19.5.10

Cannes - Die Binoche weint

 

 

Cannes. Juliette Binoche, das Poster-Girl der 63. Filmfestspiele von Cannes, spielt die Hauptrolle in dem vertrackten Beziehungsdialog „Copie Conforme", den der iranische Meisterregisseur Abbas Kiarostami extra für den französischen Star schrieb. Alles dreht sich dabei um Kopie und Fälschung, was angesichts eines weiterhin schwachen Wettbewerbs den Verdacht erweckt, ob nicht auch Cannes 2010 nur eine schwache Kopie ist, während die üblichen Macher und Qualitäten irgendwo Urlaub machen. Für diesen empfiehlt sich Südafrika in dem bewegenden deutschen Regard-Beitrag „Life, above all" nicht wirklich.

 

Ein amerikanischer Autor (William Shimell) stellt in der Toskana sein Buch über den Wert von Kopien in der Kunst vor. Eine Französin (Binoche), die hier ihren Kunsthandel betreibt, interessiert dies besonders, sie bittet ihn auf ein Treffen für den nächsten Tag. Das Treffen wird zum Ausflug in ein idyllisches Dorf, die Gespräche über Original und Fälschung verlagern sich zum Thema Beziehung und Ehe. Plötzlich kippt die Situation: Spielen hier zwei Fremde miteinander oder hat dieses Paar tatsächlich genau in diesem Dorf vor 15 Jahren Hochzeit gefeiert und sich in den letzten Jahren auseinander gelebt?

Mit der ihm eigenen Beiläufigkeit von Autofahrten durch eine wunderbare toskanische Landschaft, von entspannten Gesprächen und scheinbar alltäglichen Ereignissen spannt der kluge Iraner Kiarostami einen sehr reizvollen Bilder- und Gefühlsbogen. Juliette Binoche fasziniert mit der mutigen Offenheit ihrer Figur, einen liebevollen Neuanfang anzubieten. Das Repertoire von Emotionen auf ihrem Gesicht erstaunt immer wieder, weshalb etwas verwundert, dass sie auf dem Festivalposter eher unleidlich dreinblickt. Und doch verlor der Ausdrucks-Profi während der Pressekonferenz die Kontrolle. Als eine iranische Journalistin dem Landsmann Kiarostami sehr bewegt Fragen zur künstlerischen Freiheit seines Arbeitens in Bezug auf die Zensur im Iran stellte, rollten Tränen über Binoches Wangen.

 

Sehr bewegen wird sein Publikum in den nächsten Monaten auch die südafrikanisch-deutsche Koproduktion „Life, above all" von Oliver Schmitz. Es ist ein Krankenbericht aus Südafrika. Doch nicht die Wehwehchen von Fußball-Millionären stehen im Fokus, sondern der Überlebenskampf von Menschen mit wirklichen Problemen. Chandas kleine Schwester ist in einem kleinen Dorf gestorben. Da die Mutter verstört und der Vater betrunken ist, kümmert sich das kluge Mädchen um das Begräbnis. Die kleinen Geschwister dürfen nicht wissen, was passiert ist, und es dauert eine Weile, bis man begreift, dass hier alle wie kleine Kinder handeln oder behandelt werden. Bestimmt eine Stunde lang wird die Freundin Chandas ausgegrenzt, muss die Mutter zu Quacksalbern und Wunderheilern, nur das Wort AIDS spricht niemand aus. Selbst aus dem Krankenhaus wird Chanda geschmissen, als sie das Unwort in den Mund nehmen will. Doch dieses erstaunliche Kind beobachtet, versteht und handelt entschlossen, was zu einem Ende des absurden Schweigens führt. Dem 1960 in Kapstadt geborenen und in Deutschland arbeitenden Oliver Schmitz gelingt es, eine unfassbare Situation auch ohne drastische Darstellungen zu vermitteln. Dadurch wird dieser wichtige Film nicht nur ein großes Publikum erreichen, er ist sogar für Jugendliche geeignet. Konventionell inszeniert, aber sehr stilsicher, erfreut man sich 2010 an solchen Funden, während man im Wettbewerb – beispielsweise bei der anderen deutschen Koproduktion „Schastye Moe" vom Dokumentaristen Sergei Loznitsa – immer weniger versteht.