6.2.12

Hugo Cabret

USA 2011 (Hugo) Regie: Martin Scorsese mit Asa Butterfield, Sacha Baron Cohen, Ben Kingsley, Jude Law, Chloë Grace Moretz, Christopher Lee, Emily Mortimer, Ray Winstone, Helen McCrory 126 Min. FSK ab 6

Scorsese goes Amelie

Was für ein Magier! Unter dem Deckmantel einer wunderbar romantischen und sehr spannenden Kinder-Geschichte entführt uns der Zauberer Scorsese in die Zeit des Stummfilms und entdeckt den alten Meister George Méliès wieder, der tatsächlich bereits zu Lebzeiten vergessen wurde. So liegt die Verfilmung des Comic-Romans „Die Entdeckung des Hugo Cabret" von Brian Selznick voll im Trend von Cannes-Sieger „The Artist" und dem neuen Air-Album und „Le Voyage dans la Lune".

Der junge Waise Hugo (Asa Butterfield) repariert und lebt im temporären Räderwerk des emsigen Treibens zahlloser Menschen im Bahnhof Montparnasse der Dreißiger Jahre. Eigentlich hatte sein Onkel diesen Job, doch als der Trunkenbold verschwand, übernahm Hugo heimlich die Frickelarbeit, versteckt in den Lüftungskanälen und auf dem Dachboden, immer auf der Flucht vor dem hinkenden Bahnhofsaufseher (Sacha Baron „Borat" Cohen). Von seinem verunfallten Vater (Jude Law), dem Uhrmacher, übernahm der Junge auch einen Automaton, eine Mensch-Maschine wie E.T.A. Hoffmanns Olimpia oder wie Spielbergs Gigolo Joe (Jude Law) aus „A.I." - nur leider völlig verrostet. Bei der Restaurierung hilft ein altes Notizbuch, das eines Tages in die Hände des strengen Herrn vom Spielzeugladen (Ben Kingsley) fällt. Das Heft mit den Konstruktionszeichnungen enthält ein Geheimnis und ist ein Schlüssel, genau wie der darin abgebildete, herzförmige, der den Automaton zum Leben erwecken soll. Behilflich bei der Suche und bei den rasanten Fluchten vor dem Aufseher ist Isabelle (Chloë Grace Moretz, der Vampir aus „Let me in"!), die Geheimnisse wie Bücher liebt und den alten Mann vom Spielzeugladen Onkel nennt.

In dem herrlich romantischen und verspielten Kosmos des Bahnhofs gäbe es noch unzählige Menschen und Details zu entdecken. Wenn Hugo wieder einmal mit Taschen voller Unruhen und Zahnräder durch die Gänge rast und die Prothese von „Borat" klemmt, spielt nebenbei im Cafe Django Reinhardt den passend rasanten Gitarrenlauf. Solch Slapstick begleiten magische Momente und verliebte Paare überall, warm gezeichnete Blicke auf den Eifelturm, bei denen sich in Hugos Gesicht eine große Sehnsucht spiegelt.

Doch das Herz des Films über einen Jungen, dessen Bestimmung es ist, Dinge und Menschen zu reparieren, wird geschickt durch die Seitentür des längst schon traumhaften Filmglücks eingeschmuggelt: Hugos Entdeckung führt zu einer Liebeserklärung an das Stummfilm-Kino des Georges Méliès (1861 - 1938) und an alle Paris-Klischees. Raffiniert wird das Publikum entführt und darf dann hemmungslos in alten Szenen und deren, mit vielen modernen Tricks nachgestellten Entstehung schwelgen. So erleben wir mit dem Erfinder des filmischen Science-Fiction noch einmal „Die Reise zum Mond", diese berühmte Film-Ikone. Und wenn man völlig gefesselt und gerührt zuschaut, wie Kino-Träume gemacht werden, ist 3D als Fortsetzung der technischen Experimente vom Genie Méliès endlich mal sinnvoll. Das Traumland hinter der Bahnhofsuhr mit Rutschen und Leitern, hinter dem liebevollen Anstrich, der „Amelie" und „Micmacs" verbindet, führt in virtuelle Welten mit fantastischen Perspektiven. Bis zum Finale, in dem Hugo selbst wie Harold Lloyd in „Ausgerechnet Wolkenkratzer" (1923) in schwindelnder Höhe an den Zeigern einer Uhr hängt.

Apropos schwindelnd - während die Brüder Lumiere als Dokumentaristen gelten, ist Méliès der Fantastische - und Scorsese, den man getrost in dieser Reihe nennen darf, macht meisterlich beides. Er toppt „Ankunft eines Zuges in La Ciotat" (1895) von Lumiere in einer atemberaubenden Traumszene und ermöglicht den spannendsten und sicherlich erfolgreichsten Ausflug in die Filmgeschichte der Filmgeschichte. „Hugo Cabret" zeigt Scorsese selbst als Fotograf und ganz anders als in seinen Mafia-oder New York-Filmen. Aber wenn sich Hugo und Isabelle langsam dem Schlüssel dieses Rätsels nähern, wird klar, dass eigentlich nur Scorsese diese Hymne auf die Magie der ersten Filmjahre realisieren konnte.