29.1.12

Dame, König, As, Spion

Großbritannien, Frankreich, BRD 2011 (Tinker, Tailor, Soldier, Spy) Regie: Tomas Alfredson mit Gary Oldman, Colin Firth, Tom Hardy, John Hurt 127 Min. FSK ab 12

Bond? Kein Bond! „Dame, König, As, Spion", das höchstkarätig besetzte Spionage-Spiel aus der Zeit des Kalten Krieges, zeigt Geheimdiensteln als graue und grausame Kopfarbeit zwischen staubigen Aktendeckeln. Der Schwede Tomas Alfredson („So finster die Nacht") inszenierte überzeugend und auch im sorgfältigen Bild beeindruckend eine schließlich doch sehr emotionale Geschichte, in der nur gebrochene und vereinsamte Menschen zurückbleiben.

In Ungarn gibt es beim Bauern-Opfer eines Spions noch Schießereien und Action. Dann erweist sich die Suche nach einem „Maulwurf" in der Zentrale des britischen Geheimdienstes MI6 als Stellungsspiel. Als konzentriertes Schachspiel ganz gemäß der Titel-Metapher von John Le Carrés gleichnamigem Roman aus dem Jahre 1974. „Circus" nennen die realistischeren Kollegen der Fiction namens Bond ihren eigenen Laden. Eine Versammlung der Direktoren legt andere Namen für diese Anstalt nahe. Der alte Boss „Control" (John Hurt) tritt nach frechen Verdächtigungen cholerisch brüllend zurück. Sein treuer Assistent George Smiley (Gary Oldman) folgt ihm, um bald darauf in geheimer Geheimmission mit der Suche nach dem Spitzel in der Spitze beauftragt zu werden. Von außen, mit der Hilfe seines eigenen „Insiders", spielt er die Züge der Beteiligten nach. Zeit genug hat er ja, nachdem ihn seine Frau verließ. Auch hierbei gab es einen Verräter, der noch zu enttarnen ist...

Es sind die ganz feinen Töne im mit herrlichem Anti-Flowerpower ausgestatteten Film, die ihn so ungemein spannend machen. Da zeigt etwa eine störende Fliege im Auto unauffällig die überlegene Intelligenz von Smiley: Während es die Kollegen vergeblich mit Schlagen versuchen, öffnet er einfach ein Fenster. Am stillen Mann nagt aber kaum merklich die Untreue der Frau und die Tatsache, dass er Karla, den Mastermind der Sowjets, nie erwischen konnte. Diese Verquickung von geheimdienstlicher Weltpolitik und privater Hoffnung auf ein kleines Glück durchzieht „Dame, König, As, Spion". Prägend sind auch die Darsteller mit dem mutig und erfolgreich gegen den eher wilden Strich besetzten Gary Oldman als genialer Spießer Smiley. Colin Firth glänzt als schillernder Kollege Bill Haydon noch am ehesten als Spion im Stile Bonds. Nebenbei macht ein lächerlicher Finanzminister die eigentlich mächtigen Politiker zur Witzfigur. Die Fäden ziehen wieder andere, doch auch denen möchte man nicht vertrauen. Die bedrückende Stimmung des Films ist ihnen geschuldet, ihrem allgemeinen Unvermögen, ein erfülltes Leben zu führen. Man fragt sich, wofür diese Menschen eigentlich kämpfen, wenn sie nicht gegen den jeweiligen Gegner (Kommunismus/Terrorismus/Islamismus) kämpfen.

Die Kunst zu gewinnen - Moneyball

USA 2011 (Moneyball) Regie: Bennett Miller mit Brad Pitt, Jonah Hill, Ken Medlock, Philip Seymour Hoffman 133 Min.

Ist Brat Pitt so gut, dass man sich wegen ihm einen Film über Baseball, diesen Sport mit den unverständlichen Regeln, anschauen will? „Moneyball" behandelt eine spezielle Fußnote neuerer us-amerikanischer Sportgeschichte, die überraschende Siegesserie der „Underdogs" Oakland Athletics im Jahre 2002.

Manager Billie Beane (Brad Pitt) verliert in den Playoffs der Saison 2001 und auch noch seine drei besten Spieler an die wesentlich besser ausgestattete Konkurrenz. Der Ex-Spieler macht aus dem Problem die Lösung: Er engagiert Peter Brand (Jonah Hill), einen nerdigen Wirtschafts-Wissenschaftler, der sich darauf spezialisiert hat, mit mathematischer Hilfe Spieler zu finden, die unter Wert gehandelt werden. Das ist im Film so trocken, wie es klingt. Pitt braucht nur nachdenklich zu schauen, während ein preiswerter Pitcher analysiert wird. Erst als Beane den alten, verknöcherten Scouts des Vereins knapp und unumstößlich erklärt, dass sie nichts mehr zu sagen haben und ganz andere Leute gekauft werden, macht Pitt Spaß.

Doch wie der Manager sein Team überrascht, indem er mal alles anders macht, so liefert Regisseur Bennett Miller („Capote") statt dem Sportfilm ein Menschenfilm ab. „Moneyball" hat erfreulich wenige Spielszenen und die laufen nur als eingeblendete Originalaufnahmen. Der Film selbst führt keine großen, lokalpatriotischen Reden, sondern das nachdenkliche, fast private Gespräch. Die übliche Sportfilm-Spannung gibt es nur im letzten Spiel und auch das wird raffiniert mit einer ungewöhnlichen Tonspur akzentuiert: Während das Stadion explodiert, ist es völlig still um Billie, der sich tief in den Katakomben versteckt. Denn nach seiner eigenen, nicht besonders erfolgreichen Spieler-Karriere ist der Manager so versessen auf Erfolg, dass er sich kein Spiel persönlich ansieht.

Wenn man schaut, wer das geschrieben hat, ist es eigentlich nicht mehr so überraschend: Die Steilvorlage von Buchautor Michael Lewis („Moneyball: The Art of Winning an Unfair Game") wandelten die Oscar-Sieger Steven Zaillian („Schindlers Liste") und Aaron Sorkin („The Social Network") in ein konzentriertes und kluges Drehbuch um. Vor allem Zaillians Filmografie liest sich wie eine Hitliste, allein im letzten Jahrzehnt schrieb er „Verblendung", „American Gangster", „Die Dolmetscherin", „Gangs of New York" und „Hannibal"!

So erzählt „Moneyball" fast als Fortsetzung des „Facebook-Films" von Pionieren, von Revoluzzern, die sich den Kopf einrennen. Einen melancholischen Ton bringt Beanes Privatleben, seine zwölfjährige Tochter, die er ab und zu bei der Mutter abholen darf, sowie Rückblenden zu seiner eigenen Karriere. Das Heuern und Feuern von Sportlern und anderen Idolen zeigt sich hier als zynischer Menschenhandel, als Variable einer mathematischen Formel. Schauspieler werden übrigens gerne auch nach ihrem Box Office-Value eingesetzt. „Moneyball" überzeugt hier künstlerisch durch eine satt gute Ausstattung in den Nebenrollen: Der selbst im Spiel eines tumben Trainers exzellente Philip Seymour Hoffman war schon Millers Hauptdarsteller in „Capote". Robin Wright taucht wieder - wie in der Verschwendungs-„Verblendung" - als Ex am Rande auf. Im Zentrum bleibt die Figur von Billie Beane, der nach einem realen Vorbild geformt wurde: Der Film kommt, nachdem der Sport erledigt ist, in seinem Epilog noch mal ganz groß auf ihn zurück. Die Tochter singt auf einer Cassette „Papa, du bist ein Verlierer" und nicht nur deswegen erweist sich „Moneyball" als ausnahmsweise sehenswerter US-Sportfilm.

Sex on the Beach

Großbritannien 2011 (The Inbetweeners Movie) Regie: Ben Palmer mit Simon Bird, Joe Thomas, James Buckley, Blake Harrison, Lydia Rose Bewley 97 Min. FSK ab 16

Millionen Briten können nicht irren. Oder waren es Fliegen? Egal, auf jeden Fall hat „The Inbetweeners Movie" (so der Originaltitel) auf der Hitliste britischer Kino-Komödien „Bridget Jones" vom ersten Platz verdrängt. Nun hat diese Meldung ähnlichen Wert wie: Faustkeil praktischer als Smartphone! Das mag für Neandertaler gelten, aber man muss deshalb nicht gleich seine Flatrate gegen Flachkiesel eintauschen. Oder: „Sex on the Beach" ist wohl mit Abstand das Dämlichste und Ödeste, was 2012 ins Kino kommt.

Vier britische Idioten, die längst mit dem Pubertieren fertig sein sollten, dürfen nach dem Schulabschluss mal ohne Mama und Papa Urlaub machen. Sie packen in ihren Koffer viel Fäkalhumor, der nichts auslässt, dazu verklemmte Anzüglichkeiten (siehe der verklemmt anzügliche deutsche Titel) und Blödheit, weit über die Schmerzgrenze des Fremdschämens. Trottel 1-4 landen auf einer billigen, kretischen Partymeile und wirken selbst in dieser Umgebung noch unterbelichtet. Ohne Ahnung zu haben, reden sie dauernd unflätig von Sex und treffen in einer vollkommen leeren Neppbar ausgerechnet auf vier nette, intelligente Frauen. Bis das einfallslose Drehbuch dann die völlig biederen Happy Ends anleiert, muss jedoch noch eine Menge Ekelhaftes runtergespult werden. Witzig ist der Film nicht, frech ebenso wenig. Vielleicht war ja die TV-Sitcom lustig, aus der die Figuren entlaufen sind.

My Reincarnation

USA, Niederlande, BRD, Italien 2011 Regie: Jennifer Fox 100 Min.

„Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?" So messianisch müsste die Klage dieses Films klingen - wären wir nicht auf dem Gebiet des Buddhismus und in Italien. Deshalb spielt die Tonspur „Via, via" (dt: Weg, weg) von Paulo Conte und auch das verstehen wir: Yeshi Silvano Namkhais Vater ist der berühmte buddhistische Lehrmeister Namkhai Norbu Rinpoche, der seit Jahrzehnten die Welt bereist, um seinen Glauben zu verbreiten und den Menschen zu helfen. Nur zuhause ist er nicht so oft. Diese Geschichte mag häufiger vorkommen, doch Chögyal Namkhai Norbu Rinpoche gilt als der führende Meister der tibetisch-buddhistischen Dzogchen-Gemeinschaft. (Dzogchen, die „spirituelle Essenz aller buddhistischen Lehren".) Geboren 1938 in Osttibet floh er 1960 vor der chinesischen Verfolgung nach Italien und gründete im Laufe der Jahrzehnte weltweit neue Zentren der Dzogchen-Gemeinschaft.

Khyentse Yeshe (Yeshi Silvano Namkhai), Sohn und Schüler von Chögyal Namkhai Norbu hingegen wurde in Italien 1970 geboren. Er erhielt eine christliche und buddhistische Erziehung, studierte Philosophie und Informatik und arbeitete nach seinem Studium im Bereich der modernen Technologien. Obwohl auch er als Reinkarnation eines berühmten buddhistischen Lehrers erkannt wurde, der noch dazu geliebter Onkel seines Vaters war, weigert er sich, diese Tradition fortzuführen. Wir sehen in den ersten Bildern einen rebellischen Studenten, der die elterliche Wohnung verlässt, aber vor allem geliebt werden will. Als Sohn, nicht als Schüler und nicht als Wiedergeburt seines Großonkels. Doch der berühmte Vater, so unkonventionell und pragmatisch er als freundlicher Lehrer für andere war, verhielt sich wie ein Meister nicht wie ein Vater.

So sehen wir Yeshi 13 Jahre später mit einem „normalen italienischen Familienleben". Während der Vater sehr vertraut den Dalai Lama im traumhaft gelegenen Tempel im toskanischen Arcidosso empfängt, genießt der scheinbar verlorene Sohn seine Fahrten in luxuriösen Autos. Erst später nutzte er seine häufigen Autofahrten für Meditationen und der Film hält in größeren Schritten eine Wandlung fest: Beeinflusst auch durch eine Krebs-Erkrankung des Vaters hat er sich schweren Herzens entschieden, nicht mehr Sohn sondern Schüler zu sein.

Die Regisseurin Jennifer Fox hatte bereits einige anerkannte Dokumentarfilme gemacht, als sie 1985 in einer Auszeit vom Filmemachen als Sekretärin von Namkhai Norbu Rinpoche mit ihm reiste. Sie filmte aber weiter und so entstand über 20 Jahre das sehr intime Material für diesen Film. Obwohl Fox dem porträtierten Meister sehr nahe steht, ist „My Reincarnation" keine der distanzlosen Huldigungen geistiger Größen. Aber auch keineswegs eine Demontage eines lieblosen Vaters. Vor allem in dessen Krankheit sieht man beide Seiten, erkennt den in seiner enorm selbstlosen Hilfsbereitschaft für sich selbst hilflosen Menschen, mit sehr menschlichem Zweifel und Unruhe angesichts des Todes.

Underworld Awakening

USA 2011 (Underworld Awakening) Regie: Måns Mårlind, Björn Stein mit Kate Beckinsale, Stephen Rea, Michael Ealy 88 Min.

Um es kurz und knapp zu sagen: Knapp 90 Minuten Underworld - Teil 4 erfüllen die Erwartungen der Fans voll und ganz. Genauer gesagt, vor allem in Bezug auf die weibliche Hauptfigur im engen Latexdress: Die Erwartungen der Fanboys, dieser soziologischen Konstruktion von Filmkritik und -produktion. Fanboys sind etwas anspruchslose, wenig experimentierfreudige Kinogänger (männlich), die sogenannten Kultfilmen mit ihrer ungeteilten Begeisterung (haben die sonst kein Leben?) zu großem Erfolg und beim Merchandise zu noch größeren Umsätzen verhelfen. Man gibt ihnen auch, seit „Star Wars" das reizvollere New Hollywood gekillt hat, die Schuld an der Infantilisierung des Kinos. Kurz: Die werden nie erwachsen, die Filme und die Fan(boys).

Im vierten Film seit dem sagenhaften Start im Jahre 2003 (mit einem Ausflug in mittelalterliche Vorgeschichte ohne Kate Beckinsale) sind die Vampire und die Lycans die Gejagten, seit die Menschen ihre Existenz entdeckten und einen massiven Angriff auf beide Nachtwesen starteten. Die dezimierten Helden von Underworld verstecken sich im Underground und Selene hängt als Verdächtige Nr. 1 gefriergetrocknet im Labor von Dr. Jacob Lane (Stephen Rea). Der Leiter von „Antigen" arbeitet an einem Gegen-Gen, eigentlich. Nachdem Selene von einem unbekannten erweckt wird, rettet sich erst sich spektakulär und dann ihre auch liebliche und lebensgefährliche Tochter. Ja, in zwölf Jahren Vampir-Nickerchen ist einiges passiert. Von ihrem geliebten Werwolf Michael bleibt sie getrennt, doch der Kampf zwischen den beiden Beißer-Clans geht weiter, ganz wie beim alten Barden: „Zwei Häuser waren hier in Vancouver durch alten Groll zu neuem Kampf bereit, aus dieser Feinde unheilvollem Schoss das Leben zweier Liebender entsprang...". Doch von Clan-Saga entwickelt sich „Underworld" zu einer Familiengeschichte mit Kernfamilie Mutter Vampir, Vater Wolf, Tochter Hybrid.

Die Gegner sind inzwischen mächtig gewachsen, nun kämpft Selene gegen sehr riesige Lycans, mobilisiert ihre zaghaft gewordene Verwandtschaft und deckt eine Verschwörung auf. Der blaugraue Look von Vancouver wirkt auch bei den neuen schwedischen Regisseuren Måns Mårlind und Björn Stein wieder ebenso cool wie Beckinsales Figur in schwarzem Gummi. Doch statt Atmosphäre gibt es vor allem satt Action, die durch unglaubliche Geschwindigkeit von Selenes Morden beeindruckt. Die gibt es nicht zu knapp, obwohl „Underworld 4" endlich mal ein Film ist, der mit knappen 80 Minuten echter Laufzeit nicht übertreibt - nicht in der Länge, in allem anderen schon.

24.1.12

The Descendants - Familie und andere Angelegenheiten

USA 2011 (The Descendants) Regie: Alexander Payne mit George Clooney, Shailene Woodley, Amara Miller 115 Min.

Man kann sich diesem Film als Fan von Alexander Payne nähern - oder als jemand, der bei der Kaffee-Werbung Lust auf noch einen Film von George Clooney bekommen hat. Payne hat (neben dem Buch zu Adam Sandlers „Chuck und Larry"!) mit den erwachsenen Komödien „Sideways" (2004 mit Paul Giamatti als Weintester) und „About Schmidt" (2002 mit Jack Nicholson als Neben-die-Schüssel-Pinkler) begeistert. Figuren, die in ihrer schrulligen Tragik wieder komisch sind, hat man derart nicht oft zuvor auf der Leinwand gesehen. Nun reiht sich Clooney bei den Payne-Darstellern ein und sorgt direkt mit einem nicht ganz passenden Hawaii-Hemd für erwartete Abseitigkeit.

Matt King (George Clooney) darf als Bewohner einer der Traum-Inseln Hawaiis durchaus die gleichnamigen Hemden tragen, nur gäbe es echt schönere und auch die Frisur ist weit von glamourös entfernt. Desillusionierend ebenso die Ansage Matts auf der (eifrig benutzten) Tonspur, er habe seit 15 Jahren nicht mehr auf einem Surfbrett gestanden, man solle sich das Leben hier nicht als Dauerurlaub vorstellen. Denn er verwaltet als einer von vielen Erben der Urbevölkerung federführend eine schwerreiche Familien-Stiftung, auch wenn keiner aus dem King-Clan irgendwie nach Geld aussieht. Dass gerade die Entscheidung ansteht, ob Matt und all seine Cousins ein wunderbares Stück Land für ein Golf-Resort hingeben, wird nebensächlich, als seine Frau bei einem Schnellboot-Rennen verunglückt und im Koma liegt. Der Anwalt muss sich um seine beiden Töchter kümmern, die schwer pubertierend (die ältere Alexandra) und verstört (die kleine Scottie) sind. Dabei ist er als Vater fast so albern, wie als gehörnter Gatte in dem Moment, als er von der Affäre seiner Frau erfährt: Mit Schlappen schlurft er wütend rennend zu den Freunden ein paar Straßen weiter. (Das sieht so unmöglich aus, wie es klingt!) Die wussten auch alles. Nun machen sich Vater und Töchter auf, um den Liebhaber (Matthew Lillard) auf einer Nachbarinsel zu finden. Im Gepäck ist Alex' volldebiler Freund, dessen Anwesenheit sich erst später sehr schön erklärt. In der gemeinsamen Verschwörung kommt Matt seiner abweisenden Tochter Alex langsam näher. Wie er zu seiner Frau, deren lebensverlängernde Maschinen abgestellt werden sollen, und zu dem Erbe seiner Vorfahren steht, wird sich entwickeln.

Das Wichtigste zuerst: Clooney gewinnt in der ungewohnten Rolle durchaus Sympathien, kann auch dieser untypischen und wenig glamourösen Figur Substanz und Tiefe geben. Auf den ersten Blick ist der neue Payne allerdings nicht so witzig, nicht so berührend und auch nicht so gut besetzt oder sogar nicht so gut gespielt wie seine Vorgänger. Was Alexander Payne jedoch über seine stille und unspektakuläre Geschichte an menschlichen Werten transportiert, merkt man erst zum Ende. „The Descendants" (Bindestrich und ein wiedermal unglaublich bescheuerter, deutscher Titel-Wurmfortsatz) ist ein nachhaltiger Film, im doppelten Sinne. Nicht nur mit der hawaiianischen Musik kann Payne das spezielle Leben auf den Inseln spürbar machen. In der sehr berührenden Wertschätzung einer unvergleichlichen Landschaft und dem Versuch, sie zu erhalten, ist die Geschichte dann wieder sehr universell.

The Artist

Frankreich 2011 (The Artist) Regie: Michel Hazanavicius mit Jean Dujardin, Bérénice Bejo, John Goodman, James Cromwell, Penelope Ann Miller 100 Min.

Ausgerechnet die beiden Filme, die nostalgisch und melancholisch zum Ende der Stummfilmzeit zurückreisen, sind die Favoriten der Oscars fürs Jahr 2011: Scorseses „Hugo Cabret" mit elf und „The Artist" mit zehn Nominierungen feiern die Zeit vor dem technischen Einbruch des Tons in der großen, stummen Filmkunst. Ob dies mit dem Einbruch von 3D zu tun hat, das ja auch ein epochaler Einschnitt sein will? Dann beweisen aber beide Filme, dass man mit zweidimensionaler Technik und guten, vielschichtigem Erzählen Herz und Verstand des Publikums genau so gut erreichen kann. Michel Hazanavicius gelang mit dem Cannes-Sieger „The Artist" ein Meisterwerk in Schwarzweiß und fast ohne ein gesprochenes Wort!

Ich werde nichts sagen! Programmatisch ist die auf die Leinwand geschriebene Aussage von Stummfilm-Star George Valentin (Jean Dujardin), dessen abenteuerliche Figur sich gerade im Verhör zweier Spione befindet. Nein, er wird nichts sagen. Nicht auf der Leinwand, nicht hinter der Leinwand, wo er mit seinem Hund scherzt und ein Schild warnt: „Be silent!" Auch nicht nach Filmende unter dem tosenden Applaus (im Schriftbild!) des Premierenpublikums und (fast) auch nicht den Rest des Films über den Niedergang seiner Karriere. Denn wir schreiben das Jahr 1927, zeitgleich mit Valentins neuem Hit läuft auch der mittelmäßige „Jazz Singer" an - mit einer Tonspur!

Wie schon bei „Singing in the Rain" gehen mit der Stummfilm-Epoche die Karrieren zu Ende, die sich weigern, bei den „Talkies" mitzumachen. Valentin ist einer von ihnen und während seine Karriere herrlich melodramatisch den Bach runter geht, bis er völlig im Regen steht, eilt die junge Statistin Peppy Miller (Bérénice Bejo), der Valentin einst den Durchbruch ermöglichte, von Erfolg zu Erfolg.

Michel Hazanavicius versammelte in jahrelanger Vorarbeit unzählige großartige Szenen, witzige Momente und doppeldeutige Sätze: „Wir müssen reden!" ist als Anfang vom Ende einer abgeschriebenen Ehe ein Standard. Als doppelsinnige Aufforderung an Valentin, der reden müsste, um seine Karriere fortzusetzen, ist es eine der feinen Noten, die diese romantische Komödie in der Form großer Filmkunst zu einem Meisterwerk machen.

Dazu gehört nicht nur ein Hund, der die Krimikomödie „Dünner Mann" nach Dashiell Hammett zitiert, auch die Nebenrollen, die zum Beispiel mit James Cromwell als treuer Chauffeur Clifton prominent besetzt sind. John Goodman darf als Zigarre rauchender Produzent diesem Klischee kräftig Futter geben. Wenn Peppy allein mit Valentins Smoking eine magische Liebesszene hat, rührt das ebenso einzigartig, wie ihre freche Art begeistert. Wobei noch gesammelt wird, was Hazanavicius in seinem herrlichen Überfluss toller Momente alles zitiert hat. Man glaubt sogar, die Filmmusik von Ludovic Bource zu kennen, die der Film im Gegensatz zum echten Stummfilm selbst mitbringt. Der Song „Pennies from Heaven" wird dabei zum Leitmotiv des Leidens und ist selbstverständlich auch wieder ein (Film-) Zitat. Selbst die Vorlagen für seine Besprechung liefert dieser wunderbare Film gleich mit. Nach dem Dreh einer großartigen, gemeinsamen Tanzszene von Valentin und Peppy stoppt der Regisseur: „Cut. Perfect!" Ob er denn einen Film mit ihr machen wolle, fragt sie. Und er spricht! „With pleasure, kid!". Mit großem Vergnügen, stimmen wir übersetzend ein!

Drive

USA 2011 (Drive) Regie: Nicolas Winding Refn mit Ryan Gosling, Carey Mulligan, Bryan Cranston 101 Min. FSK ab 18

„Autopilot" wäre ein guter Name für jemanden, der regungslos wie eine Maschine nicht nur durch den Straßenverkehr - selbst bei heftigster Polizeiverfolgung - sondern auch durch's Leben kurvt. Der Stunt-Fahrer beim Film (Ryan Gosling), der nur Driver genannt wird, ist so ein Automat. Regen tut sich bei ihm allein das Streichholz im Mund, die Mimik bleibt stoisch - eine perfekte Rolle für Gosling!

Auch die Musik im Auto weicht nicht vom gradlinigen Techno-Drive mit den satten Bässen ab. Es scheint, dieser Sound treibt das Auto an, mit dem der Driver im Nebenjob zwei Räubern zur Flucht verhelfen soll. Mit der Perfektion eines Uhrwerks hängt der Raser sogar Polizeihubschrauber ab. Ohne viele Worte begegnet und hilft der Auto-Fan auch seiner Nachbarin Irene (eindrucksvoll: Carey Mulligan!) und deren Sohn. Da passen zwei auf zurückhaltende, höfliche und stille Weise zueinander. Selbstverständlich findet so was wie Romantik auf den Straßen von L.A. auch im Auto statt. Doch dann kommt Irenes Mann Gabriel überraschend früh aus dem Knast, der Driver zieht sich zurück. Ja, versucht sogar, zu helfen, als Gabriel direkt wieder Probleme mit ganz gefährlichen Leuten bekommt. (Ron Perlman gefällt als gnadenloser Geldeintreiber Nino). Wie es in dem dunklen Genre kommen muss, auch wenn es mit modernem Neon ausgeleuchtet ist, verstrickt sich der schweigsame Außenseiter tragisch in einen zu großen Kampf. Nun muss er seine eigene Haut retten, doch die College-Jacke mit dem prolligen Skorpion-Aufnäher wird Flecken bekommen...

„Drive", die angeblich beste Regie von Cannes 2011, ist ein völlig unoriginelles und brutales Action-Filmchen der Art, die Hollywood fast im Wochenrhythmus raushaut („Transporter", „Fast & Furious"). Der dänische Regisseur Nicolas Winding Refn machte zuvor mit dem ähnlich brutalen „Walhalla Rising" (2009) und vielsagenden Titeln wie „Pusher", „Fear X" oder „Bleeder" auf sich aufmerksam. Allerdings verbreiten Kritiker-Kollegen auch Lobeshymnen zu „Drive", der ein „Neo-Noir-Thriller" sein oder Hommage an Gangster-Filme der 80ger. Wer allerdings mehr als nur Genre-Mechanik will, wird hier vor die Wand gefahren.

23.1.12

Jack und Jill

USA 2011 (Jack and Jill) Regie: Dennis Dugan mit Adam Sandler, Katie Holmes, Al Pacino, Eugenio Derbez 91 Min. FSK o.A.

Kaufen sie zwei Clowns und bekommen sie gratis einen Method-Actor dazu! Wieso hat man da nicht früher dran gedacht, die mal frechen („Happy Gilmore", 1995), mal lahmen („Big Daddy", 1999) Komödien des doppelten Schauspiel/Regie -Lottchens Sandler/Dugan mit Al Pacino aufzupeppen? Keine Angst vor Adam Sandlers Doppelrolle, die selbst für Fans schwer zu ertragen ist: „Jack und Jill" oder besser: „Jill und Al" ist als Sandler-Komödie ein Volltreffer.

Zu Thanksgiving holt die wohlhabende LA-Familie Jack Sadelsteins (Adam Sandler) nicht nur Otto aus dem Obdachlosenheim, auch die extrem nervige Verwandte Jill (Adam Sandler) darf vorbeikommen. Jack und Jill Sadelstein sind zweieiige Zwillinge, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die alleinstehende Frau beeindruckt mit heftigem Haarwuchs, Schweißausbrüchen, infantilen Nervenzusammenbrüchen und geht auch ansonsten allen auf die Eier. Was so gesagt werden muss, denn dies ist ein Adam Sandler-Film und deshalb von Natur aus deftig.

Das Familienfest muss verlängert werden, weil Jack von seiner Werbeagentur einen unmöglichen Auftrag bekommen hat: Al Pacino soll für einen Cappuccino der Fastfood-Kette Dunkin'donuts namens Dunkacchino Werbung machen! Was 'ne super bescheuerte Idee, welcher Filmstar würde sich für Kaffee-Werbung hergeben? Bei einem Basketball-Spiel der geliebten Lakers treffen Jack und Jill auf Johnny Depp und Al Pacino. Der alte Star ist inkognito, weil er gerade einen Filmhit auf Youtube hat: Sein schäumender Ausraster auf der Bühne, weil ein Zuschauer sein Handy klingeln lässt. Doch nun verfällt der geniale Mime hemmungslos den schwer nachvollziehbaren Reizen Jills. Seine Telefonnummer lässt er in Senf auf einem Hotdog überbringen. Eine abstruse Romanze beginnt, deren Höhepunkt noch lang nicht erreicht ist, wenn der liebesverrückte Pacino nun mitten im shakespeare'schen Königsdrama auf der Bühne selbst ans Handy geht, um eigenes Liebesgesülze abzulassen.

Die altbekannte Geschichte (Buch: Steve Koren, Adam Sandler) vom skrupellosen Werbemanager, der seine Familie für den Job verkauft, könnte auch bei „Jack und Jill" als simples Vehikel langweilen. Doch diesmal ist es weniger das Verharren bei überraschend tiefen Einsichten ins Wesen des Menschlichen, mit dem Sandler/Dugan ihre Komödie kippen lassen. Diesmal wird mit genialer Hilfe Al Pacinos einfach weiter königlich gealbert. Dabei nimmt Sandler mit Bemerkungen wie, Skypen wäre bestimmt antisemitisch, weder Rücksicht auf besonders eifernde Glaubensgenossen wie bei Durchfall-Orgien auf den Geschmack. Dass diese kakophonische Komödie trotzdem schizophren gelingt, liegt an der heftigen Frequenz von guten Gags, Zitaten und Promis. Der typisch cholerische Depp McEnroe droht einem Atheisten Prügel an, Pacino stürmt Jacks Haus im Stile von Scarface und Jill zerschmettert bei einem wenig romantischen Abend den einzigen Oscar des liebesblinden Stars. Dieser Film wird keinen Ersatz dafür bringen, aber viel Spaß!

Michael (2011)

Österreich 2011 (Michael) Regie: Markus Schleinzer mit Michael Fuith, David Rauchenberger, Christine Kain, Ursula Strauss 96 Min. FSK ab 16

„Michael", das Spielfilmdebüt des 39-jährigen österreichischen Schauspielers Markus Schleinzer, ist die Geschichte eines Pädophilen, der einen zehnjährigen Jungen im Keller gefangen hält. Michael ist dabei nicht das Opfer, sondern der Täter. Abgesehen von dieser problematischen Perspektive erschrickt beim nachträglichen Nachdenken, wie wenig der sehr nüchterne Film erschreckt hat. Schwer erträgliche Szenen bleiben nicht aus, auch wenn die säuberlich in der Kladde notierten Vergewaltigungen nicht gezeigt werden. Auch die Selbstverständlichkeit, wie er sich ein „neues" Kind holen will, weil das alte krank wird, ist unfassbar. Die Banalität des Kinderschändens eines Versicherungs-Kaufmannes zeigt sich als Tristesse eines unreifen Menschen, der missbraucht, wie er Weihnachten feiert oder fernsieht. Zu Recht meint Schleinzer, „eine Gesellschaft kann nur so weit entwickelt sein, wie sie auch in der Lage ist, sich mit ihren Tätern auseinanderzusetzen." Ob seine nüchterne, kühle Auseinandersetzung allerdings weiter führt, ist fraglich. Am Ende entledigt sich der Film zu einfach seines Täters und es bleibt nur Bangen um die Rettung des Kindes. Regisseur Schleinzer hat bewusst keine reale Geschichte verarbeitet und „wollte den Stoff aus den Griff des Boulevard befreien". Hört sich besser an, als der Film ist, der im Wettbewerb von Cannes deplatziert war. Ebenso wirft der am Wochenende verliehene, selbst in der Jury umstrittene Max Ophüls Preis für „Michael" ein seltsames Licht auf die deutschsprachigen Nachwuchsfilme, die in Saarbrücken eigentlich prämiert werden sollten.

Arirang - Bekenntnisse eines Filmemachers

Südkorea 2011 (Arirang) Regie: KIM Ki-duk mit KIM Ki-duk 100 Min. OmU

Der 1960 geborene Süd-Koreaner Kim Ki-Duk realisierte seit seinem Debüt „Crocodile" 1996 in 13 Jahren unglaubliche 15 Filme. Bei seinem letzten, „Dream", wäre eine Schauspielerin bei einer Selbstmordszene fast tatsächlich gestorben, hätte sie der Regisseur nicht im letzten Moment aus der Schlinge um ihren Hals befreit. Dieses Ereignis traumatisierte ihn. Auf den Festivals bemerkte man das Fehlen neuer Filme von ihm. Die entstandenen Gerüchte erhielten mit seiner Wiederkehr nach drei Jahren bei Cannes 2011 eine überraschende und bewegende Antwort: „Arirang" zeigt Kim Ki-Duk zurückgezogen in einer Hütte und in der Hütte ein Zelt, damit er ohne vernünftige Heizung unter winterlichen Bedingungen überleben kann. Es ist ein extrem zurückgezogenes Leben, bei dem sich der Regisseur selbst, völlig ohne Team, aufnimmt. „Ich kann gerade keine Filme machen. Also filme ich mich selbst." Er filmt sich beim Essen machen, beim Heizen, beim unermüdlichen Bau einer selbst entwickelten Expresso-Maschine. Und - dies ist ein Kunstwerk, kein banales Filmtagebuch - auf einer nächsten Ebene, reflektierend vor seinen eigenen Aufnahmen, im Selbstgespräch mit sich auf den Bildschirmen. Denn obwohl die Lebens- mehr als die Schaffenskrise zutiefst erschreckend wirkt, „Arirang" ist auch immer wieder komisch. So dass der Gedanke nicht ausbleibt, dies alles könnte vorgespiegelt sein. Aber er verfliegt auch schnell wieder, spätestens wenn dieser Mann, der die Schründe an seinen Fersen in Großaufnahme zeigt, hemmungslos vor der Kamera weint. Nicht weint, heult, jammert, schreit, bis sein Schmerz einem ins Mark fährt. Der stark besoffene Gesang des titelgebenden koreanischen Schmachtliedes Arirang bleibt nach dem Film unauslöschlich im Gedächtnis. Dass Kim Ki-Duk im Schnitt den selbst auferlegten Sisyphos-Gang des jungen Mönches aus „Frühling, Sommer, Herbst, Winter... und Frühling" mit seinem eigenen Leidensweg verbindet, führt zu einer gewaltigen, ganz großen und tief bewegenden Szene. Bitter und wieder so glaubwürdig, dass man fast die Polizei rufen möchte, sind eingestreute Spielszenen, wie er sich an verräterischen Mitarbeitern rächt, die ihm ein Drehbuch geklaut haben. Mit einer selbst gebauten Pistole, wohlgemerkt. Wie gesagt, „Arirang" ist nicht das auf digitalen Datenträger gespeicherte Selbstmitleid eines Depressiven, es ist - ausgehend von ganz banalen Beobachtungen - ein großes Werk! Wer den zurückgezogenen Koreaner bei der Premiere in Cannes erlebte, kann ihm nur wünschen, dass er bald wieder einen neuen Film macht. Nicht für das Weltkino sondern für sich selbst.

Fellini hatte sein „8 1/2". Kim Ki-Duk mit „Arirang" sein „15 1/2". Nicht nur die Frequenz, mit der die Meisterwerke des gefeierten Süd-Koreaners nach „Frühling, Sommer, Herbst, Winter... und Frühling" auf die internationalen Festivals kamen, unterscheidet sich von der Epoche Fellinis. Auch die Art des Filmemachens hat sich geändert. „Arirang" ist extrem persönlich und trotzdem als Kunstwerk geformt. Ein radikales Eingeständnis der eigenen Depression und der Weg über einfachstes Handwerk zurück zum Film.

17.1.12

Bezaubernde Lügen

Frankreich 2010 (De vrais mensonges) Regie: Pierre Salvadori mit Audrey Tautou, Nathalie Baye, Sami Bouajila 104 Min. FSK o.A.

Ein zauberhafter Film, nicht nur wegen Audrey „Amelie" Tautou, die erneut einen Tollpatsch in Liebeswirren spielt, sondern auch wegen ihrer Mitspieler „Mama" Nathalie Baye und "Verehrer" Sami Bouajila, die sie mit in das herrlich komische Gefühls-Chaos hineinzieht. Dabei will Émilie Dandrieux (Tautou) als sachliche Leiterin eines Friseursalons am Mittelmeer nichts von Gefühlen wissen: Der anonyme Liebesbrief landet postwendend im Papierkorb - während der unerkannte Absender daneben sitzt. Jean (Sami Bouajila) ist einfacher Handwerker mit eindrucksvoller akademischer Laufbahn, was Émilie später enorm unsicher machen wird. Aber vor allem ihre depressive, frisch getrennt lebende Mutter Maddy (Nathalie Baye) überzeugt als Grund, die Finger von den Gefühlen zu lassen. Doch genauso resolut, wie Émilie einer uneinsichtigen Kundin den Pony stutzt, leitet sich den Liebesbrief anonym an die Mutter weiter. Die Gefühlsaufhellung tritt sofort ein und die Gesetze des Genres sorgen dafür dass Mandy ausgerechnet Jean als uneigentlichen eigentlichen Absender entdeckt. Nun soll er das Liebesspiel mit der Mutter treiben, um - von launiger Entlassung bedroht - in der Nähe seiner eigentlichen Liebe bleiben zu können. Das zunehmend bittere Spiel entgleitet Émilie zusehends, die Verwechslungs-Szenen, die unfreiwillig belauschten Gespräche gelingen zunehmend. Die Komödie ist ein Volltreffer! Neben dem ungewöhnlichen Gefühlsdreieck fährt Regisseur Pierre Salvadori („Die Anfänger") reihenweise komische Figuren auf, kann beim pointierten und nuancierten Komödien-Zusammenspiel der doppelten Verwechslungskomödie auf tolle Schauspieler mit viel Gefühl vertrauen.

J. Edgar

USA 2011 (J. Edgar) Regie: Clint Eastwood mit Leonardo DiCaprio, Naomi Watts, Armie Hammer 137 Min. FSK ab 12

Dieser Mensch war so unglaublich, dass es eigentlich schon zig Filme über ihn geben müsste: John Edgar Hoover (1895 - 1972) gründete das Federal Bureau of Investigation (FBI) und war 37 Jahre lang, bis zu seinem Tod, dessen Direktor. Dank den immer neuesten Geheimdiensttechniken hatte er Geheimnisse von allen wichtigen Politikern - und deren Frauen - in der Schublade und verheimlichte gleichzeitig seine Homosexualität erfolgreich. Fast-Politiker Clint Eastwood lässt Leonardo DiCaprio eindrucksvoll die Tragik dieses von Kommunisten-Hass und Selbstverleugnung verhinderten Lebens verkörpern. Obwohl nirgendwo ein Computer zu sehen ist, schreit diese Biographie des Gründers von Überwachungsstaat und Geheimdienst-Schnüffelei in jeder Faser „Facebook", „Vorratsdatenspeicherung" und „Staatstrojaner".

Der Film lässt direkt eine Bombe los: Bei einem Attentat in Washington kommt der junge Mitarbeiter des Justizministeriums John Edgar Hoover noch mit Fahrrad zum Tatort. Kriminalistisch seiner Zeit - wir befinden uns am Ende der Zehner Jahre - weit voraus, sammelt er die Flugblätter der Attentäter ein und wird erst später die Methoden vorantreiben, die zur Erkennung der Druckpresse und zu einer brutalen Verhaftung führen werden. So erzählt es jedenfalls der eigene Rückblick eines alten J. Edgar Hoover, der noch im Amt seinen glorreichen Werdegang jungen Untergebenen in die Schreibmaschine diktiert. Erst ganz am Ende des Films enthüllt die Person, die Hoover am nahesten stand, wie sehr dies alles auch bewusste oder unbewusste Erfindung ist. Ob wiederum die Geschichte des Drehbuchs von Dustin Lance Black „wahr" ist, wird vor allem in Bezug auf die Homosexualität von Hoover heftig diskutiert werden. Doch als Film-Biographie funktioniert sie vortrefflich.

Der steife, sozial unbeholfene junge Mann, der bis zu deren Tod mit seiner Mutter (Judi Dench als „M"utter aller Geheimdienste) zusammenleben wird, schürt und nutzt am Anfang seiner Karriere eine verbreitete Hetzjagd auf Kommunisten, um die Rolle seines Leben zu schaffen. Auf Kosten hunderter Menschen, die deportiert wurden, erhält er sein FBI und den Posten als erster Direktor. Privat scheitert sein erstes, unbeholfenes Date, weil seine Vorstellung von Romantik der von ihm angelegte Index der Nationalbibliothek ist. Zwar kann die Kollegin Helen Gandy (erstaunlich: Naomi Watts) nichts mit diesem Muttersöhnchen anfangen, doch inmitten der Grundlage für spätere Rasterfahndung nimmt sie den Job als seine Sekretärin an. Es wird eine lebenslängliche Bindung sein, so wie Hoover auch im neu zu formenden Stab des FBI den eleganten und äußerst charmanten Clyde Tolson (Armie Hammer) zu seiner rechten Hand macht. Man könnte sagen: Liebe auf den ersten Blick. Das Paar wird jeden Tag zusammen essen, doch Kern der herzzerreißenden Tragik dieses verqueren Liebesfilms ist, dass Hoover seine „Geliebten" nahe bei sich hielt, derweil er sie nie an sich ranließ. Die Liebe zu Tolson blieb unerfüllt bis auf einen einzigen, viel zu späten Kuss - auf die Stirn!

Derweil stürzte sich der FBI-Chef auf die Lieben und Leidenschaften „seiner" Politiker: Die Affären John F. Kennedys sind auf Tonband festgehalten. Dessen Bruder, der Justizminister Robert Kennedy, ist ob dieser Erpressung in der Hand seines Untergebenen Hoover. Auch die Frau von Präsident Roosevelt war auf Abwegen, die Position des FBI wird immer stärker. Nur seine Rolle in der Entführung des Lindbergh-Babys fordert das Äußerste an medialer Öffentlichkeitsarbeit vom selbstherrlichen Verteidiger der Freiheit. Nun muss er persönlich Verhaftungen der großen Gangster-Bosse der Zeit vorweisen.

Beim Vornamen nennt „J. Edgar" seinen tragischen Helden und Clint Eastwood macht ein sehr persönliches Porträt aus dem Drehbuch von Dustin Lance Black. Das Spiel von DiCaprio ergreift als linkischer junger Mann und selbst hinter dicker Altersmaske. Doch der einstige Bürgermeister Eastwood, der als Gouverneur für Kalifornien locker jeden Gegner weggefegt hätte, erzählt auch in jeder Faser politisch. Wenn Hoover einen Zustand der Angst schafft, ist das ein rückwärtiges Echo der Angst-Politik von Bush und Co., die Demokratie am Besten in der Hand starker Führer aufgehoben sehen. So gelingt unter den zurückhaltenden Pianoklängen von Eastwood selbst ein emotionaler und gleichzeitig politischer Film, der zum tragischen Ende hin immer bewegender wird.

16.1.12

ghj: Intruders **

*** eine ghj-kritik **************************************

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Intruders

Spanien, Großbritannien, USA 2011 (Intruders) Regie: Juan Carlos Fresnadillo mit Clive Owen, Carice van Houten, Daniel Brühl, Pilar López de Ayala, Ella Purnell 100 Min. FSK ab 16

Ein kreativer Junge in Spanien will seiner Mutter eine schaurige Geschichte zu Ende erzählen, doch sie ist müde und es wird keine gute Nacht. Ein gespenstiges Wesen dringt durch das Kinderzimmer-Fenster ein und will die Mutter ermorden. Dann packt es das Kind und versucht, es nach draußen auf das Gerüst vor dem Haus zu zerren. Parallel dazu erleben wir wie in London der Gerüstbauer (aufgemerkt!) John (Clive Owen) als liebevoller Vater die Ängste seiner Tochter zu beruhigen sucht. Zusammen verbrennen sie eine Monster-Puppe, doch immer wieder taucht ein gesichtsloses Wesen in Mias Zimmer auf. Dieser Horror begann, als Mia auf dem Hof der Großeltern ein Gedicht in einem Astloch versteckt fand. Sie liest die Geschichte vom Schattenmann vor und vervollständigt die Bedrohung im richtigen Leben.

So weit, so reizvoll verläuft dieser Psycho-Horror-Thriller im Geiste der Magie des Erzählens- Außerdem ist er mit ruckeliger Kamera, unheimlichen Geräuschen und Blicken über die Schulter zeitweise echt spannend. Man fragt sich eine Weile neugierig, wie die beiden Geschichten miteinander verbunden sind, wobei beim aufmerksamen Lesen es schon dieser Text verrät. Doch letztendlich erweist sich die ganze Konstruktion als haarsträubend unsinnig: Wieso kristallisiert sich die kindliche Erinnerung an ein wahres Ereignis eines Jungen bei der Tochter des mittlerweile Erwachsenen in Form eines übersinnlichen Wesens? Die im Medizinerkittel verkündete „Folie a deux", die „Geistesstörung zu zweit" kann es nicht sein. Außerdem ist bei der spanisch englischen Produktion die Rolle des Halbspaniers Daniel Brühl als Priester völlig überflüssig. Trotz dieser Probleme ist die Lösung nicht überraschend, das tricktechnisch völlig übertriebene Finale nervt eher. Für kleinen, dreckigen Horror geriet „Intruders" zu überladen und für eine gute psychologische Geschichte macht er zu viel Theater.

Günter H. Jekubzik * guenter@jekubzik.de

Intruders

Spanien, Großbritannien, USA 2011 (Intruders) Regie: Juan Carlos Fresnadillo mit Clive Owen, Carice van Houten, Daniel Brühl, Pilar López de Ayala, Ella Purnell 100 Min. FSK ab 16

Ein kreativer Junge in Spanien will seiner Mutter eine schaurige Geschichte zu Ende erzählen, doch sie ist müde und es wird keine gute Nacht. Ein gespenstiges Wesen dringt durch das Kinderzimmer-Fenster ein und will die Mutter ermorden. Dann packt es das Kind und versucht, es nach draußen auf das Gerüst vor dem Haus zu zerren. Parallel dazu erleben wir wie in London der Gerüstbauer (aufgemerkt!) John (Clive Owen) als liebevoller Vater die Ängste seiner Tochter zu beruhigen sucht. Zusammen verbrennen sie eine Monster-Puppe, doch immer wieder taucht ein gesichtsloses Wesen in Mias Zimmer auf. Dieser Horror begann, als Mia auf dem Hof der Großeltern ein Gedicht in einem Astloch versteckt fand. Sie liest die Geschichte vom Schattenmann vor und vervollständigt die Bedrohung im richtigen Leben.

So weit, so reizvoll verläuft dieser Psycho-Horror-Thriller im Geiste der Magie des Erzählens- Außerdem ist er mit ruckeliger Kamera, unheimlichen Geräuschen und Blicken über die Schulter zeitweise echt spannend. Man fragt sich eine Weile neugierig, wie die beiden Geschichten miteinander verbunden sind, wobei beim aufmerksamen Lesen es schon dieser Text verrät. Doch letztendlich erweist sich die ganze Konstruktion als haarsträubend unsinnig: Wieso kristallisiert sich die kindliche Erinnerung an ein wahres Ereignis eines Jungen bei der Tochter des mittlerweile Erwachsenen in Form eines übersinnlichen Wesens? Die im Medizinerkittel verkündete „Folie a deux", die „Geistesstörung zu zweit" kann es nicht sein. Außerdem ist bei der spanisch englischen Produktion die Rolle des Halbspaniers Daniel Brühl als Priester völlig überflüssig. Trotz dieser Probleme ist die Lösung nicht überraschend, das tricktechnisch völlig übertriebene Finale nervt eher. Für kleinen, dreckigen Horror geriet „Intruders" zu überladen und für eine gute psychologische Geschichte macht er zu viel Theater.

Die Muppets

USA 2011 (The Muppets) Regie: James Bobin mit Jason Segel, Amy Adams, Chris Cooper 109 Min. FSK o.A.

Noch ein Muppets-Film? Ja, aber was für einer! Im Film ist die Truppe um den hektischen Frosch Kermit fast der Vergessenheit anheim gefallen, ihr altes Studio verstaubt und verwaist. Immerhin vergingen 13 Jahre, seit „Muppets aus dem All" ins Kino kam. Eine klägliche Hollywood-Studiotour entsetzt fünf verlorene Gestalten nicht nur wegen des Zustandes vom Ort, der über 600 Muppets-Shows beherbergte. Der kleine Walter belauscht auch noch, dass der fiese Industrielle Tex Richman (Chris Cooper) die Studios aufkaufen, abreißen und unter ihnen Öl finden will. Jetzt muss der scheue Fan die verstreute Muppets-Truppe zusammentrommeln und mit einer neuen Show 10 Mio. Dollar sammeln. Allein dies ein wahnsinniges Unterfangen, zudem ist Walter auch nur eine kleine Puppe.

Aber er wuchs - gemäß dieser sehr vergnüglichen Mischung aus Puppen- und Real-Film - mit seinem größeren Bruder Gary auf, der ganz real von Ko-Autor Jason Segel („How I Met Your Mother") gespielt wird. Zusammen mit dessen Verlobter Mary (Amy Adams) ergibt sich ein munteres Trio von Muppets-Fans, dass die unvergessenen Stars von Gestern zu einen weiteren großartigen Show der meist kleinen Puppen bewegt.

„Die Muppets" spannen den Bogen von aufwändigen Musical-Nummern im Stil der 50er Jahre auf den Straßen von Smalltown (dt: Kleinstadt) bis zum höhnischen Rap des herrlichen Schurken Tex Richman, exzellent von Chris Cooper aufs Parkett gelegt. Menschlicher Gaststar ist der Komiker Jack Black - wider Willen. Eigentlich war er nur ein Beifang des lustigen Aufsammelns verstreuter Muppets: Kermit hing in seiner Villa rum, wo nun verstaubte Erinnerungsbilder wieder ins Leben zurückkommen. Fozzie-Bär spielte sehr schlecht in der Tribute Band „The Moopets". Gonzo war ganz groß im Wasserhahn-Geschäft (Gonzo - Hahn - Hühner! Haah! Haha!!!). Miss Piggy terrorisierte als Schweinefleisch gewordene Teufelin in Paris die Vogue-Redaktion. Und das Tier versuchte bei einer Aggressions-Therapie von seiner Trommel loszukommen, hier war auch Jack Black mit im Team.

„Die Muppets" landen einen Volltreffer, nicht nur für Fans. Zuerst ist Neuzugang Walter umwerfend komisch, dann wird die Erzählung immer wieder von sehr witzigen Wendungen und Kommentaren unterbrochen. Das könnte man glatt postmodern nennen - auf Muppets-Niveau: Als sie endlich alle wieder zusammen gefunden haben, dürfen die sich beschweren, die dabei zu wenig Szenen hatten. Im psychologischen Auge des Komik-Sturms muss sich Walter entscheiden, ob er Muppet oder Mensch ist. Das geriet in einem sentimentalen Song nicht nur zum Schreien komisch-ernst, das wird mit einer zweifachen Doppelung sogar abgedrehte Filmkunst im Stile von „Synecdoche, New York". Doch zum Abschluss einer kompletten Muppets-Show mit den üblichen Pannen, tollen Songs und vielen prominenten Gästen ist alles wieder wie früher.

Once upon a time in Anatolia

Türkei, 2011 (Bir Zamanlar Anadolu'da) Regie: Nuri Bilge Ceylan mit Muhammet Uzuner, Yilmaz Erdogan, Taner Birsel, Ahmet Mümtaz Taylan 157 Min.

Aus der Tiefe einer trockenen, hügeligen Landschaft nähern sich in der Abenddämmerung die Lichter von Autos. Drinnen bespricht man Qualitäten des Büffel-Joghurts, eine lästige Prostata zwingt die Männer zu einigen Pausen. Der Staatsanwalt "Clark" (Gable) Nusret und Doktor Cemal bestimmen das Gespräch, der Fahrer in Polizeidiensten erkundigt sich nach einem Medikament für seine Frau, im Fond eingequetscht döst ein dürrer Mann. Dabei geht es um ihn, den geständigen Mörder, der die Kolonne zur Leiche führen soll. Doch in der hereinbrechenden Nacht sieht ein Brunnen aus wie der andere. Scheinwerfer tauchen Felder und Steppen in ein unwirkliches Licht. Mit viel, aber nicht endloser Geduld fährt man weiter, ein Gewitter zieht auf, zwei Ortskundige streiten über den Weg.

Auf dieser seltsamen Suche kommentiert Doktor Cemal, der später die Leiche untersuchen soll, als geschätzte moralische Instanz das Geschehen und philosophiert. Seine Gedanken beschäftigen sich wie schon Ceylans erster Erfolg „Uzak" (Großer Preis der Jury Cannes 2003), mit Tradition und Moderne. Die nur oberflächlich unergiebige Odyssee legt ihre Perlen beiläufig aus. Ein Blitz beleuchtet antike Statuen, die Szenerie still beobachtend. Eine Orange rollt in ein kleines Tal, ein merkwürdiges Symbol im düsteren Umfeld des Todes.

In seiner scheinbar nur einfach „epischen" Länge ist „Once upon a time in Anatolia" durchaus raffiniert strukturiert: Das „Warten auf Godot", die fast absurde Suche nach einer Leiche, wird von einer Übernachtung auf einem Hof unterbrochen. Lokalpolitik und die tragische Geschichte einer Frau korrespondieren mit der betörend schönen Tochter des Dorfvorstandes. Die erfolgreiche Fortsetzung der Suche am Morgen bekommt nach einer komischen Episode um die Leiche, die nicht in den Kofferraum passt, im Finale, fast im Epilog, die psychologischen Abgründe einiger Beteiligten nachgereicht. Ein paar - wiederum bewusst beiläufige und musikalisch unbetonte - Szenen sowie eine Leichenschau bringen das - immer noch gemächliche - Handeln in einen schwindelnden Zwiespalt zwischen Recht und Moral. Am Ende ergibt sich eine moralische Volte, die den ganzen Film von den letzten Bildern her im Kopf noch einmal wendet.

Ceylans erstaunlicher Film verlangsamt auf den Rhythmus des Lebens, so dass man in diesem Kammerspiel-Road-Movie fast den einzelnen Herzschlag spürt. Eine intensive Stimmung gräbt sich tief in den Zuschauer ein, vielschichtig und nachhaltig wie das Werk selbst, das 2011 in Cannes ex-aequo mit „Le gamin au vélo" den Grand-Prix erhielt.

Faust (2011)

Russland 2011 (Faust) Regie: Alexander Sokurow mit Johannes Zeiler, Anton Adassinski, Isolda Dychauk 134 Min. FSK ab 16

„Gut gewählt Löwe" konnte man Venedig 2011, nachdem der Hauptpreis an Alexander Sokurow und seinen „Faust" ging. Der russische Kulturmensch hielt seine elegischen Bilder etwas zurück und schwelgt im Faust-Stoff, der selbstverständlich eine ganz eigenwillige Interpretation erfährt.

Von Murnaus Stummfilm-Klassiker aus 1926 mit Emil Jannings über „Jan Svankmajer's Faust" als Puppenspiel bis Fura del Baus' modernem „Faust 5.0" wurde Goethes Theaterstück immer wieder verfilmt. Der Russe, oder genauer: Petersburger Alexander Sokurow integriert den Klassiker in sein eigenes ästhetisches Universum, macht ihn zum letzten Teil seiner 1999 begonnenen Tetralogie „Moloch Tier Sonne". Auf gut Deutsch gespielt, von mittelalterlichen Gewölben eingeengt, sucht Faust (Johannes Zeiler) zwar nach der Seele des Menschen, braucht aber vor allem Geld. Sein Vater, ein Quacksalber, will dem Denker nichts geben, beim Pfandleiher trifft der verarmte Forscher den Teufel. Sehr frei nach Goethe geht es ins Wirtshaus (von Lars Rudolph geleitet), danach wird Gretchen verführt. Verse gibt es immer nur, wenn ein Stückchen Goethe zitiert wird. Dafür einen Haufen zusätzlicher Figuren, unter anderem Hanna Schygulla als Lustweib, Georg Friedrich als Wagner, Florian Brückner als Valentin und Andreas Schmidt („Im Sommer vorm Balkon") als Valentins Freund.

Sokurows Bilder sind wie oft bei ihm farblich entsättigt und weichgezeichnet. Die künstlich flachen Räume wirken wie über einen verzerrenden Spiegel aufgenommen. Das ist kein neuer Stoff für Literaturkurse, diese Variante wirkt für Fans eines popmodernen „Goethe!" vorgestrig. Altmodisches Kunstkino könnte man schimpfen, aber Kunst in perfekter Form. Und dann gibt es noch das ungewöhnliche Ende, in dem Faust seinen Mephisto namens Maurice Müller in einer Landschaft aus Lava und Geysiren steinigt, um in eisigen Höhen die Luft der Freiheit zu schmecken. Die Seele ist zwar weg, aber: „Natur und Geist, mehr braucht man nicht, um auf freiem Grund ein freies Volk zu erschaffen." Man darf sich Faust als glücklichen Menschen vorstellen!

11.1.12

Anne liebt Philipp

Norwegen, BRD 2011 (Jørgen + Anne = Sant) Regie: Anne Sewitsky mit Maria Annette Tanderø Berglyd, Otto Garli, Aurora Bach Rodal, Vilde Fredriksen Verlo 86 Min. FSK ab 6

Anne kommt schon als Fünfjährige zu spät und macht sowieso alles anders als andere. Sie ist ein freigeistiger,
lustiger Fratz, mit ihren Sommersprossen keck in die Kamera grinsend und sehr sympathisch gespielt vom erstaunlichen Naturtalent Maria Annette Tanderø Berglyd. Nach fünf Minuten ist die unbeschwerte Kinderzeit für die nun zehnjährige Anne vorbei, als in dem verlassenen Haus, in dem angeblich jemand vergraben wurde, der gleichaltrige Philipp Ruge einzieht. (Weshalb er nicht wie im Original Jorgen heißen darf, ist ein großes Übersetzungs-Rätsel.) Nun bekommt „Romeo und Julia", nun bekommen auch die anderen Bücher, die ihre Freundin Beate immer passend liest, eine andere Bedeutung. Noch stärker zeigt sich Annes Gefühlslage in ihrer eigenen Fantasie, die eine Horrorgeschichte nicht nur sehr spannend sondern auch beängstigend ausmalt.

Mit dem aufwändigen, teilweise rasanten Stil wird auch der Humor ausgestattet, der sehr schräg ausfällt, wenn Anne sich die Köpfe des Schüler-Liebes-Dramas in einer ganzen Reihe von TV-Beiträgen vorstellt. „Anne liebt Philipp" ist ein großartiger Film mit nicht mehr ganz kleinen Kindern und ihrer großen Liebe. Skandinavisch ungezwungen und ehrlich kommt er daher. Das tolle Spiel ist zu loben, die in dem Genre selten sorgfältige Inszenierung und die wichtige Geschichte, wie man seinen eigenen Weg gehen kann, auch wenn es ein anderer ist. Nur die Altersfreigabe ist eindeutig unbedacht, bis 12 sollten Kinder nur in Begleitung der Eltern diesen Film sehen.

William S. Burroughs - A Man Within

William S. Burroughs: A Man Within

USA 2011 (A Man Within) Regie: Yoni Leyser 91 Min. FSK ab 12

Seine gequetschte Stimme ist unverkennbar und einzigartig wie seine Texte: Der Schriftsteller William S. Burroughs (1914 - 1997) war einer der führenden Köpfe der Beat Generation. Neben Werken wie „Naked Lunch" prägte er ganz nebenbei Begriffe wie Heavy Metal, Steely Dan oder Blade Runner, doch vor allem sein „cut-up-stil" beeinflusste die Literatur. Immer äußerst elegant angezogen, in der Statur hager, im Verhalten zurückhaltend, in seiner Literatur absolut schockend. Die scharfen, bissigen Analysen des amerikanischen Lebens suchen auch noch heute ihresgleichen.
Diese Dokumentation über Burroughs handelt allerdings die Beat Generation ab, bevor alle im Saal sitzen. Regisseur Yoni Leyser konzentriert sich auf das Leben eines Schwulen, der in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts seinen sexuellen Weg finden musste, was übrigens mit „J. Edgar", der Clint Eastwoods fiktionaler Biographie vom FBI-Chef Hoover ein interessantes Doppel gibt. Der nur wenig ältere Hoover gestand (sich) seine Sexualität nie ein, während Burroughs öffentlich lebte und liebte.
In dieser Konzentration und vor allem in den Originalaufnahmen der Gespräche mit Burroughs Freund Allen Ginsberg ergibt sich ein tolles Porträt der Person und ihrer Zeiten. „Robocop" Peter Weller, der Burroughs in Cronenbergs Verfilmung „Naked Lunch" spielte, ist Erzähler und wird ebenso interviewt wie John Waters, Patti Smith, Lauri Anderson. Denn der alte Poet wurde in den 80er- und 90er-Jahren noch einmal richtig populär.

10.1.12

Helden des Polarkreises

Finnland, Island, Schweden 2010 (Napapiirin Sankarit) Regie: Dome Karukoski 95 Min. FSK ab 12

Aki Kaurismäki hat aus der klimabedingt typischen Depression der Finnen Filmkunst vom Feinsten gemacht. Sein Bruder Mika macht manchmal auch Annehmbares. Die „Helden des Polarkreises" versuchen derartig trockenen, skurrilen Humor auf ein paar moderne Slacker zu übertragen, wie sie Sarazin sich vorstellt.

In einer tristen Gegend mit hoher Selbstmordrate und Arbeitslosigkeit leidet man gerade besonders, weil die Nationalmannschaft im Eishockey gegen Schweden verloren hat. Doch Janne (Jussi Vatanen) hat schon für einen Schulaufsatz den einsamen Baumel-Baum beschrieben, an dem sich Generationen seiner Familie aufgehangen haben. Nun muss Janne in einer Nacht seine trübe Beziehung retten, indem er der alleinverdienenden Freundin endlich eine Digibox besorgt. Vorher hat er ihr Geld dafür versoffen und die Ladenöffnungszeit verpennt. Es beginnt eine nächtliche Odyssee mit Schneeverwehungen, Alkoholseen und viel dämlichem Verhalten. Mit zwei nicht wesentlich klügeren Freunden und einem aufgemotzten Auto bricht Janne auf zur nächsten größeren Stadt. In einem Spaßbad treffen sie ihre Traumfrauen aber laufen davon. Dauernd fehlt Geld für Benzin und für die Digibox sowieso. Problematisch erweist sich auch, dass die Entscheidung zwischen Tankanzeige oder Subwoofer für den satten Sound ausfiel. Während die drei in der Nacht nicht viel lernen, soll der nur selten irgendwie schräge oder originelle Blödsinn Spaß machen. Klappt aber auch nicht.

Man könnte sagen „Slacker-Komödie", man könnte es auch etwas tiefer und dämlicher hängen und den Einfluss der Aptow-Komödien für die Banalisierung des finnischen Humors oder für die unreifen Figuren verantwortlich machen. Die deutsche Synchro macht das Ganze noch etwas depperter, aber die macht ja selten Gutes. Lieber Kaurismäki kucken.

Verblendung (2011)

USA, Schweden, Großbritannien, BRD 2011 (The Girl with the Dragon Tattoo) Regie: David Fincher mit Daniel Craig, Rooney Mara, Robin Wright, Stellan Skarsgård, Christopher Plummer 158 Min. FSK ab 16

Ihnen gefällt ihr Auto? Gut, dann bauen wir es einfach noch mal, viel teuerer, aber dafür sind alle Beschriftungen in einer anderen Sprache und fast alles stammt aus den großen, tolles US of America! Klingt bescheuert, aber so funktioniert die Filmindustrie, so funktionieren auch die deutschen Kinozuschauer. Die Millennium-Trilogie nach den Romanen von Stieg Larsson wurde - mit gewisser Varianz in den einzelnen Teilen - exzellent verfilmt, war ein großer Erfolg. Auch auf DVD, man kann sich die Filme also jederzeit wieder ansehen. Doch man kann sie auch für hunderte Millionen neu verfilmen. (Irgendwelche Ideen für eine sinnvollere Verwendung des Geldes?) Immerhin sorgt dieser hirnrissige Leerlauf für einen neuen Film von David Fincher - der sicherlich auch originelleres Material gefunden hätte - und Auftritte von Daniel Craig.

Der linke Journalist Mikael Blomkvist (Daniel Craig), der wegen seiner letzten Enthüllungs-Geschichte eine Verleumdungsklage am Hals hatte und auch sonst angeschlagen ist, nimmt den Auftrag eines Industriellen an, die Chronik des Vanger-Clans zu schreiben. Dabei ist diese sehr reiche Familie extrem zerstritten und seit dem Verschwinden von Harriet vor Jahrzehnten traumatisiert. Blomkvist quartiert sich auf der Insel der Familie ein und aus dem Journalisten wird ein Detektiv, der erst mit Hilfe der Cyber-Punkerin Lisbeth Salander (Rooney Mara) einer Serien von Frauenmorden auf die Spur kommt.

Mehr als eine Stunde erzählt „Verblendung 2" zwei getrennte Handlungen mit unterschiedlichen Stimmungen: Hier der Thriller, der gemächlich beginnt und sich immer enger sowie bedrohlicher um Blomkvist zusammenzieht. Dort das auch im Remake faszinierend irritierenden Porträt der jungen Lisbeth Salander, die in Folge von schwer vorstellbaren Verletzungen zu einem aggressiven, gehetzten Tier wurde. Denn als Kreatur stellt der Film Lisbeth mit ihren Tattoos, den Schreiben und der aggressiven Reflexen dar.

„Verblendung" besetzt zwar mit Hollywood-Bekannten und übersetzt den Roman in das Fincher-Universum, belässt die Handlung allerdings in Schweden. Auch hierin ergibt sich also keine eigenständige Adaption wie etwa bei dem grandiosen zweieiigen US/skandinavischen Pärchen „So finster die Nacht" / „Let me in". Fincher sei Dank verlässt sich der Film bei gleicher Story nicht auf die eindrucksvolle Besetzung. Worte wie „Nahrungsersatzstoffe" oder „Industriekäse" brauchen also in diesem Zusammenhang nicht zu fallen.

Obwohl - bei Fincher, dem Regisseur von „Fight Club", „Se7en" und „Zodiac" erwartet man das Dunkle noch etwas dunkler. Wie bei „Zodiac" geht es um einen Serienmörder, die Grausamkeiten von „Millennium" stehen denen von „Se7en" nicht viel nach, biblische Verweise sind sowieso Grundausstattung der meisten Krimis. „Verblendung 2" ist allerdings vor allem stringenter erzählt, Styling und Schnitt sind geschliffener, was vielleicht der Spannung gut tut, aber die Geschichte und ihr Grauen von den realer gefühlten Menschen in den ungefährlicheren Hollywood-Kosmos überführt.

Selbst wenn Rooney Mara als Lisbeth Salander nicht so eindringlich wirkt wie ihr Widerpart Noomi Rapace, ist auch die 2011er „Vergebung" eher eine Salander-Show. Die Szene ihrer Vergewaltigung durch den staatlichen Vormund ist mindestens ebenso brutal, wenn da überhaupt noch Schlimmeres vorstellbar ist. Craig selbst spielt gut, aber bleibt zu körperlich. Der originale Film-Blomkvist Michael Nyqvist war mehr Schreibtisch-Mensch, verletzlicher in den zunehmenden Angriffen. Wenn Craig nach einem Streifschuss unter der Dusche wimmert und Angst vor Lisbeths beherztem Zusammennähen der Wunde (mit Zahnseide!) hat, ist das auch unfreiwillig komisch.

7.1.12

Das verlorene Paradies

BRD 2011 Regie: Jan Rehwinkel, Axel Schumann 40 Min.

Es ist das elementare Problem jedes Textes über Kunst, also auch über Film - im Moment der Beschreibung wird aus dem Einen etwas ganz Anderes. Man kann es "umschreiben", "beschreiben", aber niemals wiedergeben. Im schlimmsten Fall stellt sich das „Widergeben" gegen das ursprüngliche Kunstwerk. Die Regisseure Jan Rehwinkel und Axel Schuhmann („Die versunkene Stadt", 2003) nähern sich diesem Moment zwischen Kunst und Sprache an. Kreative aus verschiedenen Bereichen äußern sich über das Unsagbare. Der herrlich launige Weinhändler Fritz Köhne beschreibt die Mühen, „lecker" in Begriffe zu fassen. Der „Auszug aus dem Paradies" findet statt, wenn Sinnliches durch „die intellektuelle Mühle gedreht" wird. Denn „in eine Form fassen, heißt alles andere ausgrenzen"! Im Off und den Erläuterungen der Literaturwissenschaftlerin Leyla Haferkamp wird der Mythos Frankenstein als Tragödie des Monsters geschildert, die mit dem Eintritt in die Sprache beginnt. Währenddessen schreitet eine - auch mal mit einem „F" markierte - Figur in den mysteriösen Animationen von Jan Rehwinkel vor flackendem Hintergrund quer übers Bild, oder genauer, mitten im Bild, ohne voran zu kommen.

Frankensteins moderne Verwandte sind die Roboter des flämische Wissenschaftlers Luc Steels, den in einem Labor von Sony interessiert, wie Roboter eine Sprache erfinden. Entsteht in ihrem „selbständigen" Handeln vor dem Spiegel sogar ein Selbstbewusstsein? Der Schriftsteller Jürgen Ploog erklärt, man meine nur, dass man sich versteht, während die Bilder von Rehwinkel/Schumann zahllose sinnliche Varianten des Begriffes „Baum" präsentieren. Eine originelle Animation auf Basis von Realfilm zeigt, was sich hinter dem Namen „VW Bulli" alles verbergen kann. Wir sehen, Sprache kann nur scheitern, doch die Versuche der klug ausgewählten Protagonisten sind vom Feinsten, ein intellektueller wie sinnlicher Genuss. Die komplexe Fragestellung bleibt spannend, wird durch die Menschen vor der Kamera griffig und sogar witzig. Der Pianist Lars Vogt nähert sich im konzertanten E-Werk von Heimbach der scheinbaren Naturkonstanten an, dass Tonhöhen eine bestimmte Richtung von Bildern evozieren. Musik sei sehr viel deutlicher als Sprache, Beispiel: Schuberts „Winterreise". Hier versteht man die eigentliche Verzweiflung im Faseln der Musikkritiker, in der blumigen Sprache der „Weinkenner". Fritz Köhne kostet es aus: Rot ist nicht gleich rot. Und: auf der Wiese ist Grün ein ganzer Kosmos, so der Maler René Faber. Sein „reines Sehen" erfassen Worte nicht. So ist auch „Das verlorene Paradies" ein Film, der unbeschreibbar bleibt, der sich ganz nur im ursprünglichen Sehen und Hören entfaltet.

Interview Elmar Fischer zu seinem neuen Kinofilm OFFROAD

Bundesweite Premiere von „Offroad" in Alsdorf

Geilenkirchen lacht sich auf die Straßenkarte des Films

Aachen. Mit „Offroad" feiert am Sonntag die bislang größte in unserer Region realisierte Kinoproduktion ihre Premiere. Der aus Geilenkirchen stammende Regisseur Elmar Fischer („Fremder Freund") drehte in seiner Geburtsstadt und in seiner Heimatstadt Berlin die Komödie für über 3 Mio. Euro mit Nora Tschirner in der Hauptrolle. Wie schon beim Grenzland-Klassiker „Sündige Grenze" von Robert A. Stemmle aus dem Jahre 1951 und wie in dem kürzlich in Aachen und Köln realisierten „Diamantenhochzeit" geht es um Schmuggel - wieder findet sich heiße Ware in mehr
oder weniger heißen Autos. Unser Autor Günter H. Jekubzik fragte den Regisseur Elmar Fischer vor der großen Premieren-Tour, wie man das Filmemacher-Navi einstellen muss, um von Geilenkirchen nach Geilenkirchen zu kommen.


Wie kam es zur Deutschland-Premiere in Alsdorf und wie fühlen Sie sich vor der ersten Vorstellung von „Offroad"?

Ich bin sehr nervös, schließlich ist es die Premiere. In Geilenkirchen gibt es leider kein Kino, sonst hätten wir die Veranstaltung dort hin gelegt. So fiel die Wahl auf Alsdorf, das ein schönes Kino hat. Es werden viele Leute aus Geilenkirchen kommen und ich bin gespannt, wie sie den Film aufnehmen. Es gibt nämlich eine Szene, die mir Bauchschmerzen bereitet. Unsere Protagonistin Meike Pelzer (Nora Tschirner) brüllt das Ortschild an: „Tschüss, du Scheißkaff!". Ich hoffe, dass die Geilenkirchener so viel Humor haben und verstehen, dass es der Filmdramaturgie geschuldet ist. Geilenkirchen ist selbstverständlich kein „Scheißkaff".

Wie kamen Sie zu der Idee für „Offroad"?

Vor einigen Jahren habe ich einen Artikel gelesen, in dem ein Mann etwas Ähnliches erlebt hat: Er hat einen
Jeep beim Zoll ersteigert, darin eine größere Menge Kokain gefunden und dann den Wagen zurückgebracht. Ich hab überlegt, was wäre, wenn er das nicht getan hätte, wenn er sich entschieden hätte, sein Leben aufzugeben. Ich habe den Mann dann für unsere Geschichte in eine ‚angry young woman' verwandelt, die sich auf die Reise begibt und alles hinter sich lässt. Die irgendwo in der Provinz schon die nächsten 40 bis 50 Jahre sieht, die vor ihr liegen, sich dann dagegen entscheidet und ausbricht.

Wie lange haben Sie an dem Stoff gearbeitet?

Immer mal wieder über fünf, sechs Jahre. Das wächst nach und nach. Ich bin selbst auf Schützenfesten gewesen, habe mich mit Schützen in Geilenkirchen während der Drehbucharbeiten unterhalten. Man lässt sich inspirieren von Dingen, die irgendwann im Leben mal aufgetaucht sind. So arbeite ich gerne, weil in der Realität spannendere Dinge stattfinden, als man sich ausdenken könnte.


Heimspiel(-film)

Wie kommt Geilenkirchen in den Film?

Ich hab immer Geilenkirchen im Kopf gehabt, als ich die Geschichte entwickelt habe, wusste aber lange nicht, ob wir die nötigen Drehorte dort finden werden. Und ich war mir nicht sicher, ob es schlau ist, den Ort Geilenkirchen zu nennen. Wenn ich hier in Berlin sage, "ich komme aus Geilenkirchen", denken die Leute, ich hätte mir einen witzigen Namen ausgedacht. So eine Gefahr besteht auch beim Ortsnamen in „Offroad".

Wie waren die Dreharbeiten dort?

Wir hatten ein ganz tolles Umfeld. Bürgermeister Thomas Fiedler, die gesamte Stadtverwaltung haben alles für uns möglich gemacht. Wir waren willkommen und die meisten Geilenkirchener waren stolz drauf, dass wir bei ihnen gedreht haben. Das wäre in einem Ort, zu dem ich nicht solche Beziehungen gehabt hätte, bestimmt nicht so gewesen.

Welche Beziehungen haben Sie noch dorthin?

Ich bin regelmäßig noch in Geilenkirchen, meine Eltern wohnen dort. Ich hab auch noch alte Schulfreunde von Grundschule und Gymnasium, mit denen ich mich regelmäßig treffe. Ich bin gerne immer mal wieder da.


Krimis und Komödie

Mit Fernsehkrimis wie „Bloch" und „Tatort" haben Sie immer gut zu tun gehabt. Wie wichtig ist es für Sie, einen Kinofilm zu machen?

Kino ist immer was Besonderes. Das Schöne an meinem Beruf ist, dass man sich immer wieder ausprobieren und neu erfinden kann. Da sind ein Kinofilm mit einem hoffentlich größeren Publikum und ein harter Wechsel im Genre eine einmalige Gelegenheit. Vor allem, wenn man den Film auch noch selbst geschrieben hat.

Liege ich falsch, wenn ich Sie als Krimi-Regisseur bezeichne?

Ja, finde ich schon. Ich habe jetzt zwei Folgen „Bloch" mit Dieter Pfaff gemacht. Das wird oft als Krimi bezeichnet, ist aber in Wirklichkeit ein Psychodrama. Ich habe mit „Im Dschungel" und „Dornröschen erwacht" Psycho- oder Polit-Thriller inszeniert. „Fremder Freund" war eine Mischung aus Politthriller und Freundschaftsdrama. Krimi greift da zu kurz. Aber ich habe nichts gegen Krimis.
Sie sind eine wunderbare Möglichkeit, im deutschen Fernsehen spannende Themen zu erzählen und damit ein großes Publikum zu erreichen. Mit einem Drama oder mit einem Thriller ist das nicht so einfach, denn bei einem Krimi gibt es ein Stammpublikum. Das freut sich auf das Erzählschema „Mord-Opfer-Täter" und damit kann man spielen, die Menschen an Themen heranbringen, die spannend und ungewöhnlich sind. Hin und wieder drehe ich ganz gerne einen Krimi.


Karriereweg

Erinnern Sie sich noch an einen Artikel aus Ihrer Zeit bei den Aachener Zeitungen?

Kurz nach dem Abitur habe ich bei der Geilenkirchener Volkszeitung zuerst alle Hochämter und Messen an Weihnachten in Geilenkirchen und den umliegenden Dörfern zusammengefasst. Eine wahnsinnige Fleißarbeit. Später kamen Jubiläen, auch mal lokale Reportagen und vieles mehr. Das war eine spannende Zeit, weil man sich im Kleinen ausprobieren konnte. Und viel über die Region, in der man schon 19 Jahre gelebt hat, lernen konnte.

Was haben Sie hier gelernt und wie kommt man von dort zur „Süddeutschen Zeitung"?

Ich wollte Journalist werden, habe in München studiert und fünf, sechs Jahre Fernsehjournalismus gemacht. Da hab ich an dem Medium Fernsehen Gefallen gefunden, aber der Alltag, sozusagen die TV-Berichterstattung, oft in 1.30 Minuten Länge haben mich bald nicht mehr erfüllt. So habe ich mich entschlossen, Regisseur zu werden. Das Problem war, dass man ohne Filmhochschule keinen Nachweis hat, dass man das auch kann. So habe ich erst einmal zwei Jahre Schauspielunterricht genommen. Auch um zu wissen, wie das ist, wenn der Regisseur plötzlich sagt: trauriger, witziger, sensibler, etc. In kleinen Schritten ging es dann vorwärts mit Musikvideos und Industriefilmen bis zu „Fremder Freund", meinem ersten Spielfilm.


Wann gibt es den nächsten TV- und wann den nächsten Kinofilm?

Im April werde ich einen Tatort drehen, dann sehen wir mal weiter. Das ist in diesem Geschäft immer so, dass man von Film zu Film schaut. Für den nächsten Kinofilm setze ich mir jetzt keine Jahreszahl. Das muss gut sein und ich will den auch selber schreiben. Es gibt viele Ideen, auch Exposés, aber da ist noch nichts spruchreif.


Der Film
„Offroad" erzählt die Geschichte einer Suche nach dem Sinn oder Unsinn des Lebens und einer unerwarteten Liebe. Eine Komödie mit schrägen Typen und vielen absurden Momenten, in der Nora Tschirner nach Ohren- und Küken-Millionenerfolgen erneut ihre authentische Spielfreude unter Beweis stellen kann.

Der Regisseur
Elmar Fischer rangiert bei Google noch hinter dem 1936 geborenen Bischof gleichen Namens. Der Regisseur - Jahrgang 1968 - wuchs in Geilenkirchen auf und ging dort auf das Bischöfliche Gymnasium St. Ursula. Mit 19 Jahren schrieb er für die Aachener Nachrichten und die Aachener Volkszeitung, bevor er zur Deutschen Journalistenschule ging. Seit 1992 war er als Produzent, Autor und Regisseur für mehrere deutsche Fernsehsender tätig. Nebenher schrieb er für das Jugendmagazin "jetzt" der Süddeutschen Zeitung. 2003 kam sein erster Langspielfilm „Fremder Freund" in die Kinos und erhielt fünf Preise, unter anderem den den First Steps Award. „Fremder Freund" thematisierte auf offene Weise Ängste und Vorverurteilungen nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Damit war er beim „Euregio Filmball" in Alsdorf für den „Euregio Film Award" nominiert.

4.1.12

New Kids Nitro

Niederlande 2011 (New Kids Nitro) Regie: Steffen Haars, Flip van der Kuil mit Huub Smit, Wesley van Gaalen, Steffen Haars, Flip van der Kuil 78 Min. FSK ab 16

Mit verführerischen Besucherzahlen und extrem zerstörerischem Publikum sind die niederländischen „New Kids" gleichzeitig Freude und Schrecken der Kinos. Die saufenden, dauerfluchenden und debilen Vokuhila-Deppen verbreiten auch im zweiten Kinofilm Zerstörungswut ohne weitere Handlung. Dem fünffacher Rudi Völler-Team tut der Erfolg nicht gut, denn mühevoll auf Spielfilmlänge gestreckt, öden die früheren Gag-Clips schnell an. Wer gar nicht zum Zielpublikum gehört, wird es entsetzlich finden.

Ziemlich beste Freunde

Frankreich 2011 (Intouchables) Regie: Eric Toledano, Olivier Nakache mit François Cluzet, Omar Sy, Anne Le Ny, Audrey Fleurot, Clotilde Mollet 110 Min. FSK ab 6

Der schwarze, junge Arbeitslose Driss (Omar Sy) will sich bei der Vorstellung für einen Pfleger-Job eigentlich nur eine Unterschrift abholen, doch seine respektlose Art beeindruckt den gelähmten Superreichen Philippe (François Cluzet), der ansonsten von übermäßig rücksichtsvollen Personal umgeben ist. Geschickt überzeugt er Driss, doch für ihn zu arbeiten und eine ganze Weile amüsiert man sich an der sorglosen Haltung des eigentlich ungeeigneten Fürsorgers. Er ist eher an den weiblichen Mitarbeitern interessiert und lässt den Querschnittsgelähmten auch schon mal fallen. Nicht erst bei der gemeinsamen Freude am Sportwagen Fahren wird klar, dass hier aus zwei Männern aus unterschiedlichen Milieus, mit völlig verschiedener Bildung und meist anderen Interessen Freunde werden. Der Mann aus dem eindrucksvollen Stadtpalast, der Kunst für unfassbare Summen kauft, kippt in einsamen Nächten sein Herz aus. Driss hält erst mal seine gute Laune dagegen und sorgt recht ruppig dafür, dass Philippe seinen üblichen Trott aufgibt: Mit der Brieffreundin muss er gezwungenermaßen sprechen, statt des Rollstuhl-gerechten Krankenbusses nehmen die beiden fortan den Sportwagen und Philippe genießt es, mal einen Joint zu rauchen.

Driss kümmert sich nicht nur um seinen Auftraggeber und im ernsteren Teil um seine arme Familie, sondern gleich auch um alle Frauen in Philippes Palast, samt Tochter und Haushälterin. Dabei weist der kräftige, sehr gut gebaute Mann mit Messer und Schlagstock im Gepäck auch mal einen Autofahrer, der die Einfahrt versperrt, brutal auf Regeln und Rücksicht hin. Aber keine Sorge, in diesem Film ist alles nett: Die Lähmung, die Pflege, die Gegensätze. Eigentlich eine schöne Utopie, manche werden sagen: Ziemlich verlogen. „Ziemlich beste Freunde" könnte ein ziemlich netter Film sein, hätte es nicht mehr als ein Jahr vorher „Renn, wenn du kannst" von Dietrich Brüggemann gegeben. Dieser ehrlichere Film legte insgesamt die unverkrampfte Haltung an den Tag, mit der Driss hier seinen Arbeitgeber beeindruckt.

Die beiden Regisseure und Autoren Olivier Nakache und Eric Toledano, die schon 2005 mit „Zwei ungleiche Freunde" eine Buddy-Komödie an den Start brachten, legen einen hervorragenden Film mit exzellenten Darstellern hin. Super Szenen gibt es in Serie, ein Musik-Battle mit „Earth, Wind and Fire" vom iPod gegen Vivaldi vom Kammerorchester ist nur ein gelungener Höhepunkt. Perfekte Unterhaltung, gutes Gefühlskino, bei dem man nur nicht an die Straßenschlachten und die Sarkozys sozialen Katastrophengebiete denken darf, in denen Driss stecken würde, wenn ihn nicht dieses Märchen in einen Palast versetzte. Trotzdem waren die französischen Kinokassen begeistert.

Chinese zum Mitnehmen

Argentinien, Spanien 2011 (Un cuento chino) Regie: Sebastián Borensztein mit Ricardo Darín, Ignacio Huang, Muriel Santa Ana 93 Min. FSK ab 12

Zwei völlig unterschiedliche Männer raufen sich zusammen und heraus kommt eine umwerfende Komödie, pointiert ohne viel drumrum. Pedant, Menschenfeind, Griesgram, Einzelgänger... Das beschreibt auf die Schnelle den Eisenwarenhändler Roberto (Ricardo Darín) aus Buenos Aires. Grimmig begrüßt er die Kunden und wirklich böse wird er, wenn bei einer Lieferung mal wieder nicht die angeblichen 300 Schrauben im Paket sind. Selbstverständlich fehlen immer welche. Ansonsten geht bei ihm pünktlich um 23 Uhr das Licht aus und sonntags sitzt er im Campingstuhl am Flughafen. Dort erlebt er eines Tages, wie ein junger Chinese (Ignacio Huang) ruppig aus einem Taxi gestoßen wird. Der hilflose Mann wendet sich an Robert, der sich vorher vorsichtshalber mal abgewendet hatte. Doch wie Robert verstehen auch wir kein Wort. Irgendwie bekommen die beiden heraus, dass eine Adresse auf dem Arm des Fremden namens Jun zu suchen ist, doch dort verkaufte ein anderer Chinese sein Geschäft schon vor Jahren. Als sich Jun im alten Fiat-Nachbau von Roberto übergibt, reicht es mit der Hilfsbereitschaft. Der Eisenwarenhändler schmeißt ihn raus. Um ihn in der folgenden Regennacht wieder einzusammeln und mit nach Hause zu nehmen.

Eigentlich ist Roberto also doch nicht so ein Menschenfeind. Sonst würde sich auch nicht die kluge und sehr herzliche Marí (Muriel Santa Ana) so für ihn interessieren. Wie er allerdings sein Missfallen ausdrückt, wenn der ungeplante Besucher den exakten Tagesablauf durcheinander bringt, ist herrlich. Nur wenn ein besonders nerviger Kunde den mürrischen Verkäufer so richtig zum Explodieren bringt, ist das Minenspiel von Ricardo Darín ein noch größeres Vergnügen. Dann baut Roberto den verhassten Störenfried auch gerne mal in einen seiner makabren und skurillen Tagträume ein, zu denen ihn Vermischte Meldungen aus der Zeitung inspirieren, die er fein säuberlich ausschneidet und sammelt. All diese Zeitungsschnipsel belegen seiner Meinung nach, dass das Leben eine große Absurdität ist. Die größte davon sitzt vielleicht vor ihm. Denn Jun, dessen Onkel immer noch nicht gefunden ist, erweist sich als tragischer Held einer dieser kurzen Geschichten: Gerade als er seiner Verlobten romantisch mitten auf einem See einen Heiratsantrag machen will, fällt eine Kuh vom Himmel und erschlägt die Frau im Kahn. (Vorher sind moderne Viehräuber mit ihrem Flugzeug aufgescheucht worden und verloren ihre Beute beim Flucht-Flug.) Das alles erfahren wir spät durch die freundliche Übersetzung eines Fahrers vom chinesischen Schnellimbiss. Also selbst der Filmtitel ist mal gut übertragen.

Sebastián Borenszteins gelungene Komödie verläuft gezwungenermaßen recht wortkarg, doch vor allem das Spiel von Ricardo Darín, den man schon aus dem argentinischen Erfolgsfilm „In ihren Augen" (El Secreto De Sus Ojos) kennt, trägt viel zum Gelingen bei. Zu seiner grandiosen Mimik gesellt sich auch mal etwas trockener Slapstick, doch im Gegensatz zu den Schrauben-Verpackungen ist hier alles im exakt richtigen Maß.