27.5.09

Tracey Fragments DVD


Regie: Bruce McDonald

Koch-Media

Video-Premiere

Zu modern fürs Kino oder zu stark? „Tracey Fragments“ von Bruce McDonald („ReGenesis“, „Highway 61”) wurde 2007 bei der Berlinale gefeiert, kam aber nie in die Kinoauswertung. Das gab es schon mal bei „Donnie Darko“. Und ebenso stark ist nun die Geschichte von Tracey (Ellen Page aus „Juno“), die sich, von den Eltern vernachlässigt, in Tagträumen verliert, bis ihr kleiner Bruder meint, er sei ein Hund und verschwindet. Die Suche wird zum Albtraum im Abgrund der Stadt. Wobei sich der bissige Humor und die scharfen Analysen nicht nur am transsexuellen Therapeuten auslassen.

Bruce McDonald spielt nicht nur „Horses“ von Patti Smith in einem besonders starken Moment ein, sondern schneidet einfach ein Pferd genau an die Stelle der rennenden Tracey. Konsequenter Splitscreen, die Aufteilung des Bilder in viele Teile, Comic-Einblengungen, Wiederholungen, Doppelungen scheuen sich nicht, alle möglichen Mittel einzusetzen. Da wo sich der Mainstream nicht hintraut, punktet „Tracey“ voll mit einem Stil, der auch der Wildheit der Hauptfigur entspricht.

Michael Haneke Trilogie auf DVD


Österreich/Deutschland/Schweiz 1989-1994

Zwanzig Jahre hat es gedauert, von den ersten Erfolgen bis zur Goldenen Palme 2009. Im gut sortierten Angebot aller Spielfilme des Österreichers Michael Haneke sind vor allem die drei ersten Spielfilme neu zu entdecken, in denen die "emotionale Vergletscherung" der Alpenrepublik mit erschütternder Nüchternheit analysiert wird. "Der siebente Kontinent" zeichnet mit fast unerträglicher Nüchternheit den Abschied einer Familie aus dem Leben auf. "Bennys Video" behandelt immer noch hochaktuell die Verrohung des 13-jährigen Benny durch die Medien, die ihn umgeben. "71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls" protokolliert einen Amoklauf.
Als zusätzliche DVD-Features zum lohnenden Packet gibt es Interviews und entfallene Szenen.

Das Herz von Jenin


BRD 2008 (Das Herz von Jenin) Regie: Marcus Vetter, Leon Geller, 89 Min. FSK: ab 12, Hebräisch, Arabisch mit deutschen Untertiteln

Über das Zusammenleben, oder das Nicht-Zusammenleben von Israelis und Palästinensern in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten gibt es einige Dokumentation und auch Spielfilme - mit oft dokumentarischem Touch. Oft geht es darum, Staunen und Wut über das Unrecht einzufangen: Amos Gitai fuhr eine zu Tränen gerührte Rachel Portman ins Grenzgebiet. Catherine Deneuve riskierte einen Blick vom Libanon her auf von israelischen Bomben terrorisierte Gegenden. In „Waltz with Bashir“ und „Z32“ von Avi Mograbi arbeiten sich israelische Ex-Soldaten an ihren Morden ab, die sie wie im Albtraum verfolgen. Einige poetische Ansätze finden einen Weg aus den Schuldzuweisungen, wie zuletzt bei Elia Suleiman und seinem leisen Werk über Jahrzehnte israelischer Besatzung „Die Zeit, die bleibt“ im Wettbewerb von Cannes. Doch Hoffnung wächst so gut wie nirgends.

Auch die Dokumentation „Das Herz von Jenin“ beginnt mit einem Toten und viel Wut: „Jeder Tote wird mit 100 gerächt“, skandiert im November 2005 die Trauergemeinschaft des zwölfjährigen Jungen Ahmed, der von israelischen Soldaten erschossen wurde. Doch dann ereignet sich etwas, das man im Spielfilm als völlig unglaubwürdig, als utopisch bezeichnen würde: Ismael, der Vater des toten Ahmed, entschließt sich, dessen Organe zum Spenden freizugeben. Sechs israelische Kinder erhalten so Herz, Nieren, Lungen und Leber des Jungen.

Die Tat, die weltweit durch die Medien ging, wurde umso symbolischer dadurch, dass der erschossene Junge aus Jenin stammt, einem Zentrum der Intifada, des gewaltsamen Widerstandes gegen die Besetzung der Gebiete. Die Entstehungsgeschichte der Dokumentation „Das Herz von Jenin“ ist ebenso ungewöhnlich, wie das Ereignis. Mit einigen Aufnahmen von Trauerfeier und von glücklichen Empfängern der Organe kam Leon Geller zum "Talent Campus" der "Berlinale". Dort fand er Produzenten, sowie einen Ko-Regisseur, mit dem den im August 2007 neue Aufnahmen begannen. Sie begleiten Ahmeds Vater auf einer Reise zu drei der sechs Kinder, die durch die Organspenden gerettet wurden.

Hierbei findet der Film sein Herz. Er zeigt viele atmosphärische Bilder vom Leben in den Dörfern und tatsächlich auch ein Dorf , in dem verschiedene Bevölkerungsgruppen friedlich einträchtig zusammen leben. Selbstverständlich gibt es zwischen den rührenden Momenten auch die der ernüchternden Realitäten, angefangen bei den Schwierigkeiten - man könnte auch sagen: Schikanen - der Grenzkontrollen. Da äußern sich Vertreter der politischen und militanten Gruppen zu dieser interreligiösen Organspende. Da wird die Situation fast wieder absurd, wenn man einen geistigen Führer bei einer lebensrettenden Organspende um Erlaubnis bitten muss. Doch im wundersamen Geiste des Films, äußern die tatsächlich mal Sätze wie: „Du spendest nicht an Juden, sondern an Menschen.“

26.5.09

Der Womanizer - Die Nacht der Ex-Freundinnen


USA 2009 (The Ghosts of Girlfriends Past) Regie: Mark S. Waters mit Matthew McConaughey, Jennifer Garner, Michael Douglas 100 Min.

Serielle Herzensbrecher kennt das Kino zu genüge. Mel Gibson wusste etwa 2000 noch „Was Frauen wollen“, brauchte allerdings auch etwas Nachhilfe, um sich vom Frauen-Verführer zum Frauen-Versteher zu wandeln. Doch dieser oberflächliche und herzlose Typ treibt es auf die Spitze: Starfotograf Connor Mead (Matthew McConaughey) trennt sich in einer iChat-Konferenz am Computer-Schirm gleich von drei Frauen gleichzeitig und bandelt - für alle hörbar - mit der nächsten an. Nicht nur bei seinen Anweisungen für die schnell ziemlich nackten Modells kommt Mead direkt zur Sache, auch beim privaten Umgang mit Frauen zeitigt er Akkordtempo. Dass sein Name Mead im Englischen ganz eindeutig nach meat - Fleisch - klingt, ist da ebenso wenig subtil wie seine Verführung.

Nun geht der Serientäter aber trotzdem zur Hochzeit seines kleinen Bruders Paul (Breckin Meyer), vor allem um diesen zu warnen und ihm die Schlüssel für ein schnelles Fluchtfahrzeug zuzustecken. Was der schnell volltrunkene Mead eher unabsichtlich veranstaltet, bringt die Feierlichkeiten endgültig zum Erliegen: Die Mutter der Braut anbaggern, die Hochzeitstorte vernichten und mehr als ein schlüpfriges Geheimnis verraten. Am Abend vor der Hochzeit verweigert er einen Toast, aber da man ihn drängt, legt er eine sehr geistreiche, zynische Rede gegen die überkommende Institution der Ehe hin. Die alte Freundin und einzige große Liebe Jenny (Jennifer Garner) betrachtet den hoffnungslosen Lebemann nur noch mitleidig. Zwischendurch wird Mead allerdings von den Geistern ehemaliger, gegenwärtiger und zukünftiger Freundinnen heimgesucht. Da auch sein großes Vorbild der legendäre Playboy Onkel Wayne (großartig: Michael Douglas) ihm als Geist ins Gewissen redet, ist eine moralische Kehrtwende nicht zu vermeiden.

Der Geist vergangener Filmkonzepte sucht dieses nette Filmchen heftig heim. Dass aus Charles Dickens' Erzählung "Eine Weihnachtsgeschichte" im Recycling „Eine Hochzeitsgeschichte“ wird, zeugt vom weitflächigen Suchen nach alten Ideen. Auch wenn die Dickens-Geschichte jährlich als Film neu aufgelegt wird - schön bissig etwa in der Anti-Weihnachts-Parodie „Scrooged“ - ist es mal eine echt alte Idee. Obwohl Liebe, Sex und die Falsche Wahl ja auch nicht gerade eine Erfindung der letzten Saison sind. Frisch dazugemixt werden etwas Slapstick, neben schön polierten Bildern auch ein kurzer Moment des Schreckens am Ende jeder Heimsuchung und schrecklich viel Romantik.

Die Mechanik des Film ist dabei ein billiger Taschenspieler-Trick, der ebenfalls nicht aus der Mode gerät: Wann immer ein Hollywood-Film von irgendwas überzeugen soll, wird zuerst ein erbitterter Gegner dieser Position aufgebaut und dann mehr oder weniger zielsicher demontiert. So wird die Ehe verteidigt - Monogamie eingeschlossen, der Weihnachtskitsch jährlich aufpoliert und aus dem Hundhasser wird ein Tierfreund. Egal wie man zu den jeweiligen Positionen steht, ärgerlich ist meistens, dass man für dumm verkauft wird. Connor Mead ist leider nicht wirklich ein Ekel - selbst am Anfang des Films macht er Sympathie-Punkte. Dafür ist die Hochzeit wirklich unerträglich. Ernsthaftes Abwägen der unterschiedlichen Lebenshaltungen gibt es also nie. Wenn man Glück hat, gibt es wie beim „Womanizer“ dafür anständige Schauspieler, solide Inszenierung und ein paar rührende Szenen vom Wiederfinden der wahren Liebe.

22.5.09

Filmkunst auf höchstem Niveau - Cannes vor der Preisverleihung


 

Cannes. „Hier Antworten zu geben, wäre kontraproduktiv. Ich habe sehr viel Aufwand betrieben, um Fragen zu stellen." Michael Haneke äußerte bei der Pressekonferenz, die er locker dreisprachig führte, quasi den Leitsatz des Festivals. Fragen stellen, zum Denken anregen und offene Diskussionen starten, das leisteten die Filme im Wettbewerb der 62. Filmfestspiele von Cannes (13.-24. Mai 2009) mehr als zuvor. Eine Antwort wird allerdings morgen Abend gegeben. Nach einem beeindruckenden Schlussspurt der Teilnehmer Michael Haneke, Elia Suleiman und Isabel Coixet vergibt die internationale Jury um den französischen Star Isabell Huppert die Goldene Palme.

 

Während in den verschiedenen, heiß gehandelten statistischen Auswertungen, die am Ende nichts bedeuten werden, das Gefängnisdrama „Un Prophète" von Jacques Audiard und auch Pedro Almodovars „Los Abrazos Rotos" vorne liegen, fehlte bislang das sensationelle Wohlfühlereignis, dass alle begeistert und sich nachher noch ganz toll im Kino verkauft. Ebenso wird die eierlegende Wollmilchsau keinen Darstellerpreis bekommen. Das Niveau bei durchgehend exzellenten Arbeiten, bei diesem Treffen von vier Palmen-Siegern, vielen Wettbewerbs-Dauergästen und ein paar neuen Teilnehmern, ist so hoch, dass manche auch schon mal den Maßstab verlieren: Werke, die einem im vom US-Mainstream bestimmten Jahresverlauf begeistern würden, laufen hier gleich mehrfach am Tag.

 

Absurde Erbsenzählerei, ob sich etwa eine Krise im geringeren Tiefgang von Luxusjachten entdecken lässt, beiseite gelassen, werden die Filme bleiben. Filme, die eine Herausforderung darstellten. Selten wurde so intensiv diskutiert wie nach Lars von Triers „Antichrist" oder Michael Hanekes „Das weiße Band", der eine moralisch überspannte und in Folge mörderische Jugend im protestantischen Norddeutschland vor Ausbruch des 2. Weltkriegs seziert. Offene Geschichten, die eher Fragen stellen als Antworten geben, liegen im Trend des Autorenkinos. Auf eine der unfassbar naiven und doch immer wieder gestellten Fragen „Was wollten Sie damit sagen?" konnte Lars von Trier nur staunend schweigen.

 

Dass „Antichrist" von der Frauen- und Lustfeindlichkeit des Katholizismus und „Das weiße Band" von einer pervertierten Moral des Protestantismus bestimmt ist, könnte man zu einer Tendenz hochschreiben. Dazu passt denn auch der Vampir/Priester im koreanischen „Thirst". Aber da uns Religionen überall umgeben, ist ihr Auftauchen als Thema unvermeidlich. Nur „Agora" von Alejandro Amenabar stellte im Drama um die frühe ägyptische Wissenschaftlerin Hepatia Aufklärung, freien Willen und gesunden Menschenverstand als Alternative daneben. Ansonsten waren wenig direkte Aussagen, Thesen oder Appelle zu entdecken. Selbst der Geheimtipp „Die Zeit, die bleibt" vom palästinensischen Filmkünstler Elia Suleiman, fasste Jahrzehnte der Besatzung durch Israel fast versöhnlich und poetisch persönlich zusammen.

 

Der Alt-Hippie des fantastischen Erzählens Terry Gilliam („Brazil", „König der Fischer") erinnert fast am Ende des Festivals noch einmal an die Macht einer guten Geschichte, mit der auch der Eröffnungsfilm „Up" brillierte. Und Gilliams Erzählen ist so stark, dass er Tote wieder zum Leben erweckt: Star der Geschichte zwischen Gut und Böse ist der verstorbene Heath Ledger (neben einem teuflisch guten Tom Waits als Mephisto). Für die fehlenden Szenen in atemberaubenden Traumwelten, die nach Ledgers Tod fehlten, springen Johnny Depp, Jude Law, und Colin Farrell ein. Damit hätten wir dann auch wenigstens einen „totsicheren" Kandidaten für den Darstellerpreis: Heath Ledger ehren und Johnny Depp auf der Bühne haben - das wäre selbst für Cannes noch ein Knaller.

 



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Herzliche Grüße,
Günter H. Jekubzik
guenter@jekubzik.de
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20.5.09

Tarantinos "Inglourious Basterds" - Kinotricks ohne Moral


Cannes. „Once upon a time…" So fangen Märchen an und Filme von Sergio Leone. „Es war ein mal im Wilden Westen" hieße „Spiel mir das Lied vom Tod" wortwörtlich übersetzt. Mit „Once upon a time" beginnt Quentin Tarantinos neuster Film „Inglourious Basterds". Ein Western, in dem die Amerikaner die Indianer und die Nazis die bösen Cowboys sind. Ein Märchen vom 2. Weltkrieg, das gut ausgeht, aber trotzdem keine Moral hat. Ein Fest für Tarantino-Fans, die schon beim Vorspann applaudierten und ein Aufreger für alle, die wissen, es gibt Geschichte auch außerhalb der Filmgeschichte. Neben Christoph Waltz als genialen Nazi-Offizier und Till Schweiger als psychotischen Nazi-Killer sind viele andere deutsche Schauspieler gut im Bild. Dass viel deutsches Geld in diesem Film steckt, wird auch für Diskussionen sorgen.

 

Und wie im Western eröffnet sich die Landschaft weit für einen Bauernhof, der überraschenderweise in Frankreich liegt. Der grimmige Kuhbauer (engl: Cowboy) widersteht dem raffinierten und ebenso endlosen wie spannenden Gesprächs-Duell mit dem Juden-Jäger genannten Nazi-Offizier Hans Landa (Christoph Waltz) nur eine Weile, dann gibt er das Versteck seiner Flüchtlinge preis, die sofort erschossen werden. Nur Shosanna Dreyfus (Melanie Laurent) kann der Ermordung ihrer Familie entkommen. Jahre später leitet sie unter neuem Namen ein Kino in Paris, in dem ausgerechnet die Heldengeschichte des deutschen Soldaten Frederick Zoller (Daniel Brühl) soll in ihrem Kino unter Anwesenheit von Hitler, Göbbels und dem Mörder ihrer Eltern uraufgeführt werden. Die Zeit der Rache ist gekommen! Das denkt auch die berüchtigte Truppe von des amerikanischen Leutnants Aldo Raine (Brad Pitt), der hinter der Front unter den deutschen Soldaten für Schrecken sorgt, indem er sie reihenweise skalpiert. Aldo Raine plant ein Bombenattentat auf die Vorführung.

 

Film-Nerd

Quentin Tarantino, der in Cannes seine Weltkarriere mit einer Goldenen Palme für „Pulp Fiction" begann, erweist sich wieder als Virtuose seiner sehr begrenzten Mittel. Denn auch ein unendliches Filmwissen ist nur ein recht beschränkter Wissensvorrat für einen Künstler. Diese Beschränktheit zeigte sich schon im letzten Jahr während einer Fragestunde vor 1500 Menschen: Tarantino ist ein  großer „Nerd", ein Fachidiot in Sachen Filmbegeisterung, der meist als einziger über seine humorfreien Witze lacht. Und bei allen so unterschiedlichen Künstlern, die sich hier tummeln, passt ihm der Smoking am wenigsten. So ist es auch mit seinem Ruhm - er ist der am meisten überschätze Regisseur unserer Zeit. Ein großer Junge, der mit den Bildern der anderen spielt, der das auch sehr gut, ja manchmal virtuos kann, weil er nie viel anders gemacht hat. Aber ihm fehlt etwas Entscheidendes im Vergleich zu anderen, richtigen Film-Autoren: Er hat nicht die große Menschlichkeit eines Almodovars. Er hat nicht das soziale Engagement eines Ken Loach. Er hat nicht diesen kreativen Geist eines Lars von Triers, der immer neue Visionen hervorbringt. Tarantino zitiert und spielt, weil er es kann, nicht weil er es muss, oder etwas sagen will.

 

 

Tatort-Kommissar Christoph Waltz spielt den Nazi-Offizier Hans Landa großartig verschlagen und spleenig. Er hat tatsächlich eine größere Show als Brat Pitt. Er ist der genial-wahnsinnige Gegenspieler, der letztendlich verliert, aber Waltz selbst wird mit dieser Rolle die Chance zu einer Weltkarriere gewinnen.

 

Tarantino schleimt sich bei  „Inglourious Basterds" mit Sätzen wie „Die Franzosen wissen Regisseure zu schätzen" beim Festival ein, er liefert mit dem Finale im Kino eigentlich auch einen perfekten Festivalfilm. Wieder spielt er mit der „Mexican situation" einer ausgeglichenen und ausweglosen, waffenstarrenden Duellsituation. Wieder inszeniert er gekonnt lange Dialog-Duelle. Doch diese billigen Tricks beiseite gelassen, ist „Inglourious Basterds" ein sehr simpler Rachefilm, der zum Glück nicht so blutig ausfiel wie Tarantinos letzte Amokfahrt "Deathproof". Es fehlt ihm nicht nur das Wissen, dass man seit vielen Jahren Hitler nicht mehr als schlecht gespielte Witzfigur darstellen muss. Es gehen ihm völlig die Skrupel ab, Hunderte von Menschen niederzumetzeln – auch wenn sie alle zum Volk der „Nazis" gehören und auch wenn „die Nazis" sich gerade auf der Leinwand ansehen, wie ein deutscher Soldat hunderte andere Soldaten erschießt. Die moralischen Bedenken beim Töten, die das jüdische Widerstandsdrama „Defiance" und selbst die Olympia-Racheaktion „München" vom Juden Spielberg thematisieren, kennt Tarantino nicht. So sind Zweifel angebracht, ob Tarantino vor diesem Projekt überhaupt wusste, was hinter der Dreyfus-Affäre steckt, nach der er seine Titelheldin benennt: So ungefähr das Gegenteil seines Films, eine öffentliche Debatte Ende des 19. Jahrhunderts mit den Mittel der Medien und der Literatur, die in Frankreich dazu führte, einen Justizskandal gegen den jüdischen Offizier Dreyfus zu korrigieren. Und nicht das Aufteilen der Welt in Gut und Böse mit dem gnadenlosen Auslöschen der Letzteren.

 

 

PS: Weitgehend unbeachtet lief in den Certain Regard mit „L'armée du crime" von Robert Guédiguian („Marius et Jeannette"), dem Franzosen mit dem großen Herz für die kleinen Leute, der bessere Film zum Thema: Er zeigt eine Gruppe von französischen Widerstandskämpfern, die sich aus Immigranten zusammensetzt.

19.5.09

Schatten einer Leidenschaft in Cannes - der neue Almodovar

 

Cannes. Die Leidenschaften in Pedro Almodovars neuem Film „Los Abrazos Rotos" bleiben gemäßigt, doch die Begeisterung für ihn und seinen Star Penelope Cruz belebte gestern den Roten Teppich und sorgte für freundlichen Applaus in der Pressevorführungen. Almodovar war 1999 mit "Alles über meine Mutter" haushoher Favorit in Cannes. Doch dann gewann „Rosetta" von den Dardennes die Goldene Palme.

 

"Die gelösten Umarmungen" könnte man den Titel übersetzen, und Almodovar doppelt dieses Motiv gleich zweifach in einer Szene: In Rossellinis „Viaggio in Italia" - der im Fernsehen läuft - erschaudert Ingrid Bergman angesichts der versteinerten Umarmung eines Paares in Pompei. Vor dem Fernseher umarmt sich ein Paar heftig und fotografiert daraufhin die eigene Positur für die Ewigkeit. Die allerdings nur ein paar Wochen dauert, dann zerreißt jemand das Foto…

 

Die Geschichte des erblindeten Regisseurs Harry Caine, der sich früher Mateo Blanco nannte, erzählt  „Los Abrazos Rotos" in Rückblenden und Film-in-Film-Szenen. Es ist auch die Geschichte seiner Liebe zu Lena (Penelope Cruz), die mit dem reichen Industriellen Ernesto Martel zusammenlebt, der einst die Operation ihres Vaters finanzierte. Doch als Lena für eine Rolle bei Mateo vorspricht, bricht die Liebe zwischen beiden aus. Mit dramatischen Folgen für Lena und für den Film, den beide drehen.

 

Der sieht genau so aus, wie Almodovars erster Erfolg „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs", der dramatische Treppensturz ist Hitchcock pur und eigentlich ist alles Film. Almodovar meint, dass viele seiner Filme in der Filmszene spielen, weil dieser Teil des Lebens das ganze Leben widerspiegelt. So geht es um Doppelungen, es geht um Film-im-Film, es geht um die große Kunst und um das ganz große Gefühl, das allerdings nicht überspringt im Kino. Das Rätsel um Mateos Leben und Liebe wird angenehm unterhaltsam entschlüsselt, aber die ganz großen Szenen bei all der Film- und Zitierkunst sind überschaubar: Der doppelte Abschied Lenas von Martel, einmal auf der Leinwand und dazu noch live eingesprochen. Und dann der stärkste Moment, die Hände des blinden Regisseurs, der die Aufnahme eines letzten Kusses auf dem Bildschirm zu berühren sucht. So hoffnungslos war die Sehnsucht selten in einem Bild.

 

Die Pressehefte von Almodovar sind immer besonders wertvolle Stücke in Filmläden und im Devotionalienhandel, weil der spanische Autor und Regisseur sie selbst schreibt. Diesmal erklärt er derart genau, was der Titel bedeutet, wie die Bilder des Vorspanns zustande kamen. Das ist nicht nur ein kultureller Unterschied zwischen dem extrem zurückgezogenen Dänen von Trier und dem extrovertierten schwulen Spanier Almodovar. Es ist auch ein gutes Bild für die Vielfalt des Film hier in Cannes.

18.5.09

Sunshine Cleaning

 

USA 2008 (Sunshine Cleaning) Regie: Christine Jeffs mit Amy Adams, Emily Blunt, Alan Arkin, Steve Zahn 94 Min.

 

Wenn man "Cleaner" hört im amerikanischen Film, denkt man in Richtung Harvey Keitel, der in "Pulp Fiction" die Leichenreste von dämlichen Killern beseitigte. Doch „Sunshine Cleaning" geht nur von der Berufsbeschreibung her in diese Richtung, das Genre ist ein anderes. Denn der Film erwies sich beim Sundance Film Festival, dem Mekka des us-amerikanischen Independent-Films, 2008 als Publikumsliebling.

 

Rose (Amy Adams) ist keine schillernde Erscheinung, die Zeiten als Cheerleader sind lange vorbei, das Leben schenkt der Putzfrau um die 30 nun nur ein Verhältnis mit dem verheirateten Polizisten Mac (Steve Zahn). Zudem kümmert sich Rose um ihre arbeitslose Schwester Norah (Emily Blunt), den verschrobenen Vater (Alan Arkin) und ihren 8-jährigen exzentrischen Sohn. Da der auf eine Privatschule muss – die anderen haben ihn rausgeworfen - braucht Rose viel Geld. Der ansonsten eher männlich dämliche Mac hat die Idee dazu: Die Tatorte von Verbrechen und die Fundorte von Toten sehen oft ziemlich blutig und auch sonst versaut aus. Mit der Reinigung ist eine Menge Geld zu machen und so eröffnet Rose die Reinigungsfirma Sunshine Cleaning. Eher humorig als hardcore sind die Anfangsschwierigkeiten der Schwestern mit Verunreinigungen, bei denen die Mädchen im Kino meist wegsehen. Doch es gibt Atemmasken und Parfüm gegen den Geruch und Reinigungsmittel gegen die Blutflecken. Nicht so einfach (auf) zu lösen sind die Familienprobleme. Vater hat wieder eine Ladung Krabben günstig gekauft, die gerade im Bad verrotten, und die Schwester fackelt einen Tatort ab…

 

Mit viel schwarzem Humor und tollem Schauspiel erzählen die Produzenten von „Little Miss Sunshine" wieder so eine  bittersüße Familiengeschichte. Alan Arkin ist erneut mit dabei und sorgt für die schrägsten Momente. Doch Regisseurin Christine Jeffs („Rain") gibt der Geschichte durchaus einen eigenen Touch, bei dem der Fokus auf der Situation der Frauen liegt. Rose darf die Hoffnung nicht aufgeben und bekommt dabei unerwartete Hilfe. Norah muss den Absprung zu ihrem eigenen Traum finden, und da „Sunshine Cleaning" ein sympathischer Wohlfühlfilm ist, wird ihr das auch gelingen.

NRW in Cannes

Cannes. Mit Blick auf den alten Jachthafen von Cannes konnte NRW-Medienminister Andreas Krautscheid bei einem Kurzbesuch einen neuen Erfolg für die Förderungsarbeit der Filmstiftung NRW verbuchen. Anlass war die Premiere des neuen Lars von Trier „Antichrist“ im Wettbewerb um die Goldene Palme.
„Antichrist“ ist der erste komplett in NRW gedrehte Film im Wettbewerb von Cannes. Damit ist das schockierende Psychodrama schon jetzt ein Erfolg für die Filmstiftung. Nicht nur weil der Film mit Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe bislang mit Abstand am meisten Aufsehen erregte. Auch der sogenannte NRW-Faktor ist für einen Lars von Trier-Film rekordverdächtig. Mehr als das Doppelte der geförderten 900.000 Euro wurde wieder in Nordrhein-Westfalen ausgegeben, wie die Kölner Ko-Produzentin Bettina Brokemper von Zentropa International berichtete. Michael Schmid-Ospach setzte damit als Geschäftsführer die gute Zusammenarbeit mit Lars von Trier fort, aus der in den letzten zehn Jahren bereits die Filme „Dancer in the Dark“ (Goldene Palme 2000), „Dogville“, „Manderlay“ und „The Boss of it all“ hervorgegangen“ sind.
Andreas Krautscheid konnte nicht nur berichten, dass ihm der Wald im Bergischen Land, der eine zentrale Rolle in „Antichrist“ spielt, schon seit der Kindheit bekannt ist. Auch zur Zukunft der NRW-Filmförderung gab es Neuigkeiten: Die Förderung soll durch eine andere Besetzung der Entscheidungsgremien „flexibler werden“. Hinter dem vagen Begriff steckt die Vorstellung, dass auch kürzere Formate gefördert werden sollen, die von den an der Filmstiftung beteiligten Sendern für das Internet zur Verfügung gestellt werden können. Also eine Veränderung der Qualitätsförderung, die der Filmstiftung bislang viele Preise bei Festivals wie Cannes eingebracht hat.
Zudem steht auf der politischen Agenda, dass die „digitale Spardose“ von bundesweit 10 Mio. Euro für die Umstellung der Kinos auf digitale Projektion wieder aufgefüllt werden muss. Sie wurde im Rahmen von Rechtstreitigkeiten um die Finanzierung der FFA (Filmförderungs-Anstalt) eingesetzt. Eine nicht abgefederte Umstellung der Kinos könnte besonders im Flächenland NRW zu großen Problemen bei den Theaterbetreibern führen.

Looking for Eric

 

Die Austreibung des „Antichrist" betrieb der britische Film- und Sozialkämpfer Ken Loach mit seiner schönen Komödie „Looking for Eric". Loach, der für „The Wind that shakes the Barley" 2006 die Goldene Palme gewann, gönnt uns zu seinen vertrauten Geschichten aus dem britischen Arbeitermilieu diesmal viel Lachen und ein Happy End. Das Leben des Postboten Eric bricht zusammen, als er seine alte Liebe Lily wiedersehen muss. Ein Stiefsohn droht unter die Kontrolle eines psychopathischen Gangsters zu geraten, die Post bleibt im Wohnzimmer Erics liegen und Glück kennt Erics Leben schon lange nicht mehr. Als Eric jedoch einen Joint seines Stiefsohnes raucht, erscheint ihm sein großes Idol, der Fußballer Eric Cantona. Dessen Ratschläge, nicht nur auf dem Platz, sondern auch im Leben etwas zu wagen, neue Wege zu gehen und sich selber immer wieder zu überraschen, ändern auch das Leben des Postboten Eric. In einer großen sozialistischen Solidaritätsszene - wir sind schließlich bei Ken Loach - besiegen drei Fanbusse mit Postboten, die alle Cantona-Masken tragen, selbst den brutalen Gangster.

Mit dem französischen Fußball-Star und Ex-Manu-Spieler Eric Cantona bringt das Festival von Cannes zur Halbzeit nach Johnny Hallyday den zweiten französischen Star, der nicht aus der Kinowelt kommt. Eine clevere Besetzung sowohl vom Festival als auch von Ken Loach, denn noch nie wurde ein Film von Ken Loach mit so vielen Kopien ins Kino gebracht, wie demnächst bei „Looking for Eric". Dementsprechend gut war die Stimmung bei Vorführung und Pressekonferenz. Aus Barcelona kamen Fragen zum Ausgang des Champions-League-Finales, aber das sind die Schattenseiten offener Pressekonferenzen. Ansonsten äußerte sich Cantona mit sichtlichem Spaß am neuen Spiel sehr bedächtig und mit Sachverstand zum Filmen und dem Leben an sich. Wer auf die üblichen Fußballer-Dummsprüche wartete, war hier auf dem falschen Platz. Interessanter da die Gedanken des Autoren und Fußball-Fan Paul Laverty zu der unterschiedlichen Dramatik bei Fußball und Film. Fußball hätte einen anderen Rhythmus und lebt vom Unvorhersehbaren, wie dem Last Minute-Sieg von Manu gegen die Bayern im CL-Finale. Vielleicht können nach dieser Aussage einige Kopien für Deutschland abbestellt werden, aber ein Erfolg wird dieser Gute-Laune-Film sicher.


17.5.09

Cannes - Das Kreuz mit der Religion

 

Bei allen spannenden Themen im Mikrokosmos Cannes konnte man glatt die Religionen vergessen, die gerade für die heftigsten Kriege weltweit verantwortlich sind. Dank des eindrucksvollen Historienfilms „Agora" von Alejandro Amenabar wird man sich dieses Wahnsinns wieder schmerzlich bewusst. Das Drama beginnt im Alexandria des 4. Jahrhunderts. In der Klasse der Wissenschaftlerin Hypatia (Rachel Weisz), rund um die verbliebenen Schätze der Bibliothek von Alexandria, versammelt sich die begabte Jugend der Elite. Die Unruhen mit einer aufkommenden radikalen  Religionsgruppe reichen aber auch hinein in den Hort der Vernunft. Ein Christ und ein Anhänger des Schlangengottes Seraphim streiten sich, noch kann Hypatia ihnen vermitteln, dass sie doch alle vor allem gleich seien. Ein paar Pogrome, Gemetzel und Barbareien später haben die bärtigen Christen in ihren dunklen Gewändern die Macht übernommen, ihre ungebildeten Sittenwächter terrorisieren die Straßen, sogar der Rest der zerfallenden römischen Staatsmacht ergibt sich ihnen. Die Schüler der alten Klasse finden sich auf neuen Positionen der religiös verseuchten Gesellschaft: Der konvertierte Oreste ist römischer Statthalter und kann doch nicht die geliebte Hypatia schützen. Der ehemalige Sklave Devus, der Jahre beim katholischen Stoßtrupp für Rechtlosigkeit sorgte, bleibt seiner einstigen Herrin bis zuletzt treu. Denn nachdem die Christen die alte Religion und die Juden ausgemerzt haben, müssen sie jetzt die Vernunft der genialen Astronomin auslöschen und brandmarken sie als Hexe…

Auch auf die Gefahr hin, den Titel „Antichrist" von Lars von Trier um die Ohren gehauen zu bekommen - so zeigt es „Agora". Und dabei geht es nicht darum, welche Religion schrecklicher metzelt. Besonders furchtbar ist der erbitterte Kampf mit Feuer und Schwert gegen die Vernunft und den Atheismus. Dass die Frau Hypathia wahrscheinlich 1200 Jahre vor Keppler herausfand, dass die Erde sich in elliptischer Bahn um die Sonne dreht, wird da zur Nebensache.

Alejandro Amenabar hat keinen durchgehend gelungen aber einen für unsere Zeit enorm wichtigen Film vorgestellt. Denn was sind das für Zeiten, in denen ein Islam-kritischer Deutscher iranischer Abstammung äußert, dass er angesichts eines Gemäldes erstmals die christliche Begeisterung für das Kreuz nachvollziehen könne und er deswegen plötzlich für katholische und evangelische Kirchenobere nicht mehr  tolerierbar ist?

 

Wer jetzt bedauert, das die Poesie der „Liebenden vom Polarkreis", die Romantik und die magische Sexualität der früheren Filme Amenabars durch das erdenschwere Thema Religion verschwunden sind, verhält sich dabei ebenso wie Hypatia, die bei allen astronomischen Studien übersieht, was in der Welt um sie passiert - ob sie sich dreht oder auch nicht.

 

Nach „Agora" sieht man auch andere Filme neu: Führte nicht in „Thirst" der Versuch, eines katholischen Priesters, zu helfen und sich zu opfern zu einem heftigen Ausbruch von ganz unchristlichem Vampirismus? Blinkte nicht im wegen seiner radikal inszenierten Brutalität heftig angegriffenen „Kinatay" aus den erzkonservativen Philippinen überall „Jesus" in Leuchtwerbung auf? Und das ergreifende Drama „Jaffa", das die Unmöglichkeit der Liebe eines Arabers mit einer Israelin angeht.

Mordsspaß in Cannes: Johnnie To und Johnny Hallyday

Cannes. Das Festival an der Cote d'Azur hat sich endgültig für einen blauen Himmel entschieden und bleibt auch Tage nach der luftigen Eröffnung mit dem Zeichentrick „Up" ein auffallend buntes Festival, dafür sorgt Ang Lee bei seinem Trip nach Woodstock mit etwas LSD. Ansonsten heißt es nach einem doppelten Johnny (To und Hallyday) heute: Warten auf den „Antichrist" aller Festivals: Lars von Trier.

 

13 Jahre lang hat Ang Lee keinen „Feelgood Movie" mehr gemacht und sorgte nun mit "Taking Woodstock" für beste Gefühle auf breiter Wettbewerbs-Front. Der amerikanische Menschenfilmer („Das Hochzeitsbankett", „Eissturm", „Brokeback Mountain") aus Taiwan zeigt eine dieser Partys, die es vor 40 Jahren überall auf der Strecke nach Woodstock gab, aus einer sehr persönlichen Perspektive: Elliot Teichberg kehrte zum heruntergekommenen Motel seiner alten Eltern zurück, um den Laden vor dem Bankrott zu retten. Dass die Bruchbuden die Basis für das berühmteste Rockfestival aller Zeiten wird, hätte niemand geahnt. Nicht nur wird das schrottreife Motel rasend schnell von Konzert-Managern und Hippies überrannt, das ganze Dorf steht Kopf. Doch Woodstock ist bei der humorvollen Geschichte von Elliot und Ang Lee nur Nebensache - wenn man 500.000 Menschen, die drei Tage lang feierten wie noch nie, als Nebensache bezeichnen kann. Es sind die anderen Menschen, die sich erst widerwillig und dann voller Lust in den Freudentaumel stürzen, die „Taking Woodstock" zu einem Quell der Lebensfreude machen.

 

Eher ums Sterben geht es immer beim Hong Kong-Meister Johnnie To, diesmal schickte er die französische Rock-Legende Johnny Hallyday auf den Rachetrip „Vengeance". Das coole Killen von vorgestern kann als Ausrutscher im Wettbewerb oder als Wild Card für einen französisch ko-produzierten Starter abgeschrieben werden. Auch wenn dem Action-Regisseur noch ein paar neue Deko-Ideen für das reihenweise Abknallen einfallen, auch wenn er dem alten Helden Hallyday, der seine Tochter rächen will, fortschreitenden Gedächtnisverlust anheftet (ein Ideen-Klau von „Memento" und dem klug-politischen, belgischen Thriller „Alzheimer", wenn ich mich recht erinnere) – es bleibt dummes Ballern, wenn auch noch so raffiniert inszeniert.

 

Dass hingegen ein nicht leichtfertig choreographierter, sondern in aller Bestialität ausgespielter Mord reicht, um zumindest Cannes komplett abzuschrecken, zeigt die philippinische Hoffnung Brillante Mendoza. Schon 2008 war er mit „Serbis" im Wettbewerb, nun schockt er mit einer raffiniert gemachten und doch unerträglich brutalen Metzgerei namens „Kinatay" (Schlachterei). Bei dem Gewalttrip mit den gleichen Implikationen wie Hanekes „Funny Games" wird die schreckliche Seherfahrung des Zuschauers in einem unbedarften, jungen Helden gespiegelt, der es am Ende genau so macht, wie das schockierte Publikum: Erst einmal Essen gehen. Keine Empfehlung, aber immerhin ehrlicher als der Spaß am Morden bei Johnnie To.

 

Und jetzt heißt es Warten auf von Trier: Wird der reisescheue Däne zur Pressekonferenz und zur Premiere von seinem in NRW gedrehten Waldsterben „Antichrist" erscheinen, hat sein Wohnmobil den Weg nach Cannes gefunden? Die Wetten sind gemacht, das „enfant terrible" sorgt schon vor der Pressepremiere heute Abend für Aufsehen. Keine schlechte Webtaktik für das überall laut nach Aufmerksamkeit schreiende Cannes.

15.5.09

Vampire und andere Liebesgeschichten - Jane Campion, Park Chan-Wook


Jane Campion, die für „Das Piano“ als erste Frau eine Goldene Palme erhielt, kehrt sechs Jahre nach ihrem Jodie Foster-Thriller „In the Cut“ wieder auf die Leinwand zurück. In „Bright Star“ erzählt sie ruhig und intensiv von der kurzen, letzten Liebe des englischen Poeten John Keats mit einer jungen Nachbarin im Jahre 1818. „Bright Star“ ist auch der erst Kostümfilm von Campion nach „The Portrait of a Lady“ aus 1996 und die neuseeländische Regisseurin schwelgt in den Stoffen, den Farben, den Stimmungen. Es ist ein undramatisches Verhältnis der Kostümdesignerin Fanny Brawne und Campion gelingt es, ohne das übliche Drama, zwei Stunden lang zu fesseln. Dass Fanny den zu armen Poeten nicht heiraten konnte und dass Keats im Alter von 25 starb, muss reichen, um die Herzen zu rühren, während den Augen und Ohren immens geschmeichelt wird.
 
Ich bin ein Vampir und das ist ok!
Wenn der Koreaner Park Chan-Wook in die Werkzeugkiste greift, sollte man den Verbandskasten in der Nähe haben. Das war bei seiner Rache-Trilogie so, die 2003 mit „Old Boy“ mit der Goldenen Palme gekrönt wurde. Jetzt zeigt er nach der schrillen Fantasy-Blutorgie „I’m a Cyborg, but that’s ok“, wie ein Priester zum Vampir wird. Das geht blutig ab, klar! Aber auch wunderbar verdreht, mit Figuren, die mindestens zwei Gesichter haben und die man dann auch beide so noch nicht gesehen hat. Ausgerechnet, als sich Vater Sang-hyun in Afrika mit dem Emmanuel-Virus infizieren lässt, um ein Gegenmittel zu finden, wird er durch das Blut zum Vampir. Das sorgt wieder daheim in Korea für amouröse und skurrile Verwicklungen, die das Premierenpublikum begeisterten. Frisches Blut für das Weltkino aus Korea! Und schon nach diesen zwei Wettbewerbsfilmen fiele eine Entscheidung schwer.
 
Für einen doppelten Star-Auftritt sorgt die Französin Marina De Van in „Ne te retourne pas“: Sophie Morceau und Monica Bellucci verschmelzen in dem abstrusen Psycho-Stoff ganz real-digital miteinander, weil eine Frau auf der Suche nach ihrer verlorenen Kindheit ist. Dabei verformen sich Gesichter und Knochen wie im Horrorfilm. Früher hätte man (frau) gespielt, wie schmerzlich die Suche nach dem verlorenen Kind in einem ist. Jetzt wird getrickst und es ist zum Weglaufen.
 
Und dass noch so viele lächeln und sich weigern, den Tunnelblick anzulegen, liegt nicht daran, dass wegen irgendeiner Krise weniger Besucher da wären. Hier pflegt sowieso jeder seine eigene Krise: Ein paar Südamerikaner sitzen mit Mundschutz im Kino. Wohl damit keine Schweine-, Vogel- oder Rinderpestilenzen aus ihrem Rachenraum nach draußen dringen. Eine ganz echte Krise hat dann nur der deutsche Film: Aus Mangeln an Startern mit deutschem Blut, soll der Österreicher Michael Haneke mit seinem von mehreren Ländern produzierten „Das weiße Band“ heim ins eigentlich reichere Deutschland gerechnet werden. 45% Prozent seien ja die relative Mehrheit, sagen die, die vergessen, dass Kunst keine Politik und kein Börsenhandel ist. Erste Erinnerungen an eine langjährige Strecke ohne deutsche Filme im Wettbewerb werden schon wach. So erzählt eine Fachzeitschrift nicht vom Inhalt, von den seltsamen Ereignissen in einem norddeutschen Dorf vor dem Ersten Weltkrieg, sondern vom „explizit deutschen Stoff, verfilmt komplett in Deutschland, mit deutschen Schauspielern und mit X-Filme als federführenden deutschen Produzenten“! Jawoll!
 

14.5.09

Spring Fever (Cannes Wettbewerb)


Regie: Lou Ye

China 2009

Cannes Wettbewerb

 

Es ist Frühling in Nanking und auch am anderen Ende der Welt und auf der anderen Seite der Ideologien, wo Banken verstaatlicht sind und der Staat die Wirtschaft mit Milliardenbeträgen steuert (also im chinesischen Kommunismus) schlagen die Bäume aus und die Gefühle hohe Wellen. Die Folge ist ein Beziehungsreigen, der sich langsam vollzieht, langsam und ohne viele Worte. Im Nachhinein könnte man ein großes Drama draus machen, die Leidenschaften fordern 1 ½ Tote, immer wird verlassen und ein neues Paar Arme zu festhalten gesucht. Oder man könnte es kalt analysieren: A+B+C-A+D-B … Doch Lou Ye findet seinen eigenen Weg wie auch die Figuren zwar mit offenen Augen aber ganz Gefühl von einem zum nächsten finden. Mit Urteilen und Verurteilungen kommt man nicht weit. Man sollte dem Fluss Beachtung schenken, der immer wieder eingeblendet wird und sich von den Gefühlen treiben lassen. Dann entdeckt man die Zuneigung zu den hilflosen Figuren in diesem Strom, dann schätzt man die Momente des Glücks, die kleinen Erfüllungen zwischen dem großen Verlassen und Verlieren.

 

Daraus jetzt einen Skandal zu machen oder zu hoffen, dass irgendein unterforderter Zensor in der Volksrepublik China einen Skandal macht, wäre albern. Die meisten Beteiligten in diesem Frühlingserwachen eines Privat-Detektives sind schwul. Man sieht sehr körperlich, wie sie miteinander schlafen und zwischendurch schläft der eine oder andere von ihnen auch mal mit einer Frau. Und das ist gut so; sehr gut und beiläufig mit der kleinen digitalen Handkamera (in bis zu 40-minütigen Einstellungen!) gefilmt, in Umgebungen, die einem Westeuropäer sehr authentisch vorkommen. Doch so fern ist diese Cannes-Mitspieler des Weltkinos nicht: Man denkt mal an Godard, wenn jemand mit dem Rennrad in der Wohnung fahren will, und an Jules und Jim statt Ying und Yang, wenn es einen sehr harmonischen Urlaub zu dritt gibt, wo die Freundschaft mehr zählt als das Etikett homo oder hetero. Und tatsächlich gehört Truffauts „Jules und Jim" zu den Filmen, die Lou Ye sehr bewundert. Außerdem zeigte er den Schauspielern Schlessingers  „Midnight Cowboy" und „My own private Idaho" von Gus van Sant.

 

„Weekend Lover", der erste Film von Lou Ye aus 1994 wurde zensiert, um doch zu dem Thema zu kommen. Und gewann dann in Rotterdam. „Summer Palace" lief 2006 in Cannes und handelte von den mörderisch nieder gemachten Protesten auf dem Tiananmen Platz in Peking. In Folge wurde Lou Ye mit fünf Jahren Berufsverbot belegt. Für „Spring Fever" gab es zum Glück Geld aus Frankreich und Hongkong.

Jury-Vorstellung Cannes 2009

Sie sorgte für die erste Aufregung in einem französischen Küstenstädtchen, das eher verschlafen den Rest des Jahres durchbringt: Die sehr prominente Jury des Wettbewerbs um die Goldene Palme 2009 präsentierte sich gestern noch sehr harmonisch. Es ist Eröffnungstag, Cannes gibt sich entspannt, nur die immer groben Fotografen schreien unermüdlich die Namen der Stars: Isabelle! Asia! Robin!

„Wir sind hier nicht, um zu urteilen." Über den Dingen zeigte sich erwartungsgemäß Jury-Präsidentin Isabelle Huppert, mittlerweile die große Dame des französischen Films, die immer noch gerne gewagte Rollen angeht. Und überhaupt sei es schwierig, Kunstwerke zu bewerten. Sie wird sich wahrscheinlich nicht nur deswegen sehr temperamentvolle Diskussionen liefern mit der jüngeren Asia Argento, noch immer ein Wildfang als Darstellerin und auch als Regisseurin würdige Tochter der italienischen Horror- und Trash-Film-Legende Dario Argento. So wie im Wettbewerb wenig us-amerikanische Produktionen sind, waren wenig Sonnenbrillen bei der Jury im Presseraum festzustellen, das lässt auf mehr Sachverstand als Eitelkeit schließen.

Ganz kurz nur blitzte Politisches auf, als Hanif Kureishi („Mein wunderbarer Waschsalon") die vielen Fragen nach den Besonderheiten einer Jury-Präsidentin sichtlich genervt damit beantwortete, es sei auch noch nie ein Schwarzer oder ein Asiate Jury-Präsident gewesen. Cannes greift zwar immer wieder die neuesten Strömungen des Welt-Kinos auf, lässt sich andererseits aber auch gerne Zeit, die Welt hereinzulassen.

Für Star-Glamour sorgte auch Robin Right-Penn, die in vielen Produktionen abseits des Mainstreams sehr einfühlsam extreme Rollen meisterte. Weniger beachtet in der westlich zentrierten Jury eines Festivals, das durchaus den Osten und auch Afrika schätzt, wurde beispielsweise Sharmila Tagore, eine in Indien sehr bekannte Schauspielerin. Dazu kommen mit Cannes sehr vertraute Regisseure wie der Amerikaner James Gray, der Brite Hanef Kureishi oder der Türke Nury Bilge Ceylan, die alle schon im Wettbewerb waren. Ceylan meinte ebenfalls gelassen, dass dieser Teil der Filmwelt nur ein Spiel sein, das man nicht zu ernst nehmen dürfe. Eine gesunde Haltung in Cannes. Doch die logischerweise geringe Star-Dichte bei einer Eröffnung mit einem Zeichentrickfilm wird sicher wieder irgendein Krisengerede anfeuern, bevor der Wahnsinn ab heute richtig losgeht und sich mit einer raffinierten Steigerung der Prominenzdichte immer wieder überbieten wird.

Cannes hebt "Up" - Erhebender Eröffnungsfilm

Viele bunte Luftballons und noch mehr schillernde Stars: Der ungewöhnliche Eröffnungsfilm für die 62. Filmfestspiele von Cannes (13. – 23. Mai 2009) erwies sich als voller Erfolg. Der zehnte Pixar-Trickfilm „Up" sorgte für erhebende Gefühle mit seiner wunderbaren Geschichte voller Abenteuer und Emotionen, ein großartiger Spaß vielen liebenswerten Details. Da wurde es zur Nebensache, dass Cannes in seiner 62. Ausgabe erstmals mit einem digitalen 3D-Trickfilm eröffnete. Für „Up" braucht man weder eine rosarote noch eine 3D-Brille, in diesem Meisterwerk von Pete Docter geht es einfach ab. Charles Aznavour sorgte beim Film, der in Deutschland „Oben" heißen soll, für den guten Ton und bei der Eröffnungsgala für den nationalen Touch. Er spricht in der französischen Synchro den sympathischen Helden Carl.

 

Nein, die Medien-Heinis in Cannes sind nicht so ultra-cool, dass sie mit Sonnenbrille ins Kino gehen müssen. Es soll ein neues Zeitalter des Kinokuckens eingeläutet werden und da man heutzutage so etwas lieber richtig inszeniert, wurde das Presse-Publikum schon vor dem Film gebeten, die Brillen aufzusetzen. Für das Foto, für die Geschichte. So wird dieses Bild um die Welt gehen, wie einst vor Jahrzehnten die Fotos von witzigen Menschen mit den rot-grünen 3D-Brillen im Publikum. Mit dem ersten Film einer neuen 3D-Generation in Cannes - und das noch als Eröffnungsfilm! - wird Geschichte geschrieben. Ob es nur eine Fußnote der Geschichte wird oder das Ende des 2D-Films bleibt abzuwarten. Denn die Geschichte des alten Ballon-Verkäufers Carl, der nach einem schön erfüllten Leben mit seiner Jugendliebe Ellie und ihrem friedlichen Tod deren letzten Wunsch erfüllen will, wirkt vor allem aus eigener Kraft. So fliegt Carl getragen von der kreativen Kraft der Fantasie und seiner Luftballon komplett mit seinem alten Häuschen nach Südamerika fliegt. Dort bei den Wasserfällen namens Paradise Falls soll es landen, genau wie Ellie es als Kind zeichnete. Doch es hat sich  nicht nur ein kleiner, nerviger Pfadfinder als Blinder Passagier eingeschlichen, bei dem Abenteuer das folgt, treffen sie auf – dank Pixar umwerfend komisch – sprechende Hunde, ein albernes Fabelwesen und einen skrupellosen Forscher. Wer sich für Animationsfilme begeistert wird übrigens „Das wandelnde Schloss" vom japanischen Meister-Animateur Hayao Miyazaki wiedererkennen!

 

Egal ob 2, 3 oder irgendwann 4D: „Up" beweist wieder einmal, dass es um die Geschichten und die Menschen geht: Carl ist eine gezeichnete Version des alten Spencer Tracy, grummelig aber mit einem guten Herzen von hier bis zum Äquator. Sein Gegenspieler Charles Muntz ist eine unübersehbare, kantige Hommage an Kirk Douglas. Schon die in einer meisterlichen Montage zusammengefasste Lebens- und Liebesgeschichte von Carl und Ellie wird sicherlich das herzergreifendste Stückchen Film auf diesem Festival hängen bleiben. Wie Regisseur Pete Docter mit all den Nebenfiguren und originellen Wendungen der Handlung ein herzliches Spaßfeuerwerk in die Luft gehen lässt, ist ganz großes Kino mit kleinen Zeichenfiguren. Docter war Regisseur von „Monsters Inc.", aber vor allem auch Mitarbeiter bei allen zehn bisherigen Pixar-Spielfilmen!

Die Kamera als Reporter

Die Kamera als Reporter

 

Filmen unter Zensur - Beiträge aus China und dem Iran in Cannes

 

Nicht nur Reporter mit der Filmkamera profitieren von den neuen Möglichkeiten, kleiner, unauffälliger digitaler Kameras. Selbst im Wettbewerb von Cannes finden sich Filme, die mit klassischem Equipment nicht entstanden wären. Sie erzählen von einer jungen Band in Teheran und von schwulen Beziehungen in Nanking. „Camera Revolution" beschäftigt Künstler weltweit, von Peter Gabriel bis zum Dokumentaristen Bernd Mosblech aus Lontzen, der ausgerechnet unter der Militäraufsicht von Sri Lanka jungen Studenten im Goethe Institut die neuen Möglichkeiten vermittelte.

 

Zwei Jahre war der internationale gefeierte, iranische Regisseur Bahman Ghobadi („Zeit der trunkenen Pferde", „Turtle can fly") mit den Vorbereitungen für einen Kurzfilm beschäftigt, dann untersagten ihm die Behörden den Dreh. Eigentlich ein Berufsverbot, denn der Staat kontrolliert alle 35mm-Kameras. Doch dann besorgte sich Ghobadi eine digitale Kamera und begleitete damit unauffällig seine Protagonisten in Teheran. „No one knows about Persian cats" zeigt jetzt im als Eröffnung des Nebensektion Certain Regard in Cannes junge Musiker, die ohne Genehmigung eine Band aufmachen wollen.

 

Auch der chinesische Regisseur Lou Ye hat seine Erfahrungen mit der Zensur. „Weekend Lover", sein erster Film aus 1994 wurde verboten, die internationalen Festivalaufführungen waren begleitetet von heftigen chinesischen Protesten. „Summer Palace" lief 2006 in Cannes und handelte von den mörderisch nieder gemachten Protesten auf dem Tiananmen Platz in Peking. In Folge wurde Lou Ye mit fünf Jahren Berufsverbot belegt. Für „Spring Fever", seinen neuen Film, gab es zum Glück Geld aus Frankreich und Hongkong.

Mit einer digitalen Kamera und kleinem Team konnte Lou Ye meist abseits der Öffentlichkeit mitten in Nanking drehen, dabei den Protagonisten seiner Geschichte nahe kommen und Aufmerksamkeit vermeiden. Er zeigt einen Beziehungsreigen das mit einem schwulen Paar beginnt, ein Hetero-Paar fällt auseinander, es gibt einen Toten. Und das, obwohl es Schwule in China offiziell nicht gibt. So zeigt sich, dass digitales Filmen nicht nur neue ästhetische Räume erschließt, sondern auch politische Freiräume schaffen kann.

 



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Herzliche Grüße,
Günter H. Jekubzik
guenter@jekubzik.de
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11.5.09

17 Again


USA 2009 (17 Again) Regie: Burr Steers mit Zac Efron, Matthew Perry, Leslie Mann 102 Min. FSK: o.A.

Wer kennt nicht das Gefühl, irgendwas in seinem Leben muss falsch gelaufen sein. Wahrscheinlich damals an der Kinokasse. Könnte man doch nur zurück in der Zeit und alles noch mal neu und besser machen. Zum Beispiel keine Karte für „17 again“ kaufen...

Der Basketball- und Schul-Star Mike O'Donnell steht vor dem Sprung an die Highschool und in die Profi-Karriere. Doch seine Freundin ist schwanger und Mike steht zu ihr, bleibt an ihrer Seite, lässt das entscheidende Spiel sausen. 20 Jahre später steht Mike O'Donnell (Matthew Perry) vor der Scheidung, er hat Frau, Kinder und Garten vernachlässigt, weil er immer denkt, damals hätte er sich anders entscheiden sollen. Bei einem Besuch der Trophäensammlung der alten Schule macht es „Wwwwusch“ und Mike steckt wieder im seinem 17-jährigen Körper. Jetzt kann er der Kumpel seiner Kinder werden, als weiser Teenager der eigenen Frau nachstellen („iiiiieeeh“) und vielleicht doch die Karriere als Sportler einschlagen. Nachdem einiges schief geht, trifft Mike eine nicht besonders überraschende Entscheidung.

Die Idee des magischen Zeitsprungs im eigenen Leben ist als Genre recht populär. Da aber immer nur 1-2 Filme dieser Gattung pro Kino-Generation produziert werden, gibt man sich selten wirklich viel Mühe dabei. Mit einem im Kino gescheiterten TV-Star (Matthew Perry) und einem künstlich aufgebauten Musical-TV-Star (Zac Efron) zieht diese Komödie mehr schwach als lach ihre Kreise. Vieles wirkt extrem überdramatisiert. Wirklich komisch ist nur Mikes Kumpel Ned (Thomas Lennon), ein durchgeknallter Fantasy-Fan, der eine verrückte Beziehung zur strengen Direktorin startet - zum Glück sprechen beide Elbisch.

Il Divo


Italien 2008 (Il Divo) Regie: Paolo Sorrentino mit Toni Servillo, Anna Bonaiuto, Piera Degli Esposti, Paolo Graziosi, Giulio Bosetti 110 Min.

Die Biographie eines italienischen Politikers als Unterhaltungsfilm? Das hat selbst bei Berlusconi in zwei Anläufen (Nanni Morettis „Der Italiener“ und Stahlbergs „xx“) nicht besonders viel Erfolg gehabt. Und nun Giulio Andreotti, den selbst die eifrigsten Spiegelleser vielleicht nur noch vage erinnern. Dabei war das Urgestein der italienischen Konservativen 25 mal Minister, 7 mal Premierminister. Zudem wurde er wegen seiner Beziehungen zur Mafia 29 mal angeklagt und 29 und freigesprochen. Doch wer nur kurz reinschaut in „Il Divo“ muss begeistert sein: Die Polit-Bio ist in Wirklichkeit Polit-Punk, der Überpate der italienischen Christdemokraten ein Nosferatu, ein Vampir umgeben von aberwitzigen Gestalten. „Il Divo“ sieht viel mehr nach Tarantino aus als nach Politik-Seminar.

Giulio Andreotti bestimmte das Machtsystem Italiens in den letzen vier Dekaden. Auch wenn die Regierungen in Rekordzeit gebildet und gestürzt wurden, er war immer da. Man nannte ihn den Star, den Buckligen, den Fuchs, den schwarzen Papst, die Ewigkeit, den Mann im Dunkeln, den Beelzebub. Und so zeigt ihn auch der Film: Vergessen Sie die Maskeraden der Doku-Spielfilme, die versuchen, ihre historischen Figuren mit viel Gummi im Gesicht aufleben und untergehen zu lassen. Hier entsteht über das Absurde, das Comic-Hafte, das Schräge ein exaktes Bild einer unfassbaren Person.

10.5.09

Ricky


Frankreich, Italien 2009 (Ricky) Regie: François Ozon mit Alexandra Lamy, Sergi Lopez, Mélusine Mayance, Arthur Peyret 90 Min.

Selten fiel das Urteil über eine Regisseur kürzer und einfacher aus: François Ozon hat einen Vogel. Allerdings waren die Reaktionen amüsiert bis irritiert. Die Geschichte ist eine ganz einfache. Katie (Alexandra Lamy) schlägt sich alleinerziehend mit ihrer Tochter durchs Leben. Eines Tages trifft sie in der Fabrik den neuen Kollegen Paco (Sergi Lopez), auf der Werkstoilette kommen sie sich sehr schnell sehr viel näher. Nach einem Abendessen zieht er bei ihr ein und ein paar schnell erzählte Szenen weiter ist Katies Sohn Ricky schon geboren. Bis hierhin könnte es ein Sozialdrama werden, vielleicht erfreut uns der Franzose, der das Musical „8 Frauen“ machte, die Fassbinder-Hommage „Tropfen auf heiße Steine“ oder den Frauen-Thriller „Swimming Pool“, mal mit einer Komödie. Doch es kommt ganz anders, das Baby Ricky ist sehr hungrig, schreit die ganze Zeit und ihm wachsen ... Flügel!

Paco wurde schon aus der kleinen Wohnung geschmissen, als sich blutige Stellen auf dem Rücken von Ricky zeigten. So müssen Katie und die Tochter allein mit dem kleinen Wunder fertig werden. Doch es bleibt nicht lange geheim: Ausgerechnet im Supermarkt entfliegt das Baby und die Bilder davon schwirren schnell durch alle Nachrichten. Jetzt ist es raus, Paco berät mit, wie es weitergehen soll, aber es wird keine einfache oder auch schlüssige Erklärung geben.

„Ricky“, Ozons Neuer, hebt mutig ab, nach der melodramatischen Autorinnen-Biografie „Angel“ nun ein fantastisches Märchen, eine Sozialgeschichte mit Flügeln, ein psychologischer Thriller oder eine Abschiedsgeschichte. Auf Basis der Kurzgeschichte "Moth" von Rose Tremain entwickelt sich so viel Unkonventionelles und Ungewöhnliches, bei dem sich die interpretatorische Fantasie frei entfalten kann. Halt gibt dabei die handwerkliche Exzellenz des Franzosen Ozon. Und das sehr eindringliche Spiel von Alexandra Lamy, die ihre Katie in glücklichen Momenten ein wenig wie Sandrine Bonnaire aussehen lässt, dann wieder sehr erschöpft und völlig aufgelöst. Was „Richy“ nun eigentlich ist, war oder macht, lässt sich nicht wirklich sagen. Doch der Film ist ein Erlebnis.

Eldorado


Belgien, Frankreich 2008 (Eldorado) Regie: Bouli Lanners mit Bouli Lanners, Fabrice Adde, Françoise Chichéry, Philippe Nahon 81 Min. FSK ab 12

Da stöbert man auf einem chaotischen Schrottplatz irgendwo in der Wallonie rum und entdeckt veritable Klassiker: Neben Homers alter Odyssee tummeln sich in „Eldorado“ der klassische Western, ein wunderbarer Roadmovie und vor allem grandiose Typen, an denen man sich herzlich erfreuen kann. Das belgische Multitalent Bouli Lanners ist mit „Eldorado“ seit seiner Premiere in Cannes (drei Preise in der „Quinzaine“!) auf Erfolgstour durch Europa - als Regisseur und ganz körperlich selbst am Steuer seines alten Chevrolet.

Es ist eine dieser Szenen, die man nicht mehr vergisst und gerne weiter erzählt (und „Eldorado“ hat einige davon): Der üppige Oldtimer-Händler Yvan (Lanners) entdeckt bei seiner nächtlichen Heimkehr Spuren eines Einbruchs. Bewaffnet mit einem Auspuff-Rohr macht er sich auf die Suche nach dem Täter, der sich tatsächlich noch unter dem Bett versteckt. Heraus will er nicht und dort lassen will ihn Yvan auch nicht. Also verbringen beide den Rest der Nacht in einem umwerfend komischen Waffenstillstand.

Als sich der Dieb - ein dürrer Junkie namens Elie (Fabrice Adde) - im Morgengrauen heraus traut, weil sich der grimmige Wächter schlafend stellt, ergeben eine Treppe und ein zufällig geschickt geworfenes Auspuff-Rohr zwangsläufig den Sturz Elies in die Sympathien des Publikums. Dass sich diese Szene außerhalb des Bildes, also nur in den Köpfen der Zuschauer ereignet, zeugt schnell vom filmischen Talent des Regisseurs. Doch schon die vorherigen Dialoge mit ihrem trockenen, lakonischen Humor überzeugten.

Diese Szenen sind erst der Anfang eines Roadmovies, einer Odyssee durch die Wallonie hin zur französischen Grenze. Denn selbstverständlich kann der gutherzige Yvan den verlorenen Einbrecher nicht gehen lassen, ohne ihn zu versorgen und ihm etwas Geld zuzustecken. Das Absetzen an einer Straßenkreuzung bringt Elie auch nicht weiter in Richtung seiner Eltern, denn der schöne subtile Bildhumor zeigt, dass diese Kreuzung nicht nur im Nirgendwo liegt, sondern auch scheinbar vier mal Nirgendwo hin führt.

Das südliche Belgien mit den Weiten der Venn-Landschaft erinnert nicht zufällig an einen Western, wobei die vielen skurrilen Begegnungen der beiden tragikomischen Helden mit großen Talent zum Slapstick eine surreale Reise ins Wallonen-Land ergeben. Dabei sind von nudistischen Campern bis zu herzergreifend vereinsamten Müttern die Figuren faszinierend einmalig, die Settings unglaublich abwegig und die Dialoge auf knappsten Raum treffend. Der Weg ist das Ziel und dieses liegt immer in einem selbst oder zumindest im dahingleitenden Chevrolet.

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Der 1965 im deutschsprachigen belgischen Örtchen Kelmis geborene Bouli Lanners erhielt 2008 in Cannes für „Eldorado“ in der renommierten Nebensektion „La Quinzaine des réalisateurs“ gleich drei Preise. Der Internationale Kritikerverband „Fipresci“ sah „Eldorado“ zudem als den Besten Film der Sektionen „Kritikerwoche“ und „Quinzaine“. Auch der Verband „Europa Cinémas“ gab seinen Hauptpreis an Lanners, ebenso wie sieben jugendliche Cineasten ihren Preis „Regards jeunes“. Der Maler und Autodidakt Lanners übernahm zahlreiche Jobs beim Film bevor er als Schauspieler populär wurde. 1999 schrieb und inszenierte er sein Regiedebüt „Travellinckx“. Der Nachfolger „Ultranova“ erhielt viele internationale Festivalpreise.

Illuminati


USA 2009 (Angels & Demons) Regie: Ron Howard mit Tom Hanks, Ewan McGregor, Stellan Skarsgård 138 Min. FSK: ab 12

Fürchtet euch nicht! Dies sei vorneweg gesagt: „Illuminati“, Teil zwei der kulturhistorischen Schnitzeljagd von Bestseller-Fließband-Schreiber Dan Brown, ist recht unterhaltsam und weit von der filmischen Katastrophe „The Da Vinci Code“ entfernt. Tom Hanks wird nicht Papst und auch Armin Mueller-Stahl erhält für seine Routine nur begrenzte Leinwandzeit. Dafür kommt in Rom italienisches Design vom Barock-Architekten Bernini bis zu den geschwungenen Linien der Lancia schön ins Bild. Und Ewan McGregor wechselt seine Glaubensrichtung opportunistisch von Jedi-Ritter zu Papst-Anwärter. Der Titel „Kirchen-Skandalfilm“ bleibt jedoch vakant, wohl bis zur „Päpstin“ von Sönke Wortmann.

Der Papst ist tot, die vier möglichen Nachfolger wurden entführt und irgendwo im Vatikanstaat ist hochexplosive Antimaterie versteckt. Da kann nur einer helfen: Captain James T. Kirk! Falsch. Zwischen den Polen Wissenschaft und Kirche, Fortschritt und Tradition, Aufklärung und Glauben spannt Autor Dan Brown seinen recht schematischen aber doch spannenden Rätsel-Thriller um die Figur des amerikanischen Schlüssel-Dienstlers Robert Langdon (Tom Hanks). Dieser Alles-Erkenner wird ausgerechnet von der Katholischen Kirche zu Hilfe gebeten. Dabei erkennt er in Rom schnell ein Kompetenz-Gewusel zwischen den Schweizer Garden, der Vatikan-Polizei und den regulären italienischen Ordnungshütern. Die konkurrierenden Strömungen hinter den Vatikan-Mauern bleiben einstweilen undurchschaubar - selbst Robert Langdon lässt sich von den Meistern der Vernebelung täuschen.

Während also in der Sixtinischen Kapelle ein neuer Papst gewählt werden soll, richtet ein Schurke stündlich eine der Geiseln hin. Ein unauffälliger, doch hintertriebener Durchschnittstyp mit Brille fährt mit seinem VW-Bulli durch die Heilige Stadt und lässt seine Opfer symbolträchtig an verschiedenen Stellen ab. Die jämmerlichen Entschuldigungen, weshalb der Mörder ja gar nichts für seine Taten kann, sind ebenso Brown-typisch wie die verrätselte Fährte, die von den Bösewichten ausgelegt wird. In Zeiten, da man sich Sprengstoff-Gürtel umschnallt und keine verschlüsselten Gedichte schreibt, wenn man massenmorden will, wirkt dies eher albern. Aber dies ist halt Dan Brown, man kauft es (ihm ab) oder man lässt es bleiben.

Dem furchtbar ermüdenden Puzzeln und Schnitzeljagen des ersten Teils geht hier früh genug die Luft aus. So verschont uns der Film auch recht bald mit den kulturhistorischen Lerneinheiten. Die touristischen Stadtrundfahrten durch Rom - die andere Filme reizvoller präsentieren - sind irgendwann frei von Fachwissens-Details über Bernini, West-Ausrichtung der Stadt oder dem Heidnischen im Fundament der katholischen Kirche.

Tom Hanks läuft meist auf Autopilot. Höchstens Details seiner Figur, etwa der Blick auf die Mickey Mouse-Uhr inmitten italienischer Kunstschätze, und etwas trockener Humor können erheitern. Seine weibliche Begleiterin Vetra (Ayelet July Zurer) erregt als Vertreterin der Wissenschaft kein emotionales Interesse, bleibt reine Stichwortgeberin und Übersetzerin eines Fachmannes für Kirchengeschichte, der kein Latein und damit Italienisch kann. Dies ist nur einer der unglaublichen Klopse des Buches, das angetrieben wird von einen Kanister mit Antimaterie, dessen Magnetfeld nur ein paar Knopfbatterien aufrecht erhalten! Nur der Obi Kenobi der katholischen Kirche, der ehemalige Jedi-Ritter Ewan McGregor, beeindruckt als Verwalter der päpstlichen Autorität vielschichtig.

Während Ron Howard die Szenen um die wissenschaftlich hochspannenden Atomkollisionen im neuen CERN bei Basel recht behäbig inszeniert und auch in der Hetze durch Rom keine Geschwindigkeitsrekorde im Action-Kino brechen will, gelingt im Finale eine großartige Mischung aus Rettung in letzter Minute, himmlischer Erscheinung und Kinobildern, die wie ein gewaltiges Ölgemälde wirken. Man kann den Film infolge der nachgelieferten Entschlüsselung auch als Warnung vor falschen Propheten, vor inszenierten (Religions-) Konflikten und künstlich erzeugter Frontbildung lesen. Eine nette Verschwörungstheorie, die jedoch nur leicht wie Hauch Blattgold auf dem kompakten Kern aus Popkorn-Kino haftet.

5.5.09

Der Junge im gestreiften Pyjama


USA/Großbritannien 2008 (The Boy in the Striped Pyjamas) Regie: Mark Herman mit Asa Butterfield, Jack Scanlon, Amber Beattie, David Thewlis 94 Min. FSK: ab 12

Mit einer sehr seltsamen Naivität nähert sich dieser Holocaust-Film dem Grauen der Konzentrationslager. Es könnte die unfassbare Ignoranz der „Davon haben wir nichts gewusst“-Haltung sein. Doch Autor und Regisseur Mark Herman  („Brassed Off“, „Little Voice“) entwickelte aus dem Roman von John Boyne einen Film ohne drastische Schockmomente, der sowohl bedenklich auch für Jugendliche tauglich sein kann.

Wie im Puppenkasten stehen die Figuren vor der Kamera, die sich am Kran hoch über die Szene erhebt: Da spielen Kinder begeistert Krieg und um die Ecke werden Juden mit Lastwagen abtransportiert. Zu Beginn der Vierziger Jahre scheint es in Deutschland für einige Kinder noch eine heile Welt geben zu können. Die naive Perspektive des achtjährigen Bruno (Asa Butterfield) wird nur erschüttert, weil sein Vater versetzt wird. Der „gute Soldat“ (David Thewlis) feiert stolz den Abschied, nur die eigene Mutter nimmt ihn nicht ernst. Sie amüsiert sich über die Begeisterung des zukünftigen KZ-Kommandanten für seine Uniformen: „Wie damals, als du klein warst.“

Nun zieht die bürgerliche Familie also neben das KZ. Muttern regt sich auf, weil es viel zu nah an der Wohnung des Kommandanten liegt. Und Bruno glaubt, die Häftlinge seien seltsam bekleidete Bauern - sie trügen Pyjamas. Obwohl man die Kinder vom Stacheldraht fern halten will, schleicht sich der einsame Bruno an den Zaun und freundet sich mit dem gleichaltrigen Shmuel an. Das verwöhnte Nazi-Kind meint, es sei gemein, dass er alleine sei, Schmul hingegen mit den anderen spielen dürfe. Denn die Nummer auf dem Pyjama sei doch sicher ein Teil des Spiels.

Es ist diese extreme Naivität des subjektiven Blickpunktes, gepaart mit der Künstlichkeit der Offizierswohnung, die Mark Hermans Drama „Der Junge im gestreiften Pyjama“ so einzigartig macht - selbst in einer Periode mit vielen Filmen zum Thema Holocaust. Zu diesem Blick passt eigentlich nur einer dieser NS-Propagandafilme über die vorbildlichen Lager, eine dieser unverschämten Lügen, die auch im Film vorkommen. Doch über deutlich gesetzte Figuren und Positionen vom strammen Nazi bis zur Mutter, die von Gewissensbissen gequält wird, entwickelt selbst Bruno Zweifel am eigenen Vater. Vor dem dramatischen Finale begeht der Junge allerdings einen bösen Verrat am jüdischen Freund.

„Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist tatsächlich auch für junge Jugendliche geeignet, denn er verzichtet auf unmittelbar schockierende Bilder und selbst die Musik von James Horner hält sich zurück. Man muss sich bei der dunklen Rauchsäule am immer strahlend blauen Himmel eigene fürchterliche Gedanken machen. Oder man macht sie sich nicht. Ebenso kann der Berg von Puppen im Keller an die Leichenberge der KZs erinnern. Aber was macht eine Generation, der sich nicht diese Bilder des Grauens eingebrannt hat?

Die zynische „Tragödie“, die den Clou der Geschichte bildet, wird nach kurzem Aufwallen grausam nüchtern verzeichnet, ein bitterer Hohn. Und der finale Missklang, dass einem über den Umweg eines kleinen nicht-jüdischen Jungen das Schicksal von Millionen umgebrachter Juden nahe gebracht werden soll.

Boy A


GB 2007 (Boy A) Regie: John Crowley mit Andrew Garfield, Peter Mullan, Katie Lyons, Shaun Evans 100 Min.

Gewalttätige, gar mörderische Kinder oder Jugendliche waren schon immer ein Thema, sei es „Der junge Törless“ von Musil / Schlöndorff, die tödlichen „Kinderspiele“ von Ian McEwan / Wolfgang Becker oder die „Funny Games“ von Michael Haneke. In England lautet der juristische Tarnname von jugendlichen Angeklagten, deren Identität geheim gehalten werden soll „Boy A“.  Eine notwendige Maßnahme, wie dieser Film auch zeigt. Unser „Boy A“ darf sich einen neuen Namen ausdenken. Nach Jahren im Gefängnis wird er mit der neuen Identität als Jack wieder in die Gesellschaft entlassen. Sein engagierter Helfer bei der Resozialisierung ist Terry (Peter Mullan, „My Name is Joe“). Er holt Jack aus dem Gefängnis ab, erklärt ihm den neuen Job, den Polizeischutz für die ersten Tage. Die sind erfüllt vom großen Stauen angesichts einer Welt in der man mittlerweile Filme zuhause auf DVD sieht.

Jack (Andrew Garfield), der stille Junge mit seinem Geheimnis, packt das Interesse des Zuschauers schnell. Weswegen er in Haft war, wird stückchenweise verraten. So nähert man sich dem Jungen auf die gleiche Weise wie die Menschen, die mit ihm zu tun haben. „Die Wahrheit“ erfahren wir langsam über Rückblenden aus der Zeit, als Junge als er noch Eric hieß und die anderen Schuljungen ihn verprügelten. Seine Mutter hatte Krebs, konnte sich nicht um ihn kümmern. Der neue Freund Philip übte zwar einen schlechten Einfluss aus, aber immerhin wehrte er sich gezielt und brutal gegen die größeren Typen, die Eric immer schikanieren.

Mittlerweile ist Philip tot, für die gleiche Tat wie Eric verurteilt und im Knast von Mithäftlingen umgebracht. Im neuen Leben als Jack findet der extrem scheue Entlassene Freunde, die Sekretärin Michelle mag ihn, eine schöne Beziehung wächst. Eine Beziehung, um die man bangt, so wie auch Jack Angst hat vor dem neuen Leben und vor den alten Erinnerungen, die immer grausamer werden. Gleichzeitig jagen ihn die Boulevard-Medien, im Internet ist ein Kopfgeld ausgesetzt.

„Boy A“ erzählt das Drama eines mutmaßlichen Mörders, der um eine zweite Chance kämpft, in einem nüchternen Stil. Die exzellente Kamera von Rob Hardy zeigt stimmungs- und bedeutungsvolle Bilder - selbst bei dieser TV-Produktion.

Irgendwann rettet Jack ein Mädchen nach einem Autounfall. Die Parallelen zwischen damals und heute sind unübersehbar, das kleine Mädchen, das Teppichmesser, es könnte der Moment sein, in dem er seinen Mord irgendwie wieder gut macht, doch es wird der Moment, in dem die Medienöffentlichkeit ihn endgültig verurteilt. Hier achtet der Film vielleicht etwas zu sehr auf die Form, es gibt zu deutliche Verbindungen zwischen den Orten der Gewalt, zu viele wiederkehrende Elemente bei den Wechseln der Zeitebenen. Es mag etwas zu offensichtlich sein, wo der Film hingeht. Doch wie Andrew Garfield die schwierige Rolle meistert, fesselt zusätzlich. Eindrucksvoll auch die seltsame Figur des väterlichen Bewährungshelfers Terry.

Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob eine Rehabilitation möglich ist. Jack ringt nicht mit sich in einem Kampf wie ihn Jürgen Vogel als getriebener Vergewaltiger in „Der freie Wille“ verkörperte. Das innere Drama bleibt seltsam wenig ausgeleuchtet, der Film hat seiner Figur von Anfang an vergeben.

Star Trek 11


USA 2009 (Star Trek) Regie: J.J. Abrams mit Chris Pine, Simon Pegg, Eric Bana, Winona Ryder, Zachary Quinto, Zoë Saldana, Leonard Nimoy 126 Min.

Der elfte Star Trek-Film geht zurück in die Vergangenheit, rückt dort alles zurecht und macht es richtig. Dreißig Jahre nach dem ersten Spielfilm und sogar 43 Jahre nach dem Star der TV-Serie „Raumschiff Enterprise“ wird die TV- und Kino-Legende von Gene Roddenberry mit frechem Schwung in die nächste Generation beschleunigt. Und der kühle Vulkanier Spock in die Arme einer heißen Beziehung katapultiert. Verantwortlich auf der Brücke ist J.J. Abrams, Autor, Produzent und auch Regisseur von „Alias“ und „Lost“.
    
„Star Trek 11“ ist direkt zum Auftakt ein echter Knaller: Inmitten einer überwältigenden Weltraum-Schlacht ereignet sich eine tragische Familiengeschichte, die sich als Geburt einer legendären Kinofigur fortschreiben wird. Aus dem Nichts, aus einem schwarzen Loch heraus vernichtet ein futuristisches romulanisches Raumschiff das Sternenflotten-Schiff Kelvin. Dessen Kapitän Kirk kann durch seinen heldenhaften Einsatz hunderte Leben retten. Es ist allerdings nicht der bekannte, von William Shattner gespielte Original James T. Kirk sondern dessen Vater.

Der junge Kirk (Chris Pine) gibt dann bald als jugendlicher Rebell mit Lederjacke und Motorrad Gas. Spock ist derweil der Musterschüler, der sich gegen die rassistische Vulkanier-Elite und für seine Erdenmutter (Winona Rider) entscheidet. So erlebt man mit, wie die Crew zusammengeschweißt wird, die dann als Haufen von Teenagern und Studenten auf Sternen-Reise geschickt wird. Eine Truppe origineller Individuen mit Ecken und Kanten, die sich zur bekannten TV- und Kino-Besatzung der Enterprise zusammenfinden muss. Die Balance zwischen eigenständigen Charakteren und den vielen Momenten des Wiedererkennens bleibt gewahrt. Auch hier vermeidet der rückwärtsgerichtete „Star Trek 11“ es, nur Aufzuwärmen und nur Vorspiel zu Altbekannten zu sein.

Ein rachsüchtiger Romulaner namens Nero (Eric Bana) sorgt mit seinem Hass für die zerstörerische Handlungsdynamik. Nach zwei Begegnungen, bei denen nicht nur fast eine ganze Sternenflotte draufgeht, sondern auch der Heimatplanet der Vulkanier vernichtet wird, gilt es den raffinierten Zerstörungsplan der Romulaner zu stoppen. Das Problem dabei: Die Feinde kommen aus der Zukunft und sind mit ihrer überlegenen Technologie scheinbar unschlagbar.

Hier sind dann die Qualitäten von James T. Kirk gefragt, der gerne mal das Unerwartete macht und das Unmögliche wagt. Der Sprung in den Abgrund ist das Leit-Motiv für diese Figur, die dem Original-Kirk von William Shattner in vielen Wesenszügen durchaus ähnelt. Überhaupt ist eine gute Schauspielerwahl zu notieren. Simon Pegg („Run Fatboy Run“, „Hot Fuzz“) erweist sich als Scotty als ein humoristischer Glücksgriff. Auch beim Dr Mac Coy, der mit Spitznamen „ Bones“ (auf schlecht deutsch „Pille“) heißt, macht Wiedersehen direkt Freude.

Für die Insider liefert der neue „Star Trek“ viele Varianten und Zusatzinformationen zum bisherigen „Star Trek“-Universum: So erfahren wir nicht nur von Spocks Gefühlen, sondern auch von seiner Beziehung zu Ohura. Die Ironie, die in vielen Kino-Folgen mit der wahrlich alten Besatzung oft der Hauptantrieb war, wurde gedrosselt. Es geht jetzt bis hin zur Musik in vieler Hinsicht dynamischer, energischer zu.

Dass J.J. Abrams nicht nur als Produzent sondern auch als Regisseur und Ko-Autor aktiv wurde, tut dem Film auf allen Ebenen gut. Die gewagten Zeitsprünge gelingen als Punktlandungen, ebenso  der Spagat zwischen den Erwartungen der alten „Trekkies“ und einer jungen Generation, die zum Überleben des Star Trek-Tradition dringend gewonnen werden muss. Abrams ist als Autor, Produzent und auch Regisseur ein Wunderkind: Von „Armageddon“, „Mission Impossible III“ und „Cloverfield“ heißen einige seiner Kino-Meriten, im Fernsehen setzte er mit „Alias“, „Lost“ und „Fringe“ neue Maßstäbe.

So geht die Kombination aus Tradition und Variation bis zum letzten Moment auf, wenn Leonard Nimoy nach einen großen und respektablen Auftritt im Kommentar den legendären Satz von den „Unendlichen Weiten“ anstimmt.