28.5.08

Interview


USA, Kanada, Niederlande 2007 (Interview) Regie: Steve Buscemi mit Sienna Miller, Steve Buscemi, Michael Buscemi, Tara Elders 84 Min.

Der arrogante Polit-Journalist Pierre Peders (Steve Buscemi) trifft sich nur widerwillig zum Interview mit dem Soapstar Katja (Sienna Miller). Den reifen Schreiberling interessieren nicht die Äußerlichkeiten der Schauspielerin, die auch noch einst Modell war. Doch das Gespräch, das im Restaurant schon gescheitert war, nimmt nach einem kleinen Unfall in ihrem großzügigen Loft wieder Fahrt auf und entwickelt sich zum heftigen emotionalen Schlagabtausch.

Bei beiden wechseln sich Interesse und Abneigung ab. Es beginnt ein Spiel mit Verführung, bei dem beide verlieren - an Achtung und an Menschlichkeit. Immer wieder werden dem anderen intime Geständnisse entgegen gebracht. Von den Grauen der Kriegsberichterstattung. Von einer schweren Krebserkrankung. War wahr ist, bleibt offen. Heftig verletzend zerfleischen sie ihre einsamen und suchenden Seelen. Rücksichtslos, hinterhältig, zynisch, voller Aggressionen - aber dann zeigen sie immer wieder Interesse aneinander. Meist jedoch mit der falschen Reaktion des jeweils anderen.

Der bekannte Schauspieler Steve Buscemi verfilmte mit sich selbst uneitel in der Hauptrolle einen niederländischen Film neu. Der Regisseur des „Interview“ von damals hieß Theo van Gogh und wurde 2004 Opfer eines politischen Mordes. Vom niederländischen Provokateur stammt die Aggressivität, die Härte im Umgang der Personen. Buscemi macht aus dem Kammerspiel ein fesselndes und erschreckendes Drama.

27.5.08

Funny Games U.S.


USA, Frankreich, GB, Ö, BRD, I 2007 (Funny Games U.S.) Regie: Michael Haneke mit Naomi Watts, Tim Roth, Brady Corbet, Michael Pitt, Devon Gearhart 112 Min. FSK ab 18

Schon das Original aus dem Jahre 1997 war ein komplexes, raffiniertes, aber auch erschütterndes und verstörendes Spiel mit der Gewalt (-darstellung). Dabei wollte der Österreicher Haneke diesen Film eigentlich schon immer in Englisch drehen. So folgt nun konsequent ein sehr identisches Remake. Selten traf der Name besser zu, als bei dieser Eins-zu-Eins-Neuverfilmung. Nur die Schauspieler wurden ausgetauscht, die sind nach Haneke allerdings auch tatsächlich austauschbar.

Und gerade diese dreiste Weigerung zur Modernisierung erlaubt einen spannenden Vergleich zum Stand der Gewalt, beziehungsweise zum Stand der Gewaltrezeption im fiktionalen Film. 1997 sagte Haneke: „Ich versuche Wege zu finden, um Gewalt als das darzustellen, was sie immer ist - als nicht konsumierbar. Ich gebe der Gewalt zurück, was sie ist: Schmerz, eine Verletzung anderer."

Ein Familie fährt in Urlaub, alles ganz normal, außer dass ihr Urlaubshäuschen anderswo als üppige Villa durchgehen würde. In den Alltag mit nervigen Details und Routinen brechen zwei schleimig freundliche Jungens mit weißen Handschuhen ein, die irgendwann den Spaß an der latenten Gewalt verlieren und die Familie in ihrem eigenen Ferienhaus kidnappen. Sie kann noch bis zum Morgen überleben - wenn sie sich gut benimmt.

Trotz des Aufkommens einer ganzen Plage von Gewaltfilmen wie „Saw“ und „Hostel“ bleibt „Funny Games“ alles andere als lustig. Hanekes Spiel besteht darin, dass er Ernst macht und seinen Zuschauern keinen Ausweg, keine Scherze, keine musikalische Ablenkung, keine einfache Lösung erlaubt. Dabei ist der Film alles andere als Realismus: Er spult sich selbst einmal zurück - gerade als etwas Hoffnung auf konventionelle Gerechtigkeit aufkommt. Die Akteure sprechen in die Kamera, direkt zum Zuschauer, der schon lässt mitgefangen ist in diesem Spiel. So funktioniert „Funny Games“ als Erstlings- oder als Wiederholungstat gleichermaßen.

Things we lost in the Fire


USA 2007 (Things We Lost in the Fire) Regie: Susanne Bier mit Benicio Del Toro, Halle Berry, David Duchovny 117 Min. FSK: ab 12

Gleich zwei Beispiele von kulturellem Anti-Imperialismus zeigen diese Woche, wie europäische Autoren doch in US-Produktionen überleben können. „Funny Games U.S.“ vom Österreicher Haneke und „Things we lost in the Fire“ der Dänin Susanne Bier. Selten gelingt der Übertritt in die USA so perfekt wie in ihrem Hollywood-Debüt. "Nach der Hochzeit" nun ein Melodram über Abschied und Trauer, bei dem Buch, Inszenierung und Schauspiel einheitlich in bester Form daherkommen.

„Things we lost in the Fire“ beginnt mitten im Abschied: Im Szenenwechsel sehen wir Steven Burke (David Duchovny) mit seinen Kindern und dann schon die trauernde Familie. Steve starb, als er eine Frau vor ihrem gewalttätigen Mann schützen wollte. Nun versucht seine Frau Audreys (Halle Berry, "Monster's Ball") mit den drei Kindern und der Trauer weiter zu leben. Dabei lernt sie den heruntergekommenen Junkie Jerry (Benicio Del Toro) kennen.

Jerry war immer der beste Freund Stevens und ein rotes Tuch für Audreys. Nun scheint der Drogensüchtige entgegen allen Anscheins eine Lücke ausfüllen zu können. Die Witwe bietet ihm ein Zimmer und und die Chance einer Entziehungskur an. Jerry versteht sich auf Anhieb hervorragend mit den Kindern, wird sehr schnell als Ersatz für den Vater angesehen. Zu schnell für Audrey, die nun Erstaunen und Eifersucht bewältigen muss.

Es mag sich vielleicht so anhören, doch „Things we lost in the Fire“ entwickelt sich zum Glück nicht zur Romantischen Schmonzette mit Happy End. Auch wenn sich hier Menschen mit ihren Leeren und Sehnsüchten finden und ergänzen, wenn manchmal die richtige Hand gereicht wird, sich ein Arm findet, der vor Einsamkeit schützt, werden die großen Schmerzen nicht von leichtfertigen Drehbuchlösungen in ihrer Wahrhaftigkeit geschmälert. Ganz wie bei Atom Egoyans „Adjuster“ ist hier das Feuer im Filmtitel eine Metapher für wahre Verluste, die nicht die materiellen sind. Susanne Bier erzählt eine ganz spezielle Geschichte, die doch offen für Anknüpfungen eigener Lebenssituationen ist. Das ist das Geheimnis eines Films, der im Herzen ankommt - und hoffentlich auch an der Kinokasse.

Benicio Del Toro ("Traffic - Die Macht des Kartells"), gerade in Cannes mit seiner Rolle des „Che“ als Bester Schauspieler ausgezeichnet, glänzt als Jerry mit einer faszinierenden Mischung aus emotionaler Weisheit und eigener Hilflosigkeit. Die ehemalige Dogma-Regisseurin Bier lässt unauffällig aus der Hand (Kamera Tom Stern) filmen. Ohne Manierismen kommt sie den Figuren nahe. Der elegante Fluss der Zeitebenen folgt einer eher einer emotionalen Logik als klassischer Chronologie. Doch im Gegensatz zur dänischen Dogma-Welle, die mit strengen Spielregeln arbeitete, fällt Stil hier nicht auf. Er funktioniert ausgewogen im positiven Sinne.

The Eye


USA 2007 (The Eye) Regie: David Moreau, Xavier Palud mit    Jessica Alba, Alessandro Nivola, Parker Posey, Rade Serbedzija 98 Min.

Subjektive Perspektive ins Extreme getrieben, führt in den Wahnsinn oder zum Horrorfilm: Die junge Violinistin Sydney Wells (Jessica Alba) ist seit ihrem fünften Lebensjahr erblindet. Nach einer Netzhauttransplantation sieht sie zuerst in Schemen, dann immer klarer. Doch ihr zweiter Blick bringt auch ein zweites Gesicht mit sich. Wie jüngst bei Meirelles mit seiner Cannes-Eröffnung „Blindness“ (Blindheit) nähern sich unscharfe Gestalten aus einem milchigen Lichtmeer. Und sie sehen selten nett aus, sind verwundet oder stehen in Flammen. Es sind Tote, die Sydney erscheinen. Dabei bleibt es nicht bei Visionen - die Horror-Vorstellungen hinterlassen Abdrücke und Narben in der realen Welt. Die Ärzte halten Sydney für verrückt. Erst als ihr im Spiegel eine fremde Frau entgegenblickt, ahnt die Verfolgte, wo die Lösung der geheimnisvollen Erscheinungen liegt.

Als Gruselfan braucht man keinen sechsten Sinn zu haben, um die Verwandtschaft zu anderen Filmen, die einen Blick ins Totenreich wagen, zu erahnen. Auch wenn „The Eye“ sich oft einfacher Schreckmittel bedient, hat das schreckliche Remake doch seinen Reiz. Auch dieser Horror wurde inspiriert von einem gleichnamigen asiatischen Vorbild (Regie: Oxide und Danny Pang, 2002). Zwar beeindruckt das Spiel von Jessica Alba nicht besonders, doch die trickreichen Auftritte des Übersinnlichen lassen mit aufgerissenen Augen erschaudern.

22.5.08

Cannes - Ende gut, alles gut?


Cannes. Ende gut, alles gut? Zumindest bei einigen Filmen im Wettbewerb reißt ein gelungenes Finale das Werk noch aus dem Mittelfeld des mäßigen Interesses. So bleibt zwei Tage vor Ende des Rennens um die Goldene Palme die Hoffnung auf eine Festivaldramaturgie mit perfektem Abschluss.

Festivaldirektor Thierry Frémaux meinte, er hätte noch nie so lange auf die großen Namen warten müssen und am Schluss wären einige noch überraschend in letzter Minute hinzugekommen. So konnten aber auch viele relative Unbekannte im Wettbewerb starten. Dass dieser dann frustrierend ausfiel, lag eher an Themen wie Krieg, Kindesentführung, Mord, Gewalt und der fast vollständigen Abwesenheit von Komödiantischem. Es fehlten aber auch die großen Sensationen, die alle begeistern konnten.

Sowohl des Türken Nuri Bilge Ceylans Familiendrama „Drei Affen“ als auch das brasilianische Gegenstück „Linha de Passe von Walter Salles und Daniela Thomas wurden erst in den letzten Minuten richtig „rund“. Selbst der äußerst durchschnittliche James Gray „Two Lovers“ mit einem fehlbesetzten Joaquin Phoenix als unsicheres Jüngelchen zwischen zwei Frauen, hat wenigstens ein originelles Ende. Clint Eastwoods Drama „Exchange“ um eine allein erziehende Mutter (Angelina Jolie), der die korrupte Polizei nach einer Kindesentführung ein falsches Kind unterschieben will, funktioniert und rührt, wird ganz sicher Kasse machen, ist aber in Sachen Vielschichtigkeit und sensible Darstellung ein recht schwacher Eastwood.

Bleibt die Schuld-Frage. Sie kann nicht ausbleiben in katholisch geprägten Kulturen, wie der Brite Terence Davies („Distant Voices - Still Lifes“) in seinem Meisterwerk „Of Time and City“, der nostalgischen Abrechung eines Lebens im katholischen Liverpool, anklagt. Wie verarbeitet es die junge Albanerin Lorna, dass wegen eines Deals mit zwei Scheinehen ein junger Junkie todgespritzt wird? Die Lütticher Brüder Dardenne lassen der verstörten Frau am Ende eine Scheinschwangerschaft in einem unrealistischen Märchenwald. Hier erfüllt sich der Titel „Das Schweigen von Lorna“. Wie ergeht es einer reichen Argentinierin, die weiß, dass sie einen Menschen überfahren hat, auch wenn die Umgebung ihr versichert, es war nur ein Hund? Lucrecia Martel („La Cienaga“), hypnotisiert die Zuschauer mit diesem Zustand in „La Mujer sin cabeza“. Sie wurde dafür von Arthouse-Cineasten genauso geliebt, wie der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó („Johanna“) für sein kontemplatives „Delta“. Die Geschichte einer Geschwisterliebe in grausam debiler Dorfumgebung wäre in zehn Minuten erzählt. Der Rest ist das wunderschöne, fast paradiesische Erbauung eines schier endlosen Steges und eines Pfahl-Hauses, das auch Tarkowskij gefallen hätte.

Kein gutes Ende nimmt es mit Che. Der Revolutionsführer Ernesto „Che“ Guevara, befreite an der Seite von Fidel Castro Kuba, scheiterte aber bei dem Versuch, das Regime Boliviens zu stürzen. Genau diese beiden Zeiten im Leben des argentinischen Arztes, Freiheitskämpfers, Politikers und Idols schildert Steven Soderbergh in dem zwei Teilen seiner viereinhalbstündigen Epos „Che“. Soderbergh beherrscht sein Metier als Autor, Regisseur und Kameramann derart, dass er sogar mit der Verfilmung eines Telefonbuchs einen Oscar gewinnen könnte. Nun ist das Leben von Che ereignisreich genug, aber der unabhängige amerikanische Regisseur vermeidet jedes Klischee, zeigt Guerilla-Kampf als harte Arbeit, als Dschungelcamp mit Schule, Arzt und strenger Disziplin. In diesem packenden Kampf gegen den US-Imperialismus (auch der Bilder) wird gänzlich auf „Action“ verzichtet und trotzdem ist jede Minute hochspannend. Benicio del Toro wird in jeder Faser zu Che. Was Franka Potente und Matt Damon in diesem spanisch-sprachigen Film zu suchen haben, muss in der Abteilung Insider-Scherze geklärt werden. Wer als letzter lacht, wird sich Samstag Abend entscheiden, dann steigt mit der Preisverleihung der letzte Akt der 61. Filmfestspiele von Cannes. Ende gut, alles gut?

20.5.08

Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels


USA 2008 (Indiana Jones And The Kingdom Of The Crystal Skull) Regie: Steven Spielberg mit Harrison Ford, Shia Labboeouf, Cate Blanchett 125 Min. FSK ab 12


Indy trifft „E.T.“

Steven Spielbergs „Ford-Setzung“ von Indiana Jones

Was haben Archäologen und Hollywood gemein? Sie graben alte Schätze aus. Doch der vierte Indiana Jones ist tatsächlich mal eine Fortsetzung, auf die die (Film-) Welt gewartet hat. Wie sehr, zeigen auf dem Filmmarkt von Cannes Billig-Titel wie „Jack Hunter and the Lost Treasure of Ugarit“ und „Jack Hunter and the Quest for Akhenaten’s Tomb“ aus der völlig unbekannten „Jack Hunter-Trilogie“.

Allerdings lässt sich drüber streiten, welcher Erfolg von Steven Spielberg nun fortgesetzt wurde: „Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels“ oder „E.T. 2“? Denn eigentlich hilft ein kleiner Junge einem Außerirdischen (Extra Terrestrian) wieder nach Hause zu kommen. Doch am Anfang kullert Harrison Ford als Indiana Jones aus dem Kofferraum, beschwert sich etwas über sein Alter und dann wird wie vor Jahrzehnten wieder nach obskuren Artefakten gesucht. Russen rauben 1957, mitten im kalten Krieg, eine heiße Kiste ausgerechnet aus einem Bomben-Testgelände in Nevada. Dass der Hobby-Archäologe Indiana Jones (Harrison Ford) auch noch im hohen Alter die Explosion einer Atombombe in einem Kühlschrank überlebt, ist nur der erste von vielen unglaublichen Fällen.

Nach 19 Jahren leistet sich der ältere Herr Harrison Ford in einem fort ein Wettrennen mit kommunistischen Bösewichtern. Für die Jüngeren unter uns: Harrison Ford war einst einer der beliebtesten US-Schauspieler und sah aus wie der junge Pilot aus „Star Wars“. Und Kommunismus war der Vorläufer von Terrorismus und Islamismus in Sachen internationales Schreckgespenst.

Nun jagt Jones also der herrlich klischeehaft russischen Wissenschaftlerin Irina (Cate Blanchett mit schwarzem Haar) hinterher, unterstützt von seiner Familie samt bislang unbekanntem Sohnemann Mutt (Shia Labbeouf), der unübersehbar das Talent zum Abenteurer geerbt hat. Autor David Koepp schrieb für eine unterhaltsame Geschichte mit dem altbekannten Rennen und Rätseln, unterbrochen von ein paar komischen Momenten. Wobei die Betonung auf alt und bekannt liegt - Filme dieser Art sind mittlerweile wesentlich schneller, die Aktion schlägt raffinierter choreographiert ein und im Vergleich zu „Da Vinci Code“ ist dieses Rätseln Kinderkram. Die vielen Gewölbe und Katakomben, in denen sich Skelette und Spinnen tummeln, verbreiten den Moder-Geruch von Filmstudios. Steven Spielberg bekannte einst, dass es nur zwei grandiose Szenen in einem Film braucht. Diesmal platziert er ein lang rasendes Auto-, Degen-, Schieß- und Ameisenduell in den Amazonas-Dschungel. Das Finale hebt schließlich völlig ab - anders als erwartet.

Denn während man kleinlich nach Alterserscheinungen sucht - die auch reichlich zu finden sind - erlaubt sich Steven Spielberg einen gewaltigen Zeitsprung. Jones findet nicht nur einen neuen sagenhaften Goldschatz und eine komplette Familie im Happy End, er findet auch Kollegen aus dem Weltall, intergalaktische Aliens. Damit gelingt ihm zumindest ein guter Gag.

Gutes aus deutschen Landen frisch auf die Cannes-Leinwand


„Ich war hier von den Düsseldorfern, Nordrhein-Westfalen und Deutschen am öftesten!“ (Wim Wenders)

Cannes. Der Montag gilt traditionell als der „deutsche Tag“ in Cannes. Für die Deutschen wohlgemerkt und vielleicht für ein paar der anderen hundert Gäste, die für den exklusiven Empfang der Filmexport-Vereinigung „German Films“ in der Villa Babylone eine Einladung ergattern konnten. Kulturstaatsminister Neumann war dort ebenso vertreten wie zahlreiche Regisseure und Schauspieler, unter ihnen Wim Wenders und seine Frau Donata. Der Palmen-Sieger und deutsche Rekordteilnehmer traf bereits am Nachmittag den NRW-Minister für Medien und Europa, Andreas Krautscheid. Nicht zufällig, wurde doch Wenders neuer Film "Palermo Shooting" - sein erster deutscher nach Jahrzehnten - mit Unterstützung der Filmstiftung NRW unter anderem in Düsseldorf gedreht. So konnte Michael Schmid-Ospach, der Geschäftsführer der Filmstiftung NRW, den auf dem Filmparkett frischen Minister nicht nur erstmals in Cannes begrüßen, sondern ihm auch mit Wim Wenders einen alten Cannes-Hasen als Begleiter zur Seite stellen, der sich weiterhin nicht nur mit ausgefallenen Modekreationen originell der allgemeinen Uniformität widersetzt.

Wenders nutzte die Gelegenheit, um den Neuling sehr pointiert zu begrüßen und „aufzuklären“: Es sei im Prinzip alles so wie in der Altstadt von Düsseldorf oder Köln: „Es ist viel los und eine Stunde später ist alles außer Rand und Band. Nur dass hier viel mehr Medien sind.“ Ansonsten genoss Wim Wenders einfach das Festival, weil sein Film erst am Samstag im Wettbewerb zu sehen sein wird. „Das Beste kommt zum Schluss“. Er könne „freundlich die Journalisten begrüßen, weil es hat noch niemand was gegen mich.“ Zwar bleibt keine Zeit zum Schwimmen - „baden gegangen bin ich in Cannes oft genug“ - aber er möchte dem Cannes-Neuling empfehlen, vielleicht auch einen Film zu sehen.

Sehr positiv macht der deutsche Film im Gegensatz zu früher nicht nur mit viel an Hollywood verschenktem Geld („stupid German money“) von sich reden. Während man „Das Fremde in mir“, die karge Studie postnataler Depressionen der jungen DFFB-Studentin Emily Atef, als „das beste Argument gegen Kinder seit ‚Rosemarys Baby’“ in die übervolle Schublade „Depressiv“ steckte, erhielt „Wolke 9“ von Andreas Dresen in allen Vorstellungen stehenden Applaus bei herzergreifenden Szenen mit dem Team. Nach „Halbe Treppe“ und „Sommer vorm Balkon“ erzählt die schöne Sensation im „Certain Regard“ von der Liebesgeschichte zwischen Inge und Werner. Sie fallen übereinander her, treiben es heftig auf Teppichboden und Matratze. Inge wird daraufhin Karl verlassen müssen - kennt man, keine Sensation. Wäre Inge nicht schon über Sechzig und ihre Männer noch ein Jahrzehnt älter, wäre „Wolke 9“ ein Liebesfilm mit einem vielleicht zu dramatischen Ende. Ein erotischer Film mit viel nackter Haut - und mit dieser Aussage lässt sich immer vortrefflich eine heftige Diskussion auslösen. Einige Kollegen meinten, sie mussten wegschauen, beim Anblick nackter alter Körper, die schön leidenschaftlich miteinander schlafen. Wie weit ist der perverse Jugendwahn schon in die Köpfe gedrungen, wenn Alter als unerträglich angesehen wird? Wenn Gewalt und Folter hingegen alltäglich konsumiert werden?

Voller Erotik steckt auch der neue Woody Allen: „Vicky Cristina Barcelona“ - überraschend gut und spritzig. Mit Scarlett Johansson als Salz in der scharf kochenden Liebessuppe von Javier Bardem und Penelope Cruz lotet der alte New Yorker noch einmal reizend und durchaus mit ernstem Hintersinn Varianten von Liebe und Sexualität aus. Die Abgründe einer einfachen Familie erforscht der geniale türkische Fotograf und Regisseur Nuri Bilge Ceylan in seinem vierten Film: Nach den ausgezeichneten „Uzak“ und „Iklimler“ schafft es „Üç Maymun“ (die „Drei Affen“, die nichts hören, sehen, sagen), in einem großen Finale die Geschichte einer kommunikationslosen Familie raffiniert und psychologisch stimmig zusammenzuführen. Dieser stillere Film (mit großartigen Schauspielern) wirkt jeodch nicht auf Anhieb, braucht vielleicht etwas mehr Bedenkzeit als nur bis zum nächsten Film im Bilderreigen von Cannes.

Ob es mit der dritten Palme für die Lütticher Brüder Dardenne hinhaut, ist nach „Le silence de Lorna“ offen: Die Geschichte einer Albanerin, die über zwei Scheinehen und einen Mord zu belgischer Staatsbürgerschaft und Geld für einen Imbiss kommen will, fesselt dank toller Darsteller und überrascht mit einer neuen Form, in der Schuld zur Welt kommen will. Doch im Wettbewerb blieb der stehende Applaus bislang aus.

18.5.08

Steven Spielbergs „Ford-Setzung“ von Indiana Jones in Cannes

Indy trifft „E.T.“

„Indiana Jones And The Kingdom Of The Crystal Skull“

Cannes. Was haben Archäologen und Hollywood gemein? Sie graben alte Schätze aus. Doch der vierte Indiana Jones ist tatsächlich mal eine Fortsetzung, auf die die (Film-) Welt gewartet hat. Wie sehr, zeigen auf dem Filmmarkt von Cannes Billig-Titel wie „Jack Hunter and the Lost Treasure of Ugarit“ und „Jack Hunter and the Quest for Akhenaten’s Tomb“ aus der völlig unbekannten „Jack Hunter-Trilogie“. Sowie die Fans auf der Croisette, die schon am Morgen die Titelmelodie a capella sangen und auch im Kino für Kindergeburtstags-Stimmung sorgten. Selbst das Wetter machte eine Regenpause für diesen Popcorn-Tag in Cannes.


Allerdings unterlief dem Festival ein Druckfehler: „Indiana Jones And The Kingdom Of The Crystal Skull“ heißt eigentlich „E.T. 2“. Ein kleiner Junge hilft einem Außerirdischen (Extra Terrestrian) wieder nach Hause zu kommen. Doch am Anfang wird wie vor Jahrzehnten wieder nach obskuren Artefakten gesucht. Russen rauben 1957, mitten im kalten Krieg, eine heiße Kiste ausgerechnet aus einem Bomben-Testgelände in Nevada. Dass der Hobby-Archäologe Indiana Jones (Harrison Ford) auch noch im hohen Alter die Explosion einer Atombombe in einem Kühlschrank überlebt, ist nur der erste von vielen unglaublichen Fällen.

Nach 19 Jahren leistet sich der ältere Herr Harrison Ford in einem fort ein Wettrennen mit kommunistischen Bösewichtern. Für die Jüngeren unter uns: Harrison Ford war einst einer der beliebtesten US-Schauspieler und sah aus wie der junge Pilot aus „Star Wars“. Und Kommunismus war der Vorläufer von Terrorismus und Islamismus in Sachen internationales Schreckgespenst.

Nun jagt Jones also der herrlich klischeehaft russischen Wissenschaftlerin Irina (Cate Blanchett mit schwarzem Haar) hinterher, unterstützt von seiner Familie samt bislang unbekanntem Sohnemann Mutt (Shia Labbeouf), der unübersehbar das Talent zum Abenteurer geerbt hat. Autor David Koepp sorgte für eine unterhaltsame Geschichte mit dem altbekannten Rennen und Rätseln, unterbrochen von ein paar komischen Momenten. Wobei die Betonung auf alt und bekannt liegt - Filme dieser Art sind mittlerweile wesentlich schneller, die Aktion schlägt raffinierter choreographiert ein und im Vergleich zu „Da Vinci Code“ ist dieses Rätseln Kinderkram. Die vielen Gewölbe und Katakomben, in denen sich Skelette und Spinnen tummeln, verbreiten den Moder-Geruch von Filmstudios. Steven Spielberg bekannte einst, dass es nur zwei grandiose Szenen in einem Film braucht. Diesmal platziert er ein lang rasendes Auto-, Degen-, Schieß- und Ameisenduell in den Amazonas-Dschungel. Das Finale hebt schließlich völlig ab - anders als erwartet.

Denn während man kleinlich nach Alterserscheinungen sucht - die auch reichlich zu finden sind - erlaubt sich Steven Spielberg einen gewaltigen Zeitsprung. Jones findet nicht nur einen neuen sagenhaften Goldschatz und eine komplette Familie im Happy End, er findet auch Kollegen aus dem Weltall, intergalaktische Aliens. Hier verbindet sich Indy mit „E.T.“ und dieser Coup lässt einen schließlich doch staunen und schmunzeln.

Das Ende von Cannes vor 40 Jahren

Das Ende von Cannes vor 40 Jahren und die Geburt der „Quinzaine“

Cannes. 40 Jahre nach „68“ gedenkt Cannes seines turbulentesten Festivals im Mai 1968. Und feiert das Jubiläum eines Neuanfangs mit der jungen, unabhängigen Nebensektion „Quinzaine des réalisateurs“.

Am 10. Mai 1968 startete das 21. Festival von Cannes mit dem grandiosen „Vom Winde verweht“. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, dass in diesem Jahr das Festival selbst von einem Sturm der Veränderung weggefegt werden sollte. Am 13. Mai wurde im ganzen Land der Generalstreik ausgerufen, in Cannes streikten die Vorführer - vorläufig, wie man dachte. Doch dann gab es die historische Pressekonferenz am 18. Mai, die Beginn einer neuen Filmströmung, der Nouvelle Vague, werden sollte. Der junge François Truffaut, dessen Akkreditierung als zu kritischer Journalist abgelehnt wurde, kam aus Paris. Dort protestierten Filmemacher gegen die Absetzung von Henri Langlois, dem Direktor der Cinemathek, und gegen den Gaullismus. Jean-Luc Godard und Louis Malle sind bei der Versammlung mit dabei, fordern die Absetzung der Jury. Roman Polanski stimmt nach einigem Zögern zu. Regisseure wie Milos Forman, Alain Resnais und Carlos Saura ziehen ihre Filme aus dem Wettbewerb zurück. Als Sauras „Peppermint Frappé“ doch anläuft, gibt es Schlägereien im Saal. Am nächsten Tag erklärt die Festivalleitung die Absage. Die Gäste wollen abreisen, doch der Generalstreik hat alle Züge und Flugzeuge gestoppt.

Ein Jahr später wird Truffaut mit „Sie küssten und sie schlugen ihn“ eine triumphale Rückkehr erleben und die Goldene Palme gewinnen. Die „Sociéte des Réalisateurs de Films“, ein Verband der Filmemacher, startet die Sektion „Quinzaine des réalisateurs“, in der seither Martin Scorsese, Spike Lee, Jim Jarmusch oder die Dardenne-Brüder entdeckt wurden. Die „Quinzaine“ ist die Cannes-Reihe, in der das Publikum gleichrangig neben den Fachbesuchern Zutritt hat und viele meinen, hier laufen die besten Filme des Festivals. Das Festivalzentrum der „Quinzaine“ befindet sich etwas abseits vom neuen, Bunker genannten Palast in einem Hotelneubau exakt auf den Ruinen des alten Festivalpalastes. Zur 40. Ausgabe zeigt die Dokumentation „40 x 15“ historische Interviews mit Regisseuren aus der alternativen Ecke Cannes. Und auch die 1968 nicht mehr gezeigten Filme kommen zu ihren Ehren: In der Reihe „Cannes Classics“ laufen die Filme von Resnais, Forman, Saura, Delouche und andere - leicht verspätet.

15.5.08

Politische Agenda auf Cannes Rotem Teppich


Cannes. Nach den geteilten Meinungen zum Eröffnungsfilm „Blindness“ - scheinbar verläuft der Graben zwischen „unmöglich“ und „ganz interessant“ nahe der Geschlechtergrenze - zeichnen sich weitere Frontlinien einer lebendigen Diskussion zu Filmen und dem Rest der Welt ab.

Auf dem von Fans und Fotografen umjubelten Roten Stufen zum Festivalpalast glänzte zur Eröffnung vor allem Natalie Portman, während Faye Dunaway kurz vorher die Vergänglichkeit all dieser Eitelkeiten vorführte. Dennis Hopper wärmte sich für eine Pokerpartie auf, bei dem Millionen für einen guten Zweck auf dem Spiel stehen. Diese Plattform ist der Jungbrunnen eines Star-Systems, das gleich mehrere Industrien antreibt und seine Bilder von Glanz und Glamour in die ganze Welt schickt. Erfreulich an diesem Glanz von Cannes ist, dass Schein und Sein ganz gut miteinander können. Cate Blanchett zeigte ein derart kunstvolles Kleid, dass man glatt vergaß, dass diese Frau hervorragend Film spielt, engagiert auf der Bühne steht und auch noch ein Theater leitet.

Sean Penn dominierte die Pressekonferenz der Internationalen Jury. Nicht in seiner Eigenschaft als Präsident, sondern mit atemberaubendem Charisma, das er auch außerhalb der Leinwand verstrahlt. Die klassischen Fronten solcher Juryarbeit kristallisierten sich bereits am ersten Tag heraus: Sean Penn antwortete als politischer Mensch auf Fragen zu US-Wahlen und persönlichem Engagement. Der Schauspieler („Mystic River“) und Regisseur („Into the wild“) brachte sogar noch einen Wunschfilm ins Programm ein: „The third wave“ erzählt die Geschichte von vier freiwilligen Helfern bei der Tsunami-Katastrophe. Auf der anderen Seite betonte die iranische Künstlerin und Filmemacherin Marjane Satrapi, dass bei aller Politik auch die künstlerischen Qualitäten der Filme nicht vernachlässigt werden dürfen. Mit „Persepolis“, einem Animationsfilm über ihre Kindheit im Iran, gelang ihr diese Kombination mit holzschnittartigen Zeichnungen.

Zur Illustration dieses Standpunkts lief gestern im Wettbewerb der Zeichentrickfilm „Waltz with Bashir“ des Israelis Ari Folman: In erschreckend simplen und schlechten Zeichnungen erzählt, arbeitet ein israelischer Soldat sein Trauma auf und erzählt von den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila im Jahre 1982. Mit Unterstützung der israelischen Armee unter der Führung des späteren Premierministers Sharon wurden am Rande der libanesischen Metropole Beirut 3000 unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder von christlichen Falangisten ermordet. Der autobiographische Film basiert auf Interviews mit Kameraden des Regisseurs und kommt als Widersprüchlichkeit einer „animierten Dokumentation“ daher. Doch trotz des ungewöhnlichen Stiles und der ästhetischen Merkwürdigkeiten erschüttert „Waltz with Bashir“ tief. Am stärksten, als die Animation für Realbilder der Opfer und der klagenden Angehörigen Platz macht. Im Herbst kommt die israeilisch-deutsche Koproduktion auch bei uns in die Kinos. Die Frage „Politik oder Kunst?“ bleibt derweil eine schwierige und der Reiz dieses mutigen Glamourfestivals.  

14.5.08

Cannes-Eröffnungsfilm: Blindness

Cannes. „Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und sie verstehen es nicht." Dieses biblische Gleichnis bebildert Fernando Meirelles („City of God", „Der ewige Gärtner") in seinem Cannes-Eröffnungsfilm „Blindness" mit erschütternden Visionen der (Un-) Menschlichkeit, mit Bildern des Sehens und der Blindheit.

Es ist eine mit vielen großartigen Schauspielern besetzte Parabel vom Licht in die Dunkelheit und wieder zurück. Eine Geschichte, die man in dieser Form noch nicht gesehen hat. Das beginnt schon damit, dass die Blindheit nicht dunkel daherkommt, sondern gleißend weiß: „So als hätte jemand alle Lichter angeschaltet!"

 

Sobald die ersten Fälle dieser „Weißen Blindheit" auftreten, erleben wir Fürsorge und ihr Gegenteil. Das erste Opfer wird vom freundlichen Passanten nicht nach Hause gefahren, sondern des Autos beraubt und ausgesetzt. Die Frau des Augenarztes hingegen opfert sich und begleitet ihren erkrankten Mann sogar in die Isolation der Quarantäne. Auch wenn sie dafür vorgeben muss, selbst erblindet zu sein. Unter unmenschlichen Zuständen in einer alten Nervenheilanstalt werden die Blinden sich selbst überlassen und entwickeln politische Systeme, um das Chaos zu ordnen. Doch von Demokratie geht es über eine im Zimmer 3 scherzhaft eingeführte Monarchie schnell zu Diktatur und Terror. Eine Gruppe hortet die Nahrungsmittel und gibt sie nur gegen Geld, Schmuck oder Sex mit den Frauen aus.

 

Einiges ist sehr offensichtlich in dieser Parabel, die reich an Bildern und Ideen ist: Bereits in der ersten Szene hören wir die Erklärung: „Wir waren schon immer blind. Menschen, die sehen und doch nicht sehen." Dramaturgisch verläuft der Film nach den horrenden Zuständen in der Quarantäne etwas im Wohlgefallen. Und doch hat der Brasilianer Meirelles seine Parabel ums Sehen, das ja eigentlich das Fühlen, das Mitfühlen ist, nuanciert gestaltet. Die extreme Situation erlaubt Bilder von Nacktheit, Körper die befreit von den Blicken aufleben. Einige leiden daran, nicht sehen zu können, andere ertragen es nicht, nicht gesehen zu werden. Und der weise Erzähler erwähnt, dass man nun den Menschen tief drinnen, der – wie die Figuren des Films - keinen Namen trage, sehen könne. Da begegnen wir aber auch dem von Geburt an Blinden, der nun gleichgestellt, zum Wolf an seinen Mitblinden wird. Er raubt und vergewaltigt, er zahlt die Gnadenlosigkeit, die er vielleicht erfahren hat, heim.

 

Der Film hingegen verläuft gnädig. Die Reise in die Dunkelheit der menschlichen Seele endet mit einem familiären Traum – fast zu schön, um wahr zu sein. Aber auf jeden Fall verdient dieser sehenswerte Film die Ehre, ideal das Sehen und das Mitfühlen zu Beginn der Filmfestspiele von Cannes sensibilisiert zu haben.


13.5.08

Cannes 2008 Vorbericht


Cannes. Ein Filmfestival mit einem Film über Blindheit zu eröffnen, ist eine mutige Steilvorlage für die Kommentare. Aber „das“ Filmfestival überhaupt, das Festival de Cannes, erlaubt sich seit Jahren viel Mut. Heute Abend startet das 61. Filmfestival von Cannes (14. – 26. Mai) seinen Bilderreigen mit „Blindness“ des Brasilianers Fernando Meirelles.

Kostüme und Schmuck der zahllosen Promis, die in einer langen Zeremonie die Roten Stufen zum Festivalpalast empor stolzieren werden, lassen sich sicher mit „blendend“ bezeichnen. Doch das Programm ist wie die Roten und Blauen Teppiche vor den vielen Festivalkinos noch in Zellophan eingehüllt. Viele der Filme der Besten Regisseure unserer Zeit vom Westerner Eastwood bis zum Asiaten Wong Kar-Wai sind Weltpremieren und werden mit besonders viel Spannung erwartet. Von Meirelles, der 2002 mit der Sensation „City of God“ einschlug, kennt man die Geschichte einer Stadt, in der Blindheit wie eine Epidemie ausbricht. Unter den horrenden Zuständen begleitet eine Frau, die verheimlicht, dass sie noch sehen kann, ihren Mann in die Quarantäne und beobachtet den Verfall der Menschlichkeit. Auch dies ein Überblicks-Motto für viele Filme in Cannes.

In den weiteren 18 Filmen im Wettbewerb um die Goldene Palme warten Angelina Jolie und John Malkovich in Eastwoods Film „Changeling“ auf. Steven Soderbergh verfilmte das Leben des Revolutionärs Ernesto "Che" Guevara unter dem Titel "Guerilla". Charlie Kaufman („Being John Malkovich“) liefert sein Regiedebüt «Synecdoche, New York» ab, der kanadische Regisseur Atom Egoyan („Das süße Jenseits“) hofft mit „Adoration“ auf Bewunderung.


MM - die Sektionen mit dem gewissen Etwas
Realistisch betrachtet ist Cannes jedoch nicht nur ein Wettbewerb und ein Roter Teppich, Cannes besteht aus täglich hunderten Events, Vorstellungen und Aufregungen parallel, unter und über einander. Da erzählt Quentin Tarantino in einer „Masterclass“ vom Filmemachen. Steven Spielberg schickt außer Konkurrenz noch einmal Harrison Ford als „Indiana Jones“ auf antiquierte Schatzsuche. Derweil kann das Fachpublikum filmische Schätze in zahlreichen Reihen und Nebensektionen entdecken. Die Spannweite reicht von Madonna, die aus Anlass einer Anti-AIDS-Gala in Cannes sein wird, bis zu Maradona, der von Emir Kusturica porträtiert wurde.


Local Heros von Rhein und Maas
Siegreich mit Hanekes „Cache“ und Ken Loachs „The Wind that shakes the Barley“ ist die Filmstiftung NRW mit „Palermo Shooting“ nun wieder im Wettbewerb von Cannes. Gedreht wurde der neue Film von Wim Wenders unter anderem in Düsseldorf. Die internationale Koproduktion erhielt 400.000 Euro Filmförderung. Campino, der Frontmann der „Toten Hosen“ spielt einen jungen Fotografen, der in einer Lebenskrise steckt und sich auf eine Reise von Düsseldorf bis Süditalien begibt. Fatih Akin wird ebenfalls langsam ein alter Be-Cannter nicht nur in Altona sondern auch an der Cote d’ Azur: In den letzten Jahren war er entweder in einer Jury oder im Wettbewerb vertreten. Diesmal sitzt er als Präsident der Jury von „Un Certain Regard“ vor, nachdem er im vergangenen Jahr mit „Auf der anderen Seite“ den Preis für das Beste Drehbuch erhielt.

Auch aus der Region stammt das neueste Werk der Lütticher Brüder Dardenne. Die zweimaligen Cannes-Sieger („Rosetta“, „L’Enfant“) Jean-Pierre und Luc Dardenne zeigen „Le Silence de Lorna“, die Geschichte der jungen Albanerin Lorna, die in Belgien einen teuflischen Heiratsschwindel eingeht, um mit ihrem Freund eine Snackbar zu eröffnen. Die Mafia erwartet ihr Schweigen, der Film wird dagegen für viel Gesprächsstoff sorgen, denn beim Festival der großartigsten Visionäre dieser Welt haben schon künstlerisch Einäugige nichts zu suchen.

12.5.08

Ein Mann für alle Unfälle


USA 2008 (Drillbit Taylor) Regie: Steven Brill mit Owen Wilson, Leslie Mann, Danny R. McBride 102 Min. FSK: ab 12

Owen Wilson erfreute in vielen Filmen mit einem etwas abseitigen Humor. Erfreute oder irritierte, ganz nach Geschmack. Die Spannweite der Abseitigkeiten reicht von seinem männlichen Model in „Zoolander“ über die regelmäßigen Auftritte in Wes Anderson-Filmen wie zuletzt „The Darjelling Limited“. Bei „The Royal Tenenbaums“ und „Rushmore“ von Anderson schrieb er sogar mit am Drehbuch. Zwischendurch gab es aber auch immer wieder Auftritte in Klamotten, die auch Owen Wilson nicht richtig retten konnte. Siehe „In 80 Tagen um die Welt“ oder „Starsky & Hutch“.  Jetzt soll Wilson als selbsternannter Bodyguard drei drangsalierte Schul-Kids retten. Und eigentlich wäre es hier vergnüglicher, über andere Filme zu sprechen.

Produzent Judd Apatow ("Jungfrau (40), männlich, sucht...") und Drehbuchautor Seth Rogen verfilmen weiter die Leiden pickliger, pubertärer Verlierer im amerikanischen Schulsystem aus Cliquen und Kloppe. Nach "Beim ersten Mal" und "Superbad" treten wieder die drei gleichen Typen zur Highschool-Karriere an, um bereits am ersten Tag zur Zielscheibe älterer Quälgeister zu werden. Der Obdachlose Drillbit Taylor (Owen Wilson) gibt sich für ein paar Dollar als Bodyguard aus, um sich zum Schutze der Jungen wiederum als Lehrer in die Schule einzuschleichen. Am witzigsten war noch der Tag, an dem alle Penner-Kumpels von Taylor als Ersatzlehrer im Klassenraum standen, um die Brötchen aus dem Lehrerzimmer zu schnorren. Der Rest ist ermüdende Routine um Jungs, die selber den Mut finden müssen, sich zu verteidigen. Dass am Ende alles in einer Prügelei endet, ist zwangsläufig der Höhepunkt der Einfallslosigkeit.

Brügge sehen... und sterben?


Großbritannien 2008 (In Bruges) Regie: Martin McDonagh mit Colin Farrell, Brendan Gleeson, Ralph Fiennes 107 Min. FSK: ab 16

Es gehört zu den treffendsten Grundideen für einen Film, knallharte Gangster auf dem falschen Fuß zu erwischen oder sie an den falschen Ort zu verpflanzen. Beispielsweise Robert DeNiro als Mafiaboss zum Psychiater zu schicken. Oder die gnadenlosen Schurken in „Fargo“ und Co. als unfassbare Idioten bloßzustellen. Der Theaterautor Martin McDonagh schickt in seiner ersten Regie zwei irische Killer in den zeitweiligen Ruhestand - nach Brügge. Klingt skurril, ist es über weite Strecken auch, doch die Qualitäten der Figurenzeichnung und ein raffiniertes Drehbuch machen den auch tiefgründigen Mords-Spaß rund.

Gangster-Boss Harry (Ralph Fiennes) hat Probleme mit seinen Killern und schickt zu zum Untertauchen nach Brügge. Was erstmal nicht wortwörtlich gemeint ist, auch wenn das flandrische Städte-Kleinod ähnlich viele Kanäle hat wie Venedig. Ken (Brendan Gleeson) und Ray (Colin Farrell) sollen von der Bildfläche verschwinden, weil Letzterer einmal zu oft getroffen hat. „Schaut euch mal diese tolle Stadt an“, lautet der Marschbefehl des kultivierten Harry, welcher beweisen wird, dass Kulturliebe nicht automatisch moralische Festigkeit mit sich bringt.

Während der ruhige Ken begeistert die Touristen-Tour mitmacht, ist der kleine Ort Tortour für den unruhigen, unbeherrschten Ray. Der macht sich vor allem über amerikanische Touristen und kleinwüchsige Schauspieler lustig, wobei seine Empfehlung an Erste, nicht den Aussichtsturm zu erklettern, durchaus mehr als ein platter Scherz ist, wie sich in der gut gestrickten Story später zeigen wird.

Die nächsten Anweisungen aus England sagen Ken, er solle Ray umbringen. Ein einfacher Auftrag, der nach ein paar Tagen im melancholisch machenden Mittelalter-Museum Brügge schon gar nicht mehr so klar befolgt werden kann. Zum einen treibt sich Ray mit einem Filmteam rum, fällt fast auf eine Trickbetrügerin rein und prügelt sich mit irischer Dickköpfigkeit mindestens einmal am Tag. Doch während er einem kleinwüchsigen Schauspieler latente Suizidneigung andichtet, wird er selbst immer nachdenklicher. Eine ganz neue Erfahrung für Ray...

Und Ken ist von den Eindrücken der Stadt so angetan, dass er den Schießbefehl nicht befolgt. Was einen sehr wütenden Harry nach Brügge kommen lässt.

Allein die Idee, das große Finale in der Verfilmung einer apokalyptischen Hieronymus Bosch-Szenerie anzusiedeln, macht diese lustige Gangstervariante von Schuld und Sühne sehenswert. Es wird ein raffiniertes Finale und dabei hätten sie viele Filme schon mit den lakonischen Gangster-Gehabe der beiden tödlichen Helden zufrieden gegeben. Welche sanften Kerle hinter diesen harten Schalen stecken, spielen Colin Farrell („Alexander“, „Phone Booth“) und Brendan Gleeson („Harry Potter“, „The General“) vortrefflich heraus. Auch wenn ihre Killer eine ganz eigene Moral haben, ist sie eher bedenkenswert als einfach nur bedenklich.

Mein Bruder ist ein Einzelkind


Italien/Frankreich, 2007 (Mio fratello é figlio unico) Regie: Daniele Luchetti mit Elio Germano, Riccardo Scamarcio, Angela Finocchiaro, Massimo Poplizio, Diane Fleri 100 Min. FSK ab 12

Italienische Leidenschaft, italienische Geschichte(n) und großes italienisches Kino - das alles bringt der exzellente Autor und Regisseur Daniele Luchetti in seinem sensationell erfolgreichen Familiendrama „Mein Bruder ist ein Einzelkind“ zusammen.

Man nennt ihn Accio (Elio Germano), „das Ekel“, und obwohl sich der kleine Bruder einer Arbeiterfamilie in dem heruntergekommenen römischen Retorten-Vorort Latina alle Mühe gibt, diesem Spitznamen gerecht zu werden - es ist nun mal die Position, die in der Familienkonstellation übrig blieb. Der beliebte große Bruder Manrico Benassi (Riccardo Scamarcio) kämpft mitten in den Sechziger Jahren für die Rechte der Arbeiter. Die Frauen, Mütter und selbst die Schwester umschwärmen diesen Gewerkschaftshelden. Da geht Accio aus Protest erst mal in eine Klosterschule, doch der Katholizismus erfüllt zwar den Zweck der Provokation, kann aber dem widerspenstigen Jungen keinen Halt bieten. Erst bei den Faschisten, die aus der italienischen Geschichte nie richtig weg waren, fühlt er sich wohl. Und steht seinem beneideten Bruder jetzt auch politisch frontal gegenüber. Gegenüber dessen linker Freundin Francesca (Diane Fleri) vertritt Accio trotzig, wenn auch nicht wirklich überzeugt, den faschistischen Gedankenschrott. Was allerdings stimmt in dem ganzen Gehabe des kleinen Bruders ist seine Liebe zu Francesca, die bei diesem Bruderkampf Jahrzehnte überdauern wird...

Sie küssten und sie schlugen sich ... Luchetti gelingt es, um den Kern der bewegten Geschichte eines Bruderkampfes die politische Geschichte Italiens in den 60er und 70er Jahren unterhaltsam zu zeigen. In dem Bruderkrieg, im Zerfall des (Eltern-) Hauses spiegelt sich die Situation des italienischen Staates. In der Polarisierung zwischen links und konservativ ließ dieser die Sorgfaltspflicht für ein funktionierendes öffentliches Leben immer mal wieder vermissen.
Doch das Kunststück von Luchetti liegt im prallen Leben, das er auf die Leinwand bringt, in den Menschen mit Haut und Haaren, mit Leidenschaften, Zweifeln und Abgründen. Zwischendurch könnte man kurz das Gefühl bekommen, diese Geschichte ist etwas vorhersehbar. Doch die dann folgenden Wendungen bis zum Finale machen den Film nur noch größer, verstärken die Emotionen bei diesem starken und klugen Gefühlskino. Sensationell ist der beim Dreh erst 18-jährige Elio Germano, der die Seiten Accios sehr reif spielt.

Daniele Luchetti wurde am 26. Juli 1960 in Rom geboren. Seit den 1980er Jahren arbeitet Daniele Luchetti immer wieder mit seinem guten Freund Nanni Moretti zusammen. Zuerst als Schauspieler in Morettis Filmen. Dieser revanchiert sich, indem er die Hauptrolle in zwei von Luchetti Filmen übernimmt. 1988 drehte Daniele Luchetti seinen ersten eigenen Spielfilm „Domani Accadra“, der international reüssiert und für den er in seiner Heimat den „italienischen Oscar“ David di Donatello als bester neuer Regisseur gewinnt. Mit „Der Taschenträger“ (Il Portaborse, 1991) kommt Luchetti nach Cannes und erhält einen weiteren Donatello. Für „Mein Bruder ist ein Einzelkind“ gab es erneut einen Donatello als Autor des besten Drehbuchs.

9.5.08

Cinéma Sauvenière in Lüttich


Lüttich. Das anspruchsvolle Kino boomt in der Region: In Maastricht dient die Stadt dem in sechs Sälen florierenden Filmhaus Lumière eine komplett neue Spielstätte an. Und in Lüttich feierte gestern das Cinéma Sauvenière nach Jahren des Kampfes seine feierliche Eröffnung. Am Montag wird das auch architektonisch spannende Gebäude dem Publikum übergeben.

Mitten im Leben, ganz zentral am Place Xavier Neujean nahe der Oper liegen die vier Säle des neuen Cinéma Sauvenière mit seinen insgesamt 800 Plätzen. Auch mit der Architektur des Sauvenière setzt „Les Grignoux“ ein deutliches Zeichen für ein „anderes Kino, ein Kino, das für die Welt und ihre Realitäten offen ist, ein Kino, das auch Ort der Begegnung und des Austausches ist.“ Nicht nur die Filme und die Ausstattung sollten höchsten Qualitätsansprüchen genügen, auch die Räume und Ausstattungen für das Davor und Danach sollten auf dem gleichen Niveau sein. Das Foyer ist als „fünfter Saal“ offen für Ausstellungen und Konzerte (z.B. Beverly Jo Scott am 20.5.), der Garten hat den freien Himmel für Open Air-Kino.

Paten des Projektes sind die zweifachen Cannes-Sieger Jean-Pierre et Luc Dardenne aus Lüttich, die auch nächste Woche wieder einen Film im Palmen-Wettbewerb präsentieren. Als Symbol ihres beharrlichen Kampfes für das neue Kino wählten die Initiatoren einen Elefanten. Treffend, denn der Kinomarkt in Lüttich (und Belgien) wird bestimmt durch einen Monopolisten. Außer „Le Parc“ und „Churchill“ gab es in der Stadt nur Kinos des Kinepolis-Konzerns, der auch vor den Toren der wallonischen Metropole ein riesiges Multiplex betreibt. Schon im Jahr 2000 wurden 50.000 Unterschriften gesammelt, um ein Multiplex des französischen Konzerns UGC zu beschränken. Ein Jahr später begannen die Planungen für das Sauvenière. Die Zuschüsse für die 11 Millionen Euro Gesamtkosten des neuen Programmkinos stammen von der Stadt Lüttich, die das Grundstück für eine Million kaufte und Unterhalt finanziert, der französisch-sprachigen Gemeinschaft Belgiens (4 Mio) und der Europäischen Union (3,5 Mio). Denn Rest des Betrages stemmt „Les Grignoux“ über einen Kredit. Nach der Erweiterung beschäftigt die Kulturorganisation 20 feste und 30 Teilzeitmitarbeiter.

Damit Kino als Erlebnisort weiterlebt, kann ein Saal auch für Konzert oder Theater genutzt werden. Ein großes Café und eine Terrasse ergänzen das Kultur-Ensemble. Das Sauvenière ist, wie schon seine älteren Kino-Geschwister, noch ein echtes Programmkino: Eine schöne Kinozeitung und die Website informieren, welche neuen und alten Filme für die nächsten Wochen fest programmiert sind. Hinter dem Projekt steht die Organisation „Les Grignoux“, die seit Jahrzehnten mit exzellenter Programm- und Jugendarbeit die drei Churchill-Säle und das alte Einzelkino „Le Parc“ im sozial problematischen Viertel Droixhe betreibt. Hier liefen schon immer alle internationalen Filme in Originalversion und viele interessante französische Filme, die in Deutschland nie zu sehen waren.

Nachdem die Schlacht um die Zukunft des Kinos in Lüttich erfolgreich geschlagen ist, wird nun gefeiert. Ab Montag gibt es eine Woche lang Avant-Premieren, Kurzfilm-Nächte, Klassiker und Konzerte. Am 21. Mai beginnt der reguläre Kinobetrieb.


Mehr Infos:
Cinéma Sauvenière
Place Xavier Neujean, 12
4000  Liège
http://www.grignoux.be/

7.5.08

Ben X


Belgien 2007 (Ben X) Regie: Nic Balthazar mit Greg Timmermans, Laura Verlinden, Marijke Pinoy, Pol Goossen, Titus De Voogdt 94 Min. FSK    ab 12

Während ein schwer gewappneter und bewaffneter Kämpfer in einem Fantasie-Land des Computer-Spiels Archlord mit seinem Schwert für Ordnung sorgt, schafft es der Spieler Ben nicht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Online hat er den sagenhaften Level 80 erreicht, real fällt ihm jeder Schritt schwer. In seinen allmächtigen Tagträumen kann er sein, wer er will. Im Alltag kann er sich im Spiegel kaum zu einem Lachen zwingen.

Ben beobachtet die Menschen und imitiert. Weil er schon immer anders war und ein Problem hatte. Er sieht anders. Sehr exakt, aber anders. Er sieht durch Menschen hindurch und vor lauter Bäumen den Wald nicht. Mit dieser Form von Autismus wird er von den üblichen Schulidioten gehänselt und gequält, die Masse macht mit und schießt Handyfotos von der Erniedrigung. Die schier endlose Reihe von hilflosen Ärzten, schrecklichen Kindheitserinnerungen, schon beim Zuschauen unerträgliche Quälereien und nicht zu übersehenden Vorausdeutungen scheint unweigerlich auf ein tragisches Ende zuzusteuern. Oder gelingt es Bens Spielepartnerin Scarlite, den virtuellen Freund zu retten?

Der belgische Autor Nic Balthazar verarbeitete den Selbstmord eines 17-jährigen Jungen in Gent zuerst in dem Roman „Nichts war alles, was er sagte“, dann in dem Theaterstück „Nichts“. Nun fand er zwischen den Ebenen von Realfilm und Online-Game eine faszinierende Form, das eingeschlossene Wesen des Jungen zu vermitteln. Sehr schön verfließen Spielebene und Realität ineinander. So kann man zwischen erschütternden Szenen der Erniedrigung den Wunsch mitfühlen, das Leben und sich selbst mit ein paar Klicks zurechtzurücken.

Die flämische Produktion war in Belgien extrem erfolgreich und erlebte vor zwei Wochen als Beileger zur Tageszeitung „De Morgen“ wohl den größten DVD-Start des Landes.

6.5.08

Freischwimmer


BRD 2007 (Freischwimmer) Regie: Andreas Kleinert mit Frederick Lau, August Diehl, Fritzi Haberlandt 110 Min.

Rico (Frederick Lau) droht unter zu gehen - im Spott seiner Mitschüler und im Schwimmunterricht, in dem er die Tauchstrecke für den Freischwimmer-Schein nicht schafft. Der eitle Robert dagegen bleibt immer Sieger - auf der Schwimmstrecke und bei den Mädchen. Das blonde Girlie Regine Weyler (Alice Dwyer) ist seine Freundin. Doch als Robert in der Umkleidekabine der Schwimmhalle, dem stillen Rico einen Eclair klaut, verschluckt sich der Überflieger mächtig am sogenannten Liebesknochen und bleibt auf der Strecke: Das Backwerk war vergiftet. Nun sucht das malerische Dörfchen einen Mörder oder wenigstens ein Motiv. Dass eigentlich Rico Adressat des Eclair war, macht die Geschichte nicht einfacher.

„Freischwimmer“ mag auf den ersten Blick oberflächlicher Teenie-Horror sein, so ein amerikanisches Highschool-Filmchen übertragen auf ein deutsches , nach Kafka benanntes Gymnasium. Doch Grimme-Preisträger Andreas Kleinert („Verlorene Landschaft“, „Wege in die Nacht“) macht aus der Vorgabe etwas sehr Eigenes: Vor allem in Ausstattung und Atmosphäre stellt er ein Panoptikum kleinstädtischer Skurrilitäten dar. Rätselhaft ist nicht nur der Fall, auch die Bilder entwickeln ein Eigenleben, das schwer einzuordnen ist. Die besondere Leistung von Kleinert, die den Film auch in die Autoren-Reihe des letztjährigen Festivals von Venedig brachte, liegt in der Kombination unterschiedlichster Bilddimensionen. Mal ein schauerliches Wachsfiguren-Kabinett, dann wieder wirkt die Szenerie wie eine Modelleisenbahn, in Anlehnung des Hobbys vom verdächtigen Deutschlehrer Martin Wegner (August Diehl). Die Erwähnung von Tübingen als Studienstadt ist auch Verweis innerhalb des Filmgenres, denn dort siedelte Oscar-Sieger Rudnitky („Die Fälscher“) seine „Anatomie“-Schocker an. Grandios spielt Frederick Lau in der Hauptrolle des unsportlichen und durch seine Schwerhörigkeit gehandicapten Außenseiters Rico. Lau erhielt gerade den deutschen Filmpreis für seinen Part in „Die Welle“.

Nichts geht mehr


BRD 2007 (Nichts geht mehr) Regie und Buch: Florian Mischa Böder mit Susanne Bormann, Nadja Bobyleva, Oliver Bröcker, Jörg Pohl, Jean-Luc Bubert 87 Min.

Kaum raus aus dem Elternhaus wird der stille Konstantin (Jörg Pohl) von seinem wilden Bruder August    (Jean Luc Bubert) vereinnahmt. Erst gibt es Party, dann das richtige Eintauchen in den Film mit einer großartigen nächtlichen Schwimmbad-Szene. „Mach dich mal locker!“ lautet die Empfehlung des Bedenkenlosen an den Grübler. Zusammen und unterstützt von einer Menge Alkohol übermalen sie in ihrer Heimatstadt Bochum die Rotlichter von Ampeln. Was als Spaß begann, wird von den Gesetzeshütern bald als „Terror“ gesucht. August und Konstantin Bender ergeben AKB oder: Autonomes Kommando Bochum.

Nach der Flucht nach Hannover treffen sie dort auf tatendurstige Junglinke und merken, ihre Aktionen kommen richtig gut an bei den Frauen. Nun entwickelt sich ein Moment des Revoluzzertums, das auch in dem Film „Bader“ schon angespielt wurde. Dem Erfolg folgt ein Rollenwechsel: August wird zum ernsthaften Klassenkämpfer und dabei wieder irgendwie spießig, während Konrad immer mehr Spaß hat, vor allem mit seiner Freundin Marit (Nadja Bobyleva).

Florian Mischa Böder wurde 1974 in Hannover geboren. Nach einem Studium zu Drehbuch und Regie an der
Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) realisierte er preisgekrönte Kurzfilme und inszenierte Theater, unter anderem am Aachen Theater "Die Rote Zora und ihre Bande" sowie "Das Wirtshaus im Spessart". Auf seine Episode in „Die Österreichische Methode“ folgt nun „Nichts geht mehr“ als erster langer Spielfilm. Er findet (mit Kameramann Ergun Cankaya) immer wieder gute, reizvolle Bilder. Da genießt August farbverschmiert das Verkehrschaos, das er mit seinen Pinseleien verursacht hat, während Konstantin eher verdattert aus der Wäsche mit Farbflecken guckt. Wenn dann später aus den Farbflecken vom Ampelzukleistern die Farbtupfer von Gotcha oder Paintball werden, wurde auch die Thema deutlich ausgemalt: Hier spielen große Jungs (und Mädels) Widerstand. Alles ist nur ein Spiel, eine große Spaßaktion. Passend dazu drohen Mitläufer damit, jede Woche einen kapitalistischen Gartenzwerg zu exekutieren. Auch die Ideologie läuft im Leerlauf: „Ihr erzeugt einen kleinen Stillstand, um den großen zu entlarven: Nichts geht mehr.“

So ist „Nichts geht mehr“ nicht mit Filmen wie „Die fetten Jahre sind vorbei“ zu vergleichen, die ein Anliegen thematisierten. Hier geht es nicht um eine politische Position sondern um eine Nicht-Position. Dies beklagen einige Kritiken und steigen dadurch genau in die Diskussion ein, die der Film anstößt. „Nichts geht mehr“ gilt durchaus auch für eine Position des Widerstands.

Jörg Pohl erhielt für die Rolle des nachdenklichen Konstantins 2008 den Darstellerpreis beim Max Ophüls-Festival in Saarbrücken. Er wird unterstützt von einem guten Jazz-Score. Leider sind gerade die Dialoge nicht prickelnd und oft nicht überzeugend ausgespielt - erstaunlich bei einem Theatermann. Doch ansonsten zeigt Florian Mischa Böder bei seinem Debüt, dass noch eine ganze Menge geht im deutschen Film...