu Boden - ein Vorzeichen? Denn die Leichtigkeit der Geschichte mit schönem (im arabischen Original belassenen) Liebesduett eines jungen Paars endet jäh sobald Unruhen in der Hauptstadt verlauten. Schon das Radio meldet Verletzte, wird aber sabotiert, bevor die Männer etwas mitbekommen. Als die nur für Handwerk und Leidenschaft geeigneten Männer sich aufstacheln lassen, versuchen die Frauen listig das Testosteron der Gatten zu bremsen. Die Frau des Bürgermeisters spricht mit der heiligen Maria, nachdem Ziegen die Kirche verwüstet haben und Blut im Weihwasser war. Doch dies und auch die Table-Dancer aus der Ukraine fruchtet nicht. Die ultima ratio ist eine radikale Maßnahme, die Religion herrlich weiblich in Frage stellt: Die arabischen Töchter Lysistratas wechseln den Glauben, der Christ beziehungsweise Muslim muss erkennen, dass die andere Seite gar nicht anders ist. Bis zum letzten Satz und falsch übersetztem Filmtitel: „Und jetzt, wohin?" gelingt Nadine Labaki (selbst als leidenschaftliche Café-Chefin Amale im Film) mit tollen Darstellern eine Mischung aus Leichtigkeit und Lamento über bescheuerte, doch trotzdem mörderische Konflikte, die wir den Religionen zu verdanken haben.

Dracula - Pages from a Virgin's Diary

Kanada 2002 Regie: Guy Maddin mit Wei-Qiang Zhang, Tara Birtwhistle, David Moroni, CindyMarie Small 80 Min.

Guy Maddin dreht Filme, die aussehen wie aus der Stummfilmzeit, zuletzt bei der Berlinale „Keyhole" mit Isabella Rossellini und Udo Kier. „Dracula" ist jedoch ein uneigentlicher Guy Maddin, denn Ausgangspunkt ist die Aufführung "Dracula" des Royal Winnipeg Ballet. Maddin, der aus Winnipeg stammt und seine meisten Filme dort ansiedelt, adaptiert das Tanztheater in seiner eigenen Weise. Die Bilder sind schwarz-weiß bis auf das Blut, das rot fließen wird. Die Musik stammt von Gustav Mahler und das Gesamtkunstwerk entwickelt sich zum einzigartigen Erlebnis: Tanz, Mahler, die Dracula-Geschichte Bram Stokers und der Film als ein wunderbares Ganzes, das viel mehr als die Summe der Teile ist.

19.3.12

Take Shelter

USA 2011 (Take Shelter) Regie: Jeff Nichols mit Michael Shannon, Jessica Chastain, Tova Stewart, Shea Whigham 125 Min. FSK ab 12

„Other Earth", „Melancholia" - war es das schon in Sachen Weltuntergang ausgerechnet in 2012? Nein, „Take Shelter" übernimmt den Stab, der über unseren Planeten gebrochen wird, auf beeindruckend spannende Weise. Eine ganz neue Art von meteorologischem Psychothriller.

Gewaltige, großartige Wolkenformationen, heftige Schauer, mit gelbem, öligem Regen. Riesige Starenschwärme in Panik. Eindrucksvolle Naturereignisse bestimmen die Leinwand in „Take Shelter". Atemlos verfolgt man schon in der ersten Szene, wie Curtis (Michael Shannon) zu dem bedrohlichen Wolken-Ungetüm hinaufstarrt. Immer ist der Himmel groß im Bild. Auf der anderen Seite dringt die Kamera in den Mikrokosmos des menschlichen Verstandes, wenn die Träume von Curtis wieder und wieder für Schrecken sorgen. Auch hier drohen Wolken, ein Sturm zieht auf. Dabei verursacht der Biss seines Hundes im Traum Curtis noch den ganzen Tag Schmerzen in der Realität!

Curtis ist kein Spinner, sondern ein Anpacker und Macher ebenso wie ein liebender Vater seiner taubstummen Tochter Hannah (Tova Stewart). Zuerst verheimlicht er seine Probleme vor seiner Frau Samantha (Jessica Chastain), lässt sich Medikamente verschreiben, denn die Angst ergreift ihn auch, weil bei seiner Mutter Schizophrenie ausbrach, als sie in seinem jetzigen Alter war. Immer mehr beeinflussen die Alpträume mit schrecklichen Visionen sein Handeln. So weit, dass seine Umgebung ihn für verrückt hält. Trotzdem wird der jahrelang ungenutzte Schutzkeller hinten im Garten umgebaut und erweitert. Da braut sich eindeutig was zusammen. In der Atmosphäre oder im Kopf von Curtis?

Auch dieser Film ist ein Anpacker, ergreift von ersten Moment an, verstärkt die spannende und auch unheimliche Atmosphäre zunehmend. „Take Shelter" hat etwas von Night M. Shymalans Filmen, besonders von „Signs", bleibt aber in jedem Moment glaubwürdig. Der Druck auf der Arbeit, die Sorge um die Tochter, die Geldprobleme der Familie spielen immer ihre Rolle. Fast wünscht man sich gegen die alltäglichen Sorgen die typische Film-Katastrophe herbei. Alles besser als diese Selbstzerstörung eines Menschen. Bis die nächste heftige Horror-Vision kommt. „Take Shelter" funktioniert auf zwei Schienen, in zwei Welten und beide sind höchst spannend.

Dem Hauptdarsteller Michael Shannon gelingen sehr, sehr eindrucksvolle Szenen. Der Schauspieler, der bislang in zahlreichen Nebenrollen („Bad Lieutenant - Cop ohne Gewissen") auftauchte, bekommt hier endlich Raum für eine ganz große Nummer. Jessica Chastain hatte 2011 mit „Tree of Life", „Wilde Salome", „The Help" und „Eine offene Rechnung" ihr Jahr. Hier gerät sie als zweifelnde Partnerin fast an den Rand der Aufmerksamkeit. Was aus Curtis' Perspektive verständlich wirkt, ist aus der Sicht der Frau völlig bescheuert und verantwortungslos. Die beiden Perspektiven halten sich bis zum sehr schön offenen Ende spannend die Waage. Ein toller Film von Regisseur und Autor Jeff Nichols, dessen Vorgänger „Shotgun Stories" aus 2007 leider nie in deutsche Kinos kam. Aber der nächste Film „Mud" ist schon abgedreht und soll 2013 laufen - Selbstverständlich wieder mit Michael Shannon sowie Reese Witherspoon und Matthew McConaughey.

18.3.12

Die Tribute von Panem

USA 2012 (The Hunger Games) Regie: Gary Ross mit Jennifer Lawrence, Josh Hutcherson, Liam Hemsworth, Woody Harrelson, Elizabeth Banks, Lenny Kravitz, Stanley Tucci, Donald Sutherland 142 Min.

Wissen diese Marketing-Menschen eigentlich nicht, dass man all diese „Bestseller" auch mal einfach „Buch" nennen kann? Nun gut, der letzte Teil der Trilogie „Die Tribute von Panem", „Flammender Zorn" von Suzanne Collins, stand im Januar 2011 drei Wochen auf Platz 1 der Bestsellerliste eines deutschen Magazins. Doch von da ist es weit zu „Harry Potter" oder „Herr der Ringe", und zu solch einem Erfolg soll der düstere Jugendbuch-Stoff „Panem" künstlich aufgeblasen werden.

„Die Tribute von Panem" drehen sich um die zukünftigen USA, in denen das mächtige Kapitol zwölf Distrikte unterdrückt. Der Name des Landes Panem leitet sich ab von „panem et circenses" (Brot und Spiele), hierin liegt auch das Herrschaftsprinzip, an dem selbst der Schlächter Stalin Spaß gehabt hätte: Die zwölf kolonial ausgebeuteten Distrikte müssen jedes Jahr jeweils einen Jungen und ein Mädchen abliefern, die sich mit anderen Opfern in modernen Gladiatoren-Kämpfen bei einer Live-Übertragung gegenseitig abschlachten. Dieses Jahr meldet sich die rebellische 16-jährige Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence) freiwillig, um ihre kleine Schwester zu retten.

Schon bei der Fahrt im futuristischen Schwebe-Zug zum Kapitol wird klar, dass es im Kampf der 24 Tribute nicht um Waffenbeherrschung geht, darin wäre die Halbwaise Katniss, die ihre Familie mit Wilderei ernährt, recht erfahren. Das ganze Spektakel in der absurd reichen Hauptstadt funktioniert auch nach den Regeln des Show-Geschäfts. So sorgt ein Team aus dem ehemaligen Sieger und heutigem Alkoholiker Haymitch Abernathy (Woody Harrelson), schrillen Kosmetikern sowie dem Stylisten Cinna (Lenny Kravitz) für einen flammenden Einzug der zwei Gladiatoren aus dem Kohle-Distrikt. Katniss und Peeta (Josh Hutcherson), der effektvoll seine heimliche Liebe zur Mitkämpferin enthüllt, starten als Underdogs, können aber letztendlich die „Hunger Games" sogar zu zweit gewinnen. Eine Regeländerung sorgte in der menschenverachtenden Vergnügung zuerst für bessere Quoten, dann stellte sich Katniss klug gegen die Regeln und zieht sich für zwei Fortsetzungen den Zorn des Präsidenten Snow (Donald Sutherland) zu.

Abtrünnige Teilstaaten kennen die USA zu genüge, so sieht es in der allerletzten der zwölf, vor mehr als 70 Jahren besiegten konföderierten Destrikte aus wie hinter der Hütte eines Südstaaten-Slums. „Panem" selbst spannt sich stilistisch von grauer Armut und Naturidyll über Anleihen beim Faschismus bis hin zur bunten Pop-Welt von „Das fünfte Element". Inhaltlich ist die düstere Polit-Fabel für Jugendliche eine Mischung aus Casting-Shows, dem Spiel mit Medien-Welten - siehe „Truman Show" - sowie zynischen Menschen-Jagden, die immer wieder Thema von Filmen werden.

(Hier könnte man mitdenken, dass auch wir gerade einem Spektakel zuschauen, bei dem ja mal der eine oder andere Schauspieler (2010: Frank Giering, 2011: Maria Kwiatkowsky...) ums Leben kommt. Doch bestimmt waren es „die Drogen" tödlich und nicht unsere Aufmerksamkeit, genannt Ruhm.)

In Sachen dystopischer Menschenjagd hat „Panem" nicht den Trash-Charakter von „Running Man" nach Stephen King, nicht das Gegenwärtige von Wolfgang Menges' „Das Millionenspiel". Die Verfilmung von Regisseur und Ko-Autor Gary Ross, der sich vor allem mit „Pleasantville" qualifiziert hat, ist in den komplexeren Momenten „Truman Show 2 - jetzt mit Action". Dicht erzählt, gut gespielt und trotz der Lauflänge von fast zweieinhalb Stunden ohne Längen.

Jennifer Lawrence kennt sich bereits aus mit erbärmlichen Umständen im zwölften Distrikt: Schon bei ihrer Rolle in „Winter's Bone" sah es fast genau so aus, nur damals musste sie ganz alleine mit ganz realen Problemen wie Hypotheken, Armut und Hunger fertig werden. So spielte sie eindrucksvoller. Gut besetzt sind auch die Rollen von Woody Harrelson („Natural Born Killers") als zynischem Mentor, der an etwas zerbrach, was sich erst im zweiten Buch zeigt, und Stanley Tucci („Der Teufel trägt Prada") als überkandidelter Moderator Caesar Flickerman.

Etwas weniger reizvoll wird es ausgerechnet, als „Panem" aufhört, auch Futter für die Gedanken* zu sein und sich auf die spannende, aber unspektakuläre Jagd konzentriert. Doch bei diesen Großprojekten für die Groß-Verdiener unter den großen Produzenten kann man schon froh sein, nicht mit digitalen Horden von Orks oder Seelenessern erschlagen zu werden. Da wirkt „Panem" mit Naturmädel und Bogenschützin Katniss sympathisch bodenständig, auch wenn hier „Natur" eine futuristische Kampfarena ist, in der die Kameras selbst in Astlöchern stecken und höllische Hunde einfach aus dem Boden wachsen können. Geschaffen von einer personalintensiven Schaltzentrale, in der nicht nur die weiße Kleidung den Himmel auf Informatiker-Niveau runterrechnet. Präsident Snow ist dort Gott und letztendlich auch der Regisseur dieser zynischen TV-Show.

„Panem" wurde wie die Vorlage als Trilogie angelegt, hoffentlich infiziert sich die Produktion nicht mit dem LUNMGR-UZTAEM-Virus (Lass uns noch mehr Geld rausschlagen und zwei Teile aus einem machen.)


* Man könnte anlässlich der Auswahl der Tribute darüber nachdenken, wofür wir junge Menschen zum Beispiel in Afghanistan opfern. Auch so ein zynisches Spiel. Und dass die Regeln wie in den „Hunger Games" immer zu Lasten der kleinen Mitspieler geändert werden, zeigt der Dauerzustand „Bankenkrise", vormals Demokratie: Dass die Zocker, die besonders viel Zinsen auf ihre Kredite für Griechenland haben wollten, nachdem diese Gewinnmaximierung platzte, nach einer spontanen Regeländerung („Rettungsschirm") doch noch belohnt werden, und zwar mit dem Geld der europäischen Bevölkerungen für Gesundheit, Renten, Kultur oder Bildung, hat den gleichen Zynismus. Aber „man kann ja nichts dagegen machen", sagen zumindest Banker und Politiker, die sich um Gesundheit, Renten, Kultur oder Bildung keine Sorgen machen brauchen. Das Geld anderes Leute halt. Die Rebellion bricht im zweiten Teil von „Panem" aus.

Outsiders - Zwei Tanzstücke von movingtheatre.de

Außenseiter sind sie wahrlich nicht: Zum vierten Mal seit 2006 ist das Team von movingtheatre.de aus Köln mit einer Tanzproduktion in der Kammer des Theater Aachens zu sehen, zweimal war es bei dem Tanz-Steckenpferd des Kulturbetriebes namens Schrittmacher und auch noch ein weiteres Mal im Ludwig Forum. Das Erstaunliche beim Auftritt im März 2012 waren aber nicht in Bewegung geformten Ideen, das sexuell aufgeladene „Pansolo" von Emanuele Soavi („Kölner Darstellerpreis 2011"), der mit schmissigem Italo-Pop begrüßte und sich zwischendurch auch mal einen runter holte. Auch nicht die von Massimo Gerardi und Mircea Ghinea in „Revolver/Killingtime" getanzten Menschenrechte und andere, poetische sowie weniger didaktische Momente. Nein, ganz erstaunlich ist und bleibt das Aachener Publikum, von dem sich an einem Samstagabend zu wenige in eine gerade mal halbvolle Kammer verirrten, während andere in Scharen in eine alte Fabrik rennen. Will man jetzt nicht mehr weich sitzen und unbedingt zugig Kultur erleben? An der Compagnie kann es nicht liegen, die ist wie oben erwähnt eher dem Schrittmacher-Spektakel zuzurechnen. Er erhärtet sich der Verdacht, dass der Aachener zu Kultur geht, weil „man da jetzt halt hingeht". Egal was da läuft, es gewinnt der mit dem frecherem Marketing. Der Inhalt zählt nicht, das Plakat ist wichtiger. Keine neue Erkenntnis, aber immer noch erschreckend.

15.3.12

Die Tribute von Panem

Keine Kritik

Da der Verleiher scheinbar Angst vor der Freien Meinung und der Freien Presse hat, untersagte er jede Veröffentlichung vor dem 16.3.2012. Mit Einschränkung der Presse durch eine einseitige, schriftliche Erklärung!

Da helfen wir gerne nach und veröffentlichen auch danach nichts! Außerdem sprachen die Gesichter der Kollegen in der Pressevorführung Bände (selbstverständlich sagten sie alle nichts): War der Film so schlecht oder verdarb die Drangsalierung und die Dauerbeobachtung von Berufs-Spannern mit Nachtsichtgeräten im sehr leeren Riesenkino alles?

12.3.12

Viva Riva!

DR Kongo, Frankreich, Belgien 2010 (Viva Riva) Regie: Djo Munga mit Patsha Bay Mukuna, Manie Malone, Hoji Fortuna 97 Min. FSK: ab 18

Noch mal Schmuggel: Der Blick in den Abgrund eines Benzin-Einfüllstutzens führt in den Kongo, wo der kleine und respektlose Gangster Riva eine im Angola geklaute Ladung Benzin verkaufen will. Dabei legt sich Riva mit seiner lauten Art und dem Talent, die falsche Frau zu wollen, nicht nur mit dem lokalen Paten an, auch die Beklauten aus dem Angola sind hinter ihm her. „Leichen pflastern ihren Weg" ist in der Formulieren allerdings viel zu harmlos für die heftige und häufige Brutalität dieses eigentlich sehr konventionellen Gangsterfilms aus dem Kongo. Man kann nicht wirklich unterscheiden, ob hier jemand nur besonders brutal westliche Genres kopieren wollte, oder ob die Brutalität uns etwas über das Land erzählen könnte. Was noch besonders sein könnte, wird durch die schreckliche deutsche Synchronisation platt gemacht. Welches Publikum soll sich da finden? Wer sich schwarzafrikanische Filme ansehen will, wird wohl durch die Freigabe erst ab 18 abgeschreckt. Die Fans von Gewaltfilmen bekommen genug Futter aus Hollywood.

Türkisch für Anfänger

BRD 2012 Regie: Bora Dagtekin mit Josefine Preuß, Elyas M'Barek, Anna Stieblich, Adnan Maral, Pegah Ferydoni 110 Min.

Deutsche Fernseh-Formate im Kino, das ist eine lange, leidvolle Geschichte. Auch „Türkisch für Anfänger" ist ein Fernseh-Film im übelsten Sinne des Wortes. Nach der Serie, die bis 2008 recht erfolgreich in der ARD lief, ist vor der Serie. Denn die Handlung des Spielfilms ist irgendwie das Kennenlernen der Familien Schneider und Öztürk.

Wie gerne bei so total originellen Komödien fliegt die verklemmte Besserwisserin Lena Schneider (Josefine Preuß) mit ihrer peinlichen Therapeuten-Mutter in den Urlaub - ausgerechnet im gleichen Flieger wie die Familie Öztürk, mit der man schon bei der Anfahrt aneinander geraten ist. Nach einem haarsträubenden Flugzeugabsturz landen vier Teenager auf einer scheinbar einsamen Insel. Lena muss mit dem dämlichen Testosteronpaket Cem Öztürk (Elyas M'Barek) zurechtkommen, dazu gibt es die strenggläubige Zicke Yagmur (Pegah Ferydoni) und den stotternden Griechen Costa (Arnel Taci). Na, wenn das nicht mal lustig wird! Wird es nicht, nur schrecklich peinlich.

Denn der Kinofilm, der mehr bringen müsste, ist weniger spritzig, weniger frech als die TV-Folgen. Dafür wurde alles gröber, dümmer und dicker aufgetragen. Außerhalb ihrer natürlichen Umgebung Berlin sind Schneider/Öztürk nur noch zum Wegschalten, beziehungsweise: Weglaufen.

Ganz nebenbei müssen wir noch erfahren, dass Katja Riemann nicht tot, aber in einem ganz schlechten Film ist. Noch schlimmer ist nur Günther Kaufmann als Ex-Kannibale Tongo. Das klingt nach und ist eigentlich auch Komödienstadel, nur dass der Jugendliche von heute (wie jeder Jugendliche jeder Zeit) damit nichts anfangen könnte. Deshalb nennt man es „Türkisch für Anfänger". Die Übersetzung lautet: Ganz schlimme Klamotte. Da ist selbst der Absturz der Chipmunks auf einer einsamen Insel besser.

Der Schnee am Kilimandscharo

Frankreich 2011 (Les Neiges du Kilimandjaro) Regie: Robert Guédiguian mit Jean-Pierre Darroussin, Ariane Ascaride, Gérard Meylan, Marilyne Canto 90 Min.

Ein kleines Glück in Marseille: Selbst als Michel (Jean-Pierre Darroussin) am Hafen entlassen wird, beziehungsweise sich als echter Gewerkschaftler bei der Job-Lotterie lieber selbst entlässt, als dass ein anderer dran glauben muss, ist er nicht frustriert. Er hat sein Häuschen mit Dachgarten, die tolle Frau Marie-Claire (Ariane Ascaride), die Kinder, die Enkel und seinen Kumpel Raoul (Gérard Meylan). Der 30. Hochzeitstag ist eine herrlich rührende Feier, bei der alle in Pascal Danels Chanson „Les Neiges du Kilimandjaro" einstimmen. Dazu gibt es als Geschenk eine Reise. Doch Michel und Marie-Claire werden wie wir in diesem Film den Kilimandscharo nie sehen, denn sie abends beim Kartenspielen mit Raoul und dessen Frau Denise rauben sie zwei maskierten Männern aus. Michel wird an der Schulter verletzt, das seelische Trauma ist heftig, aber ein alter Helden-Comic, der auch geraubt wurde, führt ihn schnell auf die Spur eines Täters. In dem Film, der immer wieder überrascht, erleben wir nun den jungen, ebenfalls entlassenen Kollegen Christophe (Grégoire Leprince-Ringuet), der sich rührend um seine beiden kleinen Brüder kümmert, weil die Mutter nie da ist.

Erst jetzt bricht für Michel eine Welt zusammen, doch bald reut ihn wieder die Anzeige. Wie sagte seine Frau: Es kann anstrengend sein, mit einem Helden zusammen zu sein. Aber auch dem Helden der Arbeiter-Solidarität steht ein schwerer Lernprozess bevor. Fast symbolisch trägt er den Arm in der Schlaufe, während ihm der inhaftierte Christophe trotzig die Leviten liest. Was er sich denn auf seine korrupte Gewerkschaft einbilde und überhaupt seien sie ja längst arrivierter Mittelstand. Die immer etwas klügere Marie-Claire hält dagegen, dass sie glücklich sind, ohne andere verletzt zu haben. Wie auch schon früher, bei einem Vortrag über die Schwäche der Männer, mit einem unwiderstehlichen Lächeln.

Als echter Sozialist bereut Michel es sogar, dass der Räuber ins Gefängnis kommt - er sei doch auch nur ein Arbeiter - und kümmert sich nun um die kleinen Brüder des Diebes. Denn die scharfe und bittere Analyse über den Zustand der Arbeiter-Solidarität ist eng verwoben mit Komödie und Liebesfilm, wenn auch Marie-Claire heimlich für um die beiden Verwaisten sorgt. Das ist so rührend, so unglaublich aus der Zeit gefallen und deshalb noch schöner. „Der Schnee am Kilimandscharo" reiht sich ein in Filme aus dem echten Leben, die moralische Fragen sehr spannend und ernsthaft betrachten. Der alte Linke Robert Guédiguian, läuft wieder in Marseille, im Stadtviertel L'Estaque, einem alten Fischerdorf, zu großer Form auf und ist in einer Liga mit den Dardennes, mit Ken Loach und Mike Leigh. Solidarisch spielt er erneut mit seinen vertrauten Schauspielern, denen er nicht erst seit seinem ersten internationalen Erfolg „Marius und Jeannette - Eine Liebe in Marseille" (1996) treu ist.

Zusammen gelingen ihnen lauter wunderbare Szenen der Rührung, der Freude und des Nachdenkens. Da mixt ein sagenhafter Kellner seine Muntermacher sehr philosophisch und hat sogar etwas für den Kummer des Lebens. Selbst Christophes Mutter (Karole Rocher) kommt in einer heftige Einlage auch etwas zu ihrem Recht und wird nicht pauschal verurteilt. Ein Mahnmal gegen Egoismus, ein Zeichen gegen Globalisierung und liberale Phrasen, inspiriert von „Les Pauvres Gens", einem Gedicht von Victor Hugo. Wenn Michel und Marie-Claire in der Schlusssequenz die menschlichen Gazellen und Nilpferde am Strand vor der Haustür betrachten und erkennen, dass sie gar nicht wegwollen aus ihrem kleinen, ehrlichen Glück, dann lässt sich die Quintessenz auch auf den Film übertragen, der Erkenntnis und Glück im echten Leben vor der Haustür findet.

Contraband

USA 2012 (Contraband) Regie: Baltasar Kormákur mit Mark Wahlberg, Giovanni Ribisi, Kate Beckinsale, Ben Foster 109 Min.

Familienbande und Freunde, die wie Bruder sind. Da muss man im Gangster-Genre vorsichtig sein, wie viele Filme zeigen. Chris Farraday (Mark Wahlberg) ist vorsichtig, die Schmugglerlegende von New Orleans hat sich jung zur Ruhe gesetzt, kümmert sich mit den Einkünften von Alarmanlagen (sic!) um Frau und Kinder. Doch dann reitet ihn der junge, dumme Schwager rein, schmeißt bei einer Zollkontrolle das Koks über Bord und der gemeingefährliche, neue Gangster-Boss Briggs (schön dreckig: Giovanni Ribisi) nimmt die ganze Familienbande in Sippenhaft. Chris soll noch einmal einen Schmuggeltrip nach Panama machen - dabei kennt ihn nicht nur der sehr vorsichtige Schiffskapitän, sondern auch noch die halbe Mannschaft.

Ein einziger, guter Gag wird in die recht konventionelle Action-Handlung von „Contraband" eingeschmuggelt: Unter ziemlich viel Schrott versteckt sich die ganze Zeit ein "alter Lappen", der eigentlich ein Pollock-Gemälde ist - Wert über 100 Millionen Dollar. Doch das mit der Kunst im Schrott ist nicht übertragbar, „Contraband" des eigentlich sehr kunstfertigen, isländischen Autorenfilmers Baltasar Kormákur ist nicht mal der Versuch, etwas mehr zu zeigen. Das Remake seines eigenen „Reykjavik-Rotterdam: Tödliche Lieferung" (2008), in dem Kormákur auch die Hauptrolle spielte, ist im Eigentlichen, in der Action, schwach. Ja, sogar bescheuert, wo seine Hauptfigur besonders raffiniert sein sollte. Der „Höhepunkt" ist eine einzige Katastrophe für den Gangster, der beim Landgang mal kurz eine Ladung Falschgeld einschiffen will und mitten in einem halben Bürgerkrieg mit schwer bewaffneten Milizen und völlig durchgedrehten Gangstern landet.

Seltsamerweise - und hier beißt sich die Eigenschaft vieler Kormákur-Charaktere mit dem Action-Helden - bleibt Wahlbergs Figur recht passiv. Chris tritt sehr körperlich auf, darf viel handwerken, kämpfen dagegen nicht. Ansonsten kann der Meisterschmuggler bei drei raffinierten Aktionen zeigen, dass er tatsächlich clever ist, aber dies färbt nicht nachhaltig ab. Er bleibt ein bescheidener Charakter, was in einem Action-Film dieser Art nicht mal nichts Positives ist. Ribisi spielt schön böse, aber hier sind alle Bösen sehr extrem, da ist wenig Spielraum. Persönliche Beziehungen in der erweiterten Familie werden bei der klassischen Hochzeit zur Eröffnung gesetzt und danach nicht mehr entwickelt. Hoffentlich hat Regisseur Kormákur, der mit „Die kalte See" (2002) und „101 Reykjavik" (2000) exzellente Tragikomödien realisierte, wenigstens ausgehandelt, dass er nun wieder einen Film nach eigenem Geschmack machen darf.

Unser Leben

Großbritannien 2011 (One Life) Regie: Michael Gunton, Martha Holmes 85 Min.

Sehet hin und mehret euch!

Pathos an und Stimme auf Ergriffenheit getunt: Die größten Wunder des Lebens, dieses ewigen Kreislaufs des Werden und Vergehens, dieses Kampfes gegen die Unbill einer gnadenlosen Natur usw. blablabla. Nur als Vorgeschmack und Warnung sei hier die schier unerträgliche Tonlage und das Gesinnungs-Gesabbere imitiert, mit der diese großartige Naturdokumentation zugemüllt wird. Ansonsten ist dieses (nach „Unsere Erde" und „Unsere Ozeane") wiederholte „Best of..." einer BBC-Serie, die auch schon im deutschen Fernsehen gesendet wurde, ein echtes Kinoerlebnis - am besten mit Oropax zu genießen!

In den Top 20 der beklopptesten Tierverhalten sind diesmal Lämmergeier, die mit Knochen werfen, der ganz große Hit. Dicht gefolgt von Delphinen, die das Fastfood erfinden und sich Fische direkt ins Maul springen lassen. Auch klasse, wie die echt hässliche Kieselkröte als sensationeller Stunt-Frosch eine Tarantel abhängt und die Jesus Christus-Echse über Wasser läuft. Als Evergreen dabei, die japanischen Schneeaffen mit ihren menschenähnlich meditierenden Gesichtern
in heißen Thermalbädern und das Ballett der Fischschwärme. Als Neustarter überzeugt das Duett aus Seevögeln, die Mafia-Erpressung nachspielen, indem der eine den anderem am Schwanz packt und so lange in der Luft schüttelt, bis der Fisch wieder aus dem Magen fällt. Gerührt, nicht geschüttelt, sind wir, als das Elefantenbaby droht, im Sumpf zu versinken. Auch wenn Rüsselhündchen und Echse eine Verfolgungsjagd hinlegen, die viele zig Millionen Dollar Produktionen abhängt, wirkt „Unser Leben" wie eine Vorbereitung auf die plattesten Genres des fiktionalen Kinos.

Doch eigentlich will das BBC-Medley der Überlebensstrategien etwas anderes sagen, und beim Stichwort „sagen" wird es kritisch: Angefangen von dem Robbenbaby im nicht mehr ganz so Ewigen Eis spannt sich wieder der Lebenszyklus - man kann jetzt durchaus Elton John im Kopf auflegen - durch die eher wahllose Abfolge von Anekdoten aus der Tierwelt. Eine Weile lang folgt für den Effekt dem winzigen Erdbeerfrosch ein riesiger Gorilla, groß auf klein, witzig auf eindrucksvoll... Dann allerdings packt gnadenlos wie der Biss der drei Gepardenbrüder, die man schon in anderen Filmen gesehen hat, das immer wieder spaßigste Thema, das Jagen und Gejagt werden. Hier wird das Bemühen, sich den kleineren Kinogängern anzubiedern, allerdings auch mal in blutigen Fängen und Klauen zerfetzt.

Aber sitzt da tatsächlich eine Affen-Familie im Thermalbad? Nicht eine Sippe oder ein Klan? Finden die höchst albern balzenden Vögel tatsächlich die „Liebe ihres Lebens"? Hier schreien und weinen die Biologen längst. Doch es kommt noch schlimmer: Als „höher geordneter Zweck" kommt jetzt nicht Gott ins Gespräch, sondern ein „Opferwille der Frau" in Form eines Riesenoktopus-Weibchens, das ihr Leben für ein paar Tausend Eier hergibt. Dieser Gipfel der Rückständigkeit in der Vermenschlichung tierischer Verhaltensweisen wäre auch ein Hit bei den Nazis im Lebensborn gewesen! Die Filmemacher haben eine Meise - nicht im Film, im Kopf. Vor allem vertrauen sie nicht auf ihre sensationellen Bilder, wie es beispielsweise „Mikrokosmos" fast ohne Kommentar tat. Aber hier ist nicht nur der ununterbrochene Redeschwall nervig, die Inhalte sind auch höchst bedenklich. Sehr schade!

Was bleibt, ist die herausragende Qualität der Aufnahmen, die 35 Kameramänner über mehrere Jahre mit enormen menschlichen und technischem Aufwand einfingen. Irgendwann sollte man jemand das Leben der seltsamen Spezies Tierfilmer dokumentieren.

9.3.12

Gone

USA 2012 (Gone) Regie: Heitor Dhalia mit Amanda Seyfried, Jennifer Carpenter, Wes Bentley 95 Min.

Eine junge Frau schlägt sich durch ein Waldgebiet bei Portland. Systematisch sucht sie die Gegend ab. Was ein gelinder Auftakt mit gemächlicher Spannungssteigerung sein könnte, zieht sofort die Nerven auf Höchstspannung. Verständlich, denn Jill Parrish (Amanda Seyfried) wurde vor einem Jahr aus ihrem Bett entführt und fand sich in einem Erdloch wieder. Mit ein paar vergrabenen Leichen um sich herum. In letzter Sekunde konnte Jill fliehen, doch die Polizei glaubte ihr nicht. Die Frau landete sogar in der Psychiatrie und nimmt immer noch Pillen zur Beruhigung. Nun lässt uns der Film gerade genug Zeit, diese verzweifelte Situation der gleichzeitig übervorsichtigen wie entschlossenen Jill zu verstehen, da verschwindet schon ihre Schwester Molly (Emily Wickersham) unter exakt den gleichen Umständen. Jill weiß, dass sie nur bis zum Abend Zeit hat, Molly zu finden, bevor der Serientäter wieder mordet.

Da ihr bei der Polizei niemand der zu vertrauten Beamten glaubt, die sie merklich zu oft bemüht hat, macht sich Jill selbst mit beeindruckenden detektivischen Fähigkeiten auf die Spur. Hier zahlt sich aus, dass die kontrollierte Panik mit einer pedantischen Beobachtung kleinster Details einherging. Bald schon wird die Einzelgängerin sogar von der Polizei gejagt, weil sie als ehemalige Insassin der Psychiatrie eine Waffe mit sich führt und auch bei den Befragungen schnell einsetzt. (Endlich ist es mal glaubhaft, wie es zu diesem „double bind" kommt.) Zudem zahlen sich auch ihre Selbstverteidigungskurse aus, manchmal in einer überzogenen Reaktion am Falschen.

Effizient und immer unter Spannung. So wie sich Jill verhält, wirkt auch der Film „Gone". Zwar trägt er in Musik und den Perspektiven vermeintlicher Beobachter etwas dick auf, auch eine frühe Duschszene wirkt nur am Rande als augenzwinkernder Psycho-Verweis, doch insgesamt kommt Regisseur Heitor Dhalia in seinem ersten US-Film mit seinem Stil direkt ans Ziel. So ein Talent macht neugierig auf die früheren Filme des Brasilianers. Hauptdarstellerin Amanda Seyfried, die oft in Serien auftauchte und bei „In Time" noch als etwas anämische Luxus-Tochter nicht besonders auffiel, kommt hier richtig groß raus. Nicht nur wenn sie mit ihren Riesen-Augen Mitleid heischt, auch die Mischung aus ängstlicher Vorsicht und verzweifeltem Mut gelingt ihr hervorragend. Ein in jeder Hinsicht spannender Film.

Einer wie Bruno

BRD 2012 Regie: Anja Jacobs mit Christian Ulmen, Lola Dockhorn, Lucas Reiber 100 Min.

Bruno (Christian Ulmen) und Radost (Laura Dockhorn) leben zusammen. Bruno geht gerne in den Zoo, spielt Kaufladen und hat seinen Stofflöwen total gern. Radost kümmert sich um den Haushalt, kauft ein, kocht und streitet sich mit den Behörden. Radost ist die 13-jährige Tochter und Bruno der behinderte Vater. Da springt einem das Problem „Zu früh erwachsen, zu viel Verantwortung" direkt an und mindestens eine Stunde lang erzählt Anja Jacobs' Film vor allem „Problem, Problem, Problem". Das ist besonders problematisch für den Unterhaltungswert, was selbst die eingefleischtesten Ulmen-Fans bemerken werden.

Bruno war einst ein Problem-Bär. Abgeschossen wurde das Thema, als man den dazugehörigen Problem-Ministerpräsident nach Brüssel abschob. Nun ist Bruno ein Problem-Film. Wohin kann man den Problem-Schauspieler Ulmen abschieben? Der Komiker wagt sich als Bruno an eine dieser typischen Oscar-Rollen, wobei dies bei weitem kein Oscar-Film ist. So guckt er groß und simpel in die Kamera, bewegt den Mund langsam, quiekt aber auch zwischendurch sehr freudig. Kurz: Ulmen nervt, dies ist eine Nummer zu groß für ihn.

Nun mag Bruno ja auch seine Tochter nerven, obwohl Radost eine Stunde lang nichts davon zeigt. Geduldig und still macht sie ihren Job. Aber das Aktieren von Ulmen fällt aus dem Film, dient ihm nicht und man glaubt auch nicht, dass die Filmemacherin Anja Jacobs besonders viel Recherche betrieben habe. „Freunde meiner Eltern (haben) einen geistig behinderten Sohn", na dann!

In einem Hochhaus am Rande von Stuttgart spielen Bruno und Radost also nun normale Eltern für Frau Corazon von der Lebenshilfe. (Wird sie Herz zeigen?) Das „Sorgenkind" ist dabei das Mädchen, das in der Schule zu ernst und zu erwachsen ist. Erst als sich Radost in den blasierten Musiker Benny (Lucas Reiber) aus der Klasse verliebt, bricht Rebellion aus und der Film wird halbwegs interessant. Wenn das brave Mädel als echte Pubertierende das lustig dekorierte Bonanza-Rad des Vaters vom Balkon schmeißt, den jammernden Erwachsenen wieder vom Landschulheim nach Hause verfrachtet und sich beide schließlich parallel besaufen, bekommt der Film Intensität und Lebendigkeit.

Bremsend demonstrativ wird derweil zum Nachdenken über Worte angeregt: Spacko, Sorgenkind, Forrest und Hirni hängt der Film quasi in Fettdruck in die Kamera. Dabei haben wir schon längst kapiert, aber noch lange nichts gefühlt. Es hilft auch nicht, dass die Musik kräftig nachhelfen muss bei Nachhilfe für Benny und auch ansonsten bei jeder Stimmung. Ein Glanzlicht in Sachen Komik gibt es immerhin - als Radost und Benny samt aller Elternteile und Geschwister auf der Szene sind. Bezeichnenderweise sind die Nebenrollen stärker, wie der idiotische und gehässige Kollege Brunos im Supermarkt, der ihn mit dem Stapler vor die Wand fahren lässt. „Staplerfahren ist die echte Formel 1!" Auch der ganz unverklemmt verständnisvolle Chef ist ein Lichtblick, wenn er erklärt, dass solche Probleme ganz „normal" sind zwischen Vätern und Pubertierenden. Schade - einen tollen, unkonventionellen „Problemfilm" im Stile von „Renn, wenn du kannst" hätte man gerne gesehen. „Bruno" hat allerdings zu viele filmische Probleme.

7.3.12

Headhunters

Norwegen 2011 (Hodejegerne) Regie: Morten Tyldum mit Aksel Hennie, Nikolaj Coster-Waldau, Synnøve Macody Lund 100 Min. FSK ab 16

Anschnallen und festhalten: Aus Norwegen kommt eine Gauner-Action, die auch ohne bekannte US-Namen vor und hinter der Kamera sensationell spannend, böse spaßig und extrem unterhaltsam ist. Bei Morten Tyldums „Headhunters" nach dem gleichnamigen Buch von Jo Nesbø werden ab jetzt Köpfe gezählt, die an der Kinokasse Schlange stehen...

Roger Brown (Aksel Hennie) hat alles, was sich kleine Jungs so wünschen und ist kurz gesagt ein Arsch - im Job und bei den Frauen. Während er im geleckten Anzug seine Mentalität des gnadenlosen Raubtier-Kapitalismus verbreitet und Manager auf Jobsuche erniedrigt, beklaut er nebenbei die eigenen Klienten mit geschickten Kunst-Diebstählen: Er arrangiert Termine mit ihnen und wenn die Wohnung unbeobachtet ist, wird sie in Zusammenarbeit mit einem Kumpan bei der Sicherheitsfirma ausgeraubt. Denn der Luxus von „Mein Haus, mein Auto, meine Frau" kostet anscheinend eine Menge. Als nun der ebenso unsympathische Geschäftsmann Clas Greve (Nikolaj Coster-Waldau) in der Stadt auftaucht, lockt ein lange verloren geglaubtes Gemälde von Rubens Roger in ein mörderisches Duell mit dem Falschen. Verblendet von Gier und Eifersucht entwickelt sich der elegante Raubzug zu einer sehr unappetitlichen Jagd auf Leben und Tod mit einem echten Raubtier, das auch noch eine Killerausbildung beim Militär genossen hat.

Knappt überlebt Roger eine Giftnadel im Fahrersitz seines Wagens. Doch die Flucht hat was von Hase und Igel, immer ist Clas auch schon da. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass der Mann bei einem GPS-Unternehmen militärische Forschungen leitete? Untertauchen ist also nicht, höchstens mal im extremen Notfall in der Kloake einer verlassenen Waldhütte. Irgendwann ist auch noch die Polizei hinter Roger her, denn es gibt reichlich Kollateral-Opfer am Wegesrand. Doch Clas ist nicht zu bremsen, walzt den Konkurrenten gleich mit einem Schwerlaster samt Polizeiwagen platt. Jetzt bekommen die bislang nur komisch dicken Polizisten einen Sinn als menschliche Airbags. Der eigentliche Headhunter Roger sieht längst reichlich mitgenommen aus und so schon etwas sympathischer. Jämmerlich landet er wieder bei seiner Frau, der schönen Galeristin Diana (Synnøve Macody Lund). Doch für welche Seite hat sie sich entschieden?

„Headhunters" ist ein sehr spannender, zeitweise auch harter Thriller, der sein super Timing mit recht glaubhaften und echten Figuren durchzieht, die auch schon mal Probleme wie die Kinderfrage haben. Deswegen beschert „Headhunters" auch etwas Liebesdrama. Der kühle Luxus rund um Roger kommt in edler Kamera-Kadrierung ins Bild. Alles passt, jedes Detail hat seine Funktion. Ein großes Lob für die Drehbuchautoren Lars Gudmestad und Ulf Ryberg! Die Hauptdarsteller Aksel Hennie („Max Manus", „Ein Mann von Welt") und der Däne Nikolaj Coster-Waldau („Nachtwache", „Black Hawk Down", „Wimbledon") könnten schon bekannt sein. Aber auch Regisseur Morten Tyldum kann man sich merken - vielleicht darf er ja sein eigenes US-Remake inszenieren. Bisher steht nur Mark Wahlberg für die Hauptrolle fest - das kann nur schlechter werden!

Ruhm

BRD 2012 Regie: Isabel Kleefeld mit Senta Berger, Heino Ferch, Julia Koschitz, Stefan Kurt, Thorsten Merten, Axel Ranisch, Gabriela Maria Schmeide, Justus von Dohnányi 103 Min. FSK ab 12

„Ruhm" ist die erste Adaption eines Romans von Daniel Kehlmann und breitet in einem „Roman ohne Hauptfigur" raffiniert ein Spektrum von Figuren und Geschichten aus, die scheinbar über einen technischen Fehler miteinander oder falsch verbunden werden. Der technik-skeptische Elektroingenieur Joachim Ebling (Justus von Dohnányi) kauft das erste Handy seines Lebens und bekommt sofort Anrufe für einen anderen. Einer mit sehr bewegtem Leben, frustrierter Geliebter und lauten Freunden. Dieser Filmstar Ralf Tanner (Heino Ferch) hingegen bekommt keine Anrufe mehr, was ihn noch nervöser macht, war doch schon der letzte Film ein Reinfall und die Trennung von seiner (Film-) Partnerin ein gefundenes Fressen für die Klatschspalten. Zum Glück holt sein unbekanntes Double ein paar Kastanien aus dem Feuer. Und der Typ ist so gut, eigentlich der bessere Ralf Tanner. Meint irgendwann auch der formvollendete Diener Ludwig (herrlich: Matthias Brandt) und lässt Tanner gar nicht mehr in seine eigene Villa.

Isabel Kleefeld reizvoller Film beginnt als technische Spielerei und entwickelt sich zum durchgehenden Spiel mit der eigenen Identität und deren Variationen. Es gibt die Idee, ob es nicht wesentlich entspannender sei, mal nicht sich selbst zu entsprechen. Schön ins Bild gebracht in einem Club mit lauter Doubles von Thomas Anders bis zu den Blues Brothers. Das Ich begegnet seinem besseren Ich passend in der Toilette vor noch mehr irritierenden Spiegeln. Eine tolle Gelegenheit, in die Anonymität zu schlüpfen und nicht mehr nur sein eigener Ruhm zu sein.

Neben dem äußeren Double zeigen Kehlmann/Kleefeld auch innere beim Schriftsteller Leo Richter, der in einem südamerikanischen Goethe-Institut die Geschichte von Rosalie liest, die in einer weiteren Episode des Films von Senta Berger gespielt wird. Die schwerkranke Frau will ihr Leben bei einer Institution für Sterbehilfe in Zürich beenden, sucht dann aber über die Überwachungs-Kamera im Sterbe-Zimmer das Gespräch mit dem Autor - mit dem Autor ihres Lebens und Sterbens! Während die eine raus aus den Geschichten (von Richter) will, drängt sich ein anderer rein. Der größte Fan des Schriftstellers, ein extrem nerdiger, internet-süchtiger Telecom-Mitarbeiter (Axel Ranisch) in konstant unflätigem Selbstgespräch, ist gleichzeitig technischer Verursacher all der Verknüpfungen, die zum Glück längst nicht so verkrampft ausfallen, wie oft bei rein filmischen Episoden-Geschichten.

Auch die Locations sind stimmig und nicht nur wegen der Schauwerte oder der regionalen Filmförderung im Bild: Mit Südamerika für den lebensfernen Autor, der mal ein Abenteuer erleben will, mit grandiosen Motive von Sowjet-Architektur und -Heldenverehrung oder dem schnuckeligen aber auch beengenden Kulturleben in Zürichs Zentrum.

So macht dieser „Ruhm" mit allen seinen Abarten meist Spaß - vor allem mit der herrlich klischeehaften und diktatorischen Leiterin einer Schriftsteller-Reise im Osten Europas. Anrührend kann der nur im letzten Drittel vielleicht etwas ziellose Film mit seinem rücksichtslosen, selbstverliebten Autor, der in Konfrontation mit seinen Figuren - eine davon ist seine Partnerin (Julia Koschitz) - etwas gnädiger wird. Wobei, wer die unbekannte Krimiautorin Maria Rubinstein (Gabriela Maria Schmeide, „Die Friseuse") als Richter-Ersatz im Ostblock-Elend untergehen lässt, muss ein schurkiger Schreiber mit viel schwarzem Humor sein.

5.3.12

Haywire

USA, Irland 2011 (Haywire) Regie: Steven Soderbergh mit Gina Carano, Channing Tatum, Michael Fassbender, Ewan McGregor, Mathieu Kassovitz, Antonio Banderas, Michael Douglas 93 Min.

Noch ein Action-Film? Nein, ein Soderbergh! Der geniale Regisseur, Autor Produzent und Kameramann machte aus schon dem eingerosteten Heist-Genre den quicklebendigen Raubzug „Oceans 11". Nun paart er eine ziemlich simple Story mit abgedroschener Dramaturgie und macht daraus einen der aufregendsten und kurzweiligsten Filme des Frühjahrs. Wie schon in der Oceans-Reihe hilft Prominenz kräftig dabei mit: Michael Fassbender, Ewan McGregor, Antonio Banderas und Michael Douglas bleiben jedoch alle Randfiguren vom neuen Action- und Schauspiel-Star Gina Carano.

Mallory Kane (Gina Carano) kommt angeschlagen und gehetzt in ein Café irgendwo im Norden der USA. Und schnell taucht auch jemand auf, dessen Anblick sie fluchen lässt. Staunen dürfen bald die anderen Gäste, wie die scheinbar wehrlose Frau den Typen (Channing Tatum) im zähen Kampf zusammenstaucht. Und staunen kann selbst der Action-Fan. Hier fliegen die Fäuste und brechen die Knochen so handfest realistisch, wie man es von all den albernen Showkämpfen sonst nicht kennt. Diese „Griffigkeit" des Films setzt sich fort, nachdem Mallory mit einem Gast in dessen Auto flieht, sich während einer Verfolgungsjagd mit exakten Anweisungen eine Wunde verarzten lässt und dem Beifahrer erzählt, was in zuvor passierte. Im Auftrag des privaten Geheimdienstes von Kenneth (Ewan McGregor) sollte eine Geisel befreit werden, doch deren Leiche tauchte beim nächsten Job in Dublin auf. Mit Mallorys Brosche neben dem Toten. Der Falle entkommt die resolute Agentin knapp mit einer Flucht über die Dächer der Stadt. Auch hier inszeniert Soderbergh wieder echter als Action und macht aus Routine richtig atemberaubende Szenen. Zwar ist auch der CIA-Chef (Michael Douglas) mit dem Ergebnis seines Outsourcings nicht einverstanden, doch Mallory bleibt als freischaffende Kampf-Künstlerin auf sich allein gestellt, während sie die Intrige aufdeckt.

Gina Carano schlug sich bisher als Berühmtheit der nicht unbedingt berühmten Kampfsport-Sparte „Mixed-Martial-Arts" recht gut durchs Leben. Da sah sie auch attraktiv aus, doch dass sie auch schauspielern kann, beweist ihre erste Hauptrolle in „Haywire". Vor allem im Duett und im Duell mit einem ganz Großen wie Michael Fassbender besteht sie den Leinwand-Test. Man erinnert sich daran, wie Soderbergh einst auch Jennifer Lopez in „Out of Sight" vom Star zur respektierten Schauspielerin machte. Kurzzeitig. Kurzweilig ist „Haywire" auf jeden Fall. Das Geniale zeigt sich auf dem zweiten Blick. So schrieb das Drehbuch der renommierte Autor Lem Dobbs, der schon zwei Filme mit Soderbergh machte: „The Limey" (1999) und „Kafka" (1991). Nicht nur der jazzige Film-Score deutet an, dass man Kunst auch wie Popcorn verpacken kann.

Barbara

BRD 2012 Regie: Christian Petzold mit Nina Hoss, Ronald Zehrfeld, Rainer Bock, Christiana Hecke 105 Min.

Nina Hoss ist nach „Yella" und der Laura in „Jerichow" wieder die Hauptfigur in einem Petzold-Film. Diesmal ist sie „Barbara", eine hervorragende ostdeutsche Ärztin, die Anfang der 80er aus Berlin in die Provinz strafversetzt wird. Der Klinik-Chef Dr. Reiser (André ist sein Vorname, aber man darf beim belesenen Petzold sicher auch Anton Reiser denken) beobachtet sie seit ihrer Ankunft amüsiert und interessiert. Sie schmollt eigensinnig, die neue aus der Berliner Vorzeige-Klinik Charité. Das wäre romantisch komisch, wenn der Staatsterror nicht so mörderisch ernst zuschlüge: Barabara Wolf (heißt ironischerweise wie eine Kombination aus heiliger Märtyrerin und Geheimdienst-Chef Markus Wolf) hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Haft gab es vorher, die Arbeiter und Bauern hätten ihr ja schließlich das Studium bezahlt, jetzt solle sie sich in der DDR dafür revangieren.

Mit einer enormen Detailgenauigkeit haben Petzold und sein Team die DDR rekonstruiert, auch die besonders schäbige Wohnung, die der Staat Barbara zugewiesen hat. Sie selbst mit ihrem roten Schminkkoffer fällt aus der farblosen Tristesse heraus, ganz wie ihre Strümpfe und die Zigaretten aus dem Westen, das Auftreten, das sicher nicht nur in der Provinz als arrogant gesehen werden kann. Die langen Beine, die sie gern zeigt und die Dr. Reiser nicht entgehen. Dabei vermeiden Petzold und sein Kameramann Hans Fromm die übliche düstere Farbpalette für „den Osten", die in „Das Leben der Anderen" oder auch aktuell in „Die Vierte Macht" vorherrscht. Dieses Leben der Anderen - Petzold stammt aus dem Westen - wirkt echt, obwohl das Kunstwerk, das dieser Film auch ist, voller Bedeutungen steckt. Da stürmt die Natur stellvertretend für Barbara, die Perspektiven sind lange verbaut. Zum Meer, das schon in „Jerichow" eine große Rolle spielte, kommt sie spät, zu spät?

Doch nicht die Spannung, ob Barbara die Westflucht schafft, ist das Fesselnde. Den DDR-Zustand von Überwachung und Erniedrigung zu beobachten, ist so packend, dass man Barbara gar nicht unbedingt wünscht, sie könne dem Stasi-Regime entkommen. Die Sprache ist in diesem Sezieren der Verhältnisse extrem exakt: Im Gespräch mit Dr. Reiser in dessen Auto – ihr Verdacht, er beobachte sie für die Stasi ist immer dabei – wundert Barabara sich über die Morphium-Spritze für die tödlich am Krebs erkrankte Frau des Stasi-Offiziers: „Machen sie das öfter?" „Das Sterben erleichtern?" „Arschlöchern helfen?" „ Wenn sie krank sind, ja."

Knapper kann man nicht zusammenfassen, wieso sich Reiser in seiner kleinen privaten (Par-) Zelle mit Gartenkräutern arrangiert hat. Dagegen steht das Entsetzen als Barabaras Liebhaber aus Westdeutschland meint, er würde für sie auch in den Osten ziehen: „Hier kann man nicht glücklich werden!"

Barbara sucht in der Verbannung die eigene Freiheit mit dem Fahrrad, doch immer wenn sie der Kontrolle der Stasi und den Blicken der Nachbarn oder Kollegen entkommt, folgt eine brutale Wohnungsdurchsuchung bis in den Intimbereich der Körperöffnungen. Systematisch soll die Ausbreitung einer Persönlichkeit zerstört werden, bis zu den Fahrradreifen, die Barbara zerstochen auffindet. Der so erzwungene Marsch macht ihr die ungewöhnlich schicken hohen Schuhe zur blutigen Qual. In einem zufälligen Treffen mit einer anderen Geliebten eines Westlers, wird die emotionale Beziehung typisch Petzold auf die reine Ökonomie reduziert: Die abschreckende Steffi mit der dicken Warze im Gesicht ist nur auf Bezahlung aus und sucht sich im Katalog den passenden Schmuck.

Verschiedene Kunstwerke spiegeln die Situation Barbaras: Rembrandts „Die Anatomie des Dr. Tulp" erzählt etwas über die Perspektive auf das und vom Mitleid mit dem Opfer. (Der Film zeigt fast ausschließtlich Barabaras Sicht.) Die von Reiser zusammengefasste Erzählung „Der Kreisarzt" des russischen Schriftstellers Iwan Sergejewitsch Turgenjew (aus der Sammlung von Erzählungen „Aufzeichnungen eines Jägers") bringt die Idee eines Opfers für ein todgeweihtes Mädchen ins Spiel.

Denn mit der aus dem berüchtigten Jugendlager Thorgau entflohenen und in die Klinik eingewiesenen Stella, die rebellisch wie Barbara ist, versteckt sich noch jemand in der Natur. Durch Stella meldet sich später die Dramaturgie etwas lauter im Film zurück und verlangt eine Entscheidung Leben gegen Leben. Bis zum offenen Ende – immerhin noch in der Provinz. Barbara macht ihrem Namen alle Ehre. Die Band Chic kommentiert „At last I am free" (endlich bin ich frei) beim Abspann.

Die vierte Macht

BRD 2011 Regie: Dennis Gansel mit Moritz Bleibtreu, Kasia Smutniak, Max Riemelt 115 Min. FSK ab 12

Dennis Gansel ist ein politischer Regisseur mit Tendenz zu Verschwörungstheorien, das ist nach Filmen wie „Die Welle" (2007), „Napola" (2004) oder „Das Phantom" (2000) klar und erfreulich. („Frauen-Filme" wie „Mädchen, Mädchen" oder „Wir sind die Nacht" mal außen vor gelassen.) Vor was will Gansel diesmal warnen? Die Fakten: Im Dezember 1994 überfällt Russland brutal das seit drei Jahren unabhängige Tschetschenien. Die für ihren Widerstand berüchtigten tschetschenischen Kämpfer reagierten auf den staatlichen Massenmord auch mit Anschlägen im Heimatland des Aggressors, in Russland. Diese echten oder vom eigenen Geheimdienst inszenierten Attentate nutzte wiederum die politische Führung Moskaus, um die eigene Bevölkerung mit Angst enger an die undemokratischen Herrscher zu binden. Das bewies Putin ganz aktuell mit einem Quasi-Trailer zum Film, indem er einen „versuchten tschetschenischen Anschlag", der Wochen zurücklag, kurz vor der Präsidentenwahl veröffentlichte. Mit Bildern von den brennenden Twin Towers soll zudem suggeriert werden, auch dieser Anschlag könnte von (us-amerikanischen) Geheimdiensten inszeniert sein. So weit, so löblich, aber auch so bekannt aus dem Politikteil der Zeitung oder aus Verschwörungs-Foren im Internet. Ebenfalls ist bekannt, dass Journalisten in Russland einfach und ohne juristische Verfolgung auf der Straße umgebracht werden können.

Insofern erzählt Gansel in „Die vierte Macht" nichts Neues. Politthriller haben jedoch schon hanebüchenere Hintergründe gehabt, die bei einer spannenden Inszenierung nicht direkt auffallen. Doch hier hakt es gewaltig. Dass ein deutscher Society-Journalist, der nicht Russisch spricht, einen Job in Moskau bekommt, nachdem er ein Interview gefälscht hat, ist albern. Moritz Bleibtreu gibt diesen typischen Entwicklungshelfer Paul Jensen - keine Ahnung, aber viel Ignoranz. So feiert Paul zuerst intensiv, um dann den alten, verdienten TV-Journalisten, der vor seinen Augen erschossen wird, mit einem kleinen Nachruf in seinen Klatschspalten zu ehren. Das löst heftige Reaktionen des Geheimdienstes aus, eine U-Bahn-Station fliegt in die Luft, Pauls neue russische Freundin Katja (Kasia Smutniak) wird verdächtigt und der Deutsche landet aufgrund konstruierter Vorwürfe in einer völlig überfüllten Zelle eines Geheimdienstknastes. Hier, in „Klein-Tschetschenien", auf einem Stück Pappe direkt neben dem Scheißloch, hat „Die vierte Macht" beim Zusammentreffen mit ebenso stolzen wie mörderischen tschetschenischen Widerstandskämpfern einen seiner besseren Momente. Das Spiel der Herren überzeugt, man nimmt die Sache ernst. Später, wieder in Freiheit und auf der Flucht, holpert die Handlung arg, die Lichtverhältnisse wechseln sprunghaft von kaltem Blau zu relativ normal, eine Zigarette tauchte schon vorher wie von Zauberhand in der Szene auf. War hier eine internationale Produktion überfordert? Auch die englischen Mundbewegungen zu deutschen Synchronstimmen sind vor allem grauslig und schmälern die Glaubwürdigkeit.

Schade, denn das Thema Staatsterror in Tschetschenien und in Folge der Verlust von Freiheit und Bürgerrechten auch in Russland, wären einen guten und klugen Film wert. Aber so steht alles besser in der Zeitung. Und wieso startet der Film eigentlich erst fünf Tage nach der Präsidentenwahl? Das ist wieder was für Verschwörungs-Theoretiker...