14.2.10

Scorseses Filmrätsel Shutter Island


Die 60. Berlinale wird scheinbar ein Festival der Herzen, den irgendwas muss die Eisdecke über Berlin ja wegschmelzen. Am Samstag stieg die Temperatur in gefühlte Frühlingsdimensionen - auf jeden Fall im Umfeld der dahin schmelzenden Damen beim Auftritt von Leo DiCaprio.

Berlin. Sie sind das Traumpaar jedes Filmfestivals: Leo DiCaprio für die Fans und Martin Scorsese für den Anspruch. Zehn Jahre nach „The Beach“ war der Leo wieder bei den Bären in Berlin und der Kreisch-Faktor extrem hoch. „Shutter Island“ ist nach „Gangs of New York“, „The Aviator“ und „The Departed“ bereits der vierte gemeinsame Film von DiCaprio und Scorsese. Der Thriller nach dem Roman von Dennis Lehane liefert eine Achterbahn-Fahrt mit Gänsehaut-Qualitäten und selbst für Leser des Romans am Ende eine Überraschung. Denn ausgerechnet die letzten Zeilen des Dialogs (im Drehbuch), die ihn besonders berührten, stammen nicht aus dem Roman, erzählte der italo-amerikanische Regisseur bei der Pressekonferenz.

„Shutter“ ist im Englischen der Verschluss der Kamera. Und nach Meinung der Ärzte (Ben Kingsley und Max von Sydow) hat der US-Marshall Teddy Daniels (DiCaprio) nach einem traumatischen Ereignis die Realität ausgeschlossen und sich einen eigenen Traum-Film gedreht. 1954 soll er mit seinem neuen Kollegen Chuck Aule (Mark Ruffalo) auf der hermetisch gesicherten Gefängnis-Insel Shutter Island eine vermisste Frau finden. Sie war ein Häftling, beziehungsweise eine Patientin, wie es die Ärzte betonen. Während ein Sturm für Chaos sorgt, verfolgt Teddy seinen eigenen Fall: Hier ist auch der Mann inhaftiert, der seine Frau umbrachte. Und in einem speziellen Sicherheitstrakt werden angeblich im Auftrag der Regierung Experimente an den Hirnen der Inhaftierten durchgeführt. Eine Fortsetzung des Grauens, den Teddy als amerikanischer Soldat bei der Befreiung des Konzentrationslagers von Dachau erlebte.

Macht der alte Meister Scorsese plötzlich auf Politik, lässt US-Forscher genau so schlimm wie Nazi-Ärzte wüten und kümmert sich um die Traumata der US-Soldaten in alten und neuen Kriegen - ja, spinnt denn der? Oder nur die Hauptfigur des Films, Teddy Daniels? Die Auflösung überrascht, die Ausführung packt von den ersten, extrem schicksals-dräuenden Szenen an. Doch auch in der Fragestunde der Berlinale gab es keine Auflösung: Der Meister und sein Star beweihräuchern sich erst einmal und Leo sprach zwei Sätze Deutsch, bevor es zu Fragen des Films kam. Scorsese, das wandelnde Filmlexikon mit den kleinen, wachen Augen hinter der dicken Brille, referierte zu Klassikern wie „Out of the Past“ und „Catpeople“ oder auch zum Deutschen Expressionismus, die atmosphärisch als Vorbild dienten. Aber entscheiden, wer jetzt spinnt, muss man letztendlich selber.

Die Verbindung zwischen Wunde und (der griechischen Übersetzung) Trauma bekam auch der Däne Thomas Vinterberg in seinem eindrucksvollen Wettbewerbsfilm „Submarino“ sehr packend ins Bild: Nach einem schrecklichen Unfall in ihrer Kindheit, werden zwei Brüder mit ungesehener Härte immer wieder vom Schicksal getroffen. Der eine geht an der Nadel zugrunde, der andere säuft und schlägt sich fast tot. Trotzdem lässt der ehemalige Dogma-Filmer Vinterberg in seinen grauen Bildern die Hoffnung leben. Eine wie beiläufig wirkende Handkamera täuscht über die raffinierte Montage hinweg. Die parallel ablaufenden, aber hintereinander gezeigten Lebenswege der Brüder machen Momente verpasster Verständigung bitter klar.

Nach Roman Polanski ist der berühmte, aber anonyme Street Art-Künstler Bansky der zweite große Abwesende im bislang sehr aufregenden Wettbewerb. „Exit Through The Gift Shop“, seine (inszenierte) Dokumentation über den (echten?) Dokumentaristen der Street-Art-Szene, den lächerlichen Franzosen Thierry, ist ein witziges, von den Ideen der „Straßen-Künstler“ nur so sprudelndes Stück Film. Wenn in der zweiten Hälfte am Beispiel Thierrys die Manipulierbarkeit der Kunstszene und der Öffentlichkeit vorgeführt wird, bleibt nur noch dieses Statement des anonymen Briten Bansky.

Völlig enttäuschend dagegen zwei deutsche Beiträge bei den Berlinale Specials, die bereits Resterampe genannt werden:
„Die Friseuse“ (Kinostart am Donnerstag) von Doris Dörrie ist ein dünnes Kommödchen über ein sehr dicke Friseuse mit unschlagbarem Optimismus. Dass die Nacktszenen des üppigen Körpers Amerikanerinnen aus dem Kino trieben, ist das Bemerkenswerteste an dem Film auf Fernsehniveau. Einen guten Mehrteiler gibt bestimmt auch Jo Baiers „Henry 4“ nach den Romanen von Heinrich Mann ab. Die passenden Fernsehgesichter hat der historische Europudding auf jeden Fall. Die bemüht brave Inszenierung horrender Ereignisse um die Bartholomäus-Nacht gehört nicht auf ein internationales Festival. Da werden „Die Räuber“ heute im Wettbewerb hoffentlich eine bessere Visitenkarte des deutschen Films abliefern.