4.4.10

Zeit des Zorns


BRD, Iran 2010 (Shekarchi / The Hunter) Regie: Rafi Pitts mit Rafi Pitts, Mitra Hajjar, Ali Nicksaulat, Hassan Ghalenoi, Manoochehr Rahimi 100 Min.

Ali Alavi (Rafi Pitts) bittet in der Fabrik, in der er als Wachmann arbeitet, um eine Tagesschicht. Aber er hat „eine Vorgeschichte“, da solle er froh sein, überhaupt Arbeit zu finden, auch wenn er so seine Frau und seine sechsjährige Tochter kaum sehen kann. Die Vorgeschichte ist eine politische Verurteilung. Ali Alavi sagt nichts weiter, arbeitet, fährt auf den überfüllten Straßen,  Teherans, durch den immer gleichen Tunnel in die Natur, jagt in den Wäldern, um wieder zu arbeiten und zu schweigen. Bis nach einer der Demonstrationen gegen die Regierung seine Frau und Tochter nicht mehr nach Hause kommen. Man lässt ihn bei der Polizei lange warten, verhört ihn zuerst streng, bevor er erfährt, seine Frau sei als „Rebellin“ erschossen worden. Der gleichzeitige Tod seiner Tochter wird erst Tage später zugegeben, obwohl Ali Alavi schon die Blutflecken am Ort der Tat gefunden hatte.

Es ist die Zeit der Wahlen im Iran. Im Radio hört man die politischen Parolen, vor dem Fenster die Demonstrationen. Weiterhin still und verschlossen bringt Ali Alavi die Katze zur Schwiegermutter, ohne von den Todesfällen zu erzählen. Dann platziert er sich auf einem Hügel hoch über der Stadtautobahn und erschießt zwei Polizisten in einem Polizeiwagen. Nun nicht der Film auf erstaunliche Weise an Fahrt auf. Die Hubschrauber, die man schon vorher sah, scheinen Alis Wagen zu verfolgen. In einer amerikanisch rasanten Verfolgungsjagd im Nebel verunglückt Ali und flieht humpelnd in den Wald. Dort, in seinem eigenen Jagdgebiet ist er nun der Gejagte. Zwei Polizisten stellen ihn, sind aber nicht in der Lage den Weg zurück zu finden. Da die beiden Beamten wegen ihrer unterschiedlichen Haltung zu Militär und Polizei zerstritten sind, ergibt sich eine gespannte Notgemeinschaft...

Iranische Filmemacher äußern sich überraschend deutlich im aktuellen politischen Emanzipationsprozess des Landes. In Hana Makhmalbafs „Green Days“ (2009) oder „No one knows about Persian cats“ von Bahman Ghobadi („Zeit der trunkenen Pferde“, „Turtle can fly“) endet der Wunsch nach mehr Freiheit immer tragisch. So verwunderte es kaum, dass Jafar Panahi („Der Kreis“, „Offside“) im Februar nicht zur Berlinale ausreisen durfte. Die langsame Chronik eines Amoklaufs als Aufschrei gegen die Unterdrückung des Individuums durch Staat und Institutionen zu sehen, bietet sich als einfache Interpretation für „Zeit des Zorns“ an. Doch der Film von Rafi Pitts („Zemestan – It‘s Winter“, „Sanam“) ist ein sehr komplexes Meisterwerk, das gekonnt viele Bedeutungsebenen und Filmstile verbindet.

„Zeit des Zorns“ könnte als Thriller Bestand haben, ist ästhetisch ein faszinierender Arthaus-Film und hochgradig sowie sehr aktuell politisch. Rafi Pitts vermittelt die tiefe Verletzung, die Ali durch den brutalen Polizeieinsatz erlitten hat, vor allem auch als (ungeplanter Ersatz-) Hauptdarsteller in einem unglaublich erduldenden Schweigen. Zu dieser Haltung passen die ruhigen Bilder des Films. Der Autotunnel, der nach der Durchfahrt von Alis Ami-Schlitten auch leer noch lange im Bild bleibt. Die Musik von Thom Yorke bis zu Arvo Pärt vermittelt Internationalität ebenso wie die Stadtautobahnen, die so auch LA durchziehen.