30.7.06

Volver


Spanien 2006 (Volver) Regie: Pedro Almodóvar mit Penélope Cruz, Carmen Maura, Lola Duenas 121 Min. FSK: ab 12
 
Pedro Almodovar verlacht Tod und Tränen
 
Pedro Almodovar kehrt in die "Macha", die vom Winde verwehte Region seiner Kindheit zurück: Er bringt nicht nur Frauen an den Rand des Tränenausbruchs, „Volver" macht Spaß, ganz tief im Herzen.
 
Volver heißt im Spanischen "zurückkehren". Und wie beim besten seiner Meisterwerke dreht sich "Alles um seine/meine Mutter": Vom Begräbnis ihrer Tante in der windzerzausten Ebene La Mancha bringt Sole (Lola Duenas) im Kofferraum des Autos den Geist der eigenen Mutter Irene (Carmen Maura) mit nach Madrid. Diese hilft fortan im illegalen Friseurladen mit und wird als Russin ausgegeben. Denn anders als im La Mancha-Dorf glaubt man in Madrid nicht an Geister. Das tut auch Soles Schwester Raimunda (Penelope Cruz) nicht, obwohl Irene besonders mit ihr noch ein Hühnchen zu rupfen hat. Allerdings hat Raimunda für diese Dinge gar keine Zeit, weil Tochter Paula gerade ihren Stiefvater erstach, der sie vergewaltigen wollte und jetzt in der Tiefkühltruhe schlummert.
 
"Volver" ist eine Komödie, in der Almodovar nach eigener Aussage erstmals ernst wurde. Denn es geht auch um den Tod, der Almodovar "in den letzten Jahren das Leben zerstört hat". Der spanische Meister schafft es, mit unfassbarer Leichtigkeit zu erzählen - von einem ganz schweren Thema. Und er zeigt eine tief berührende Menschlichkeit in seinen Figuren und seiner Sicht auf die Menschen. In diesem windgepeitschten Dorf mit der höchsten "Verrücktheits-Rate" ganz Spaniens. Mit den abergläubigen Menschen, die wie verrückt und wie Sisyphus die Grabsteine entstauben und polieren, war es als sensibler, kreativer Schwuler sicher alles andere als einfach, groß zu werden. Doch Almodovar widmet diesen katholischen Dörflerinnen nur liebevollen Humor. Männer sind hier wie auch in Madrid völlig überflüssig, frau kommt besser zurecht, wenn sie erst entsorgt sind. Die Frauen schweigen zur sexuellen Gewalt, zu den Verbrechen, sie lösen es ganz pragmatisch unter sich.
 
Mit "Volver" kehrt Almodovar zurück in die Region La Mancha, zu "seinem Dorf", zu seinen Menschen. Das Lied aus Operette "La rosa del azafran" zu Anfang des Films sang seine Mutter mit anderen Frauen beim Wäschewaschen am Fluss seiner Kindheit. Der Fluss kehrt wieder als Metapher für das Verfließen der Zeit.
 
Der Madrilene kehrt auch zurück zu seinen Schauspielerinnen Penelope Cruz ("Live Flesh", "Alles über meine Mutter") und Carmen Maura ("Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs"). Wieder dreht sich alles um die Frauen, nur nicht so überdreht wie damals - der Mann wird auch nicht jünger. Aber menschlicher: Almodovar ist eindeutig nicht gläubig, aber glaubt an das Leben und die Menschen, selbst wenn diese dem Katholizismus anhängig sind.
 
Bewährt exzellent berührt Pedro Almodovar auch diesmal und erhielt in Cannes den Drehbuch-Preis. Gleich für die ganze spanische Damenriege um Penelope Cruz, Lola Duenas und Carmen Maura gab es den Darstellerinnen-Preis - eine passende Auszeichnung für diese Hommage an Mütter und Töchter.

25.7.06

Fluch der Karibik 2


USA 2006 (The Pirates of the Caribbean: Dead Man's Chest) Regie: Gore Verbinski mit Johnny Depp, Orlando Bloom, Keira Knightley 150 Min. FSK: ab 12
 
Zwischenspiele
 
Nach dem unerwarteten Erfolg des "Fluchs der Karibik", der auf der Basis einer Freizeitpark-Attraktion entstand, entschieden sich Kassenhit-Produzent Jerry Bruckheimer und Regisseur Gore Verbinski, Teil 2 und 3 direkt hintereinander zu drehen. Genau wie es bei "Matrix", bei "Zurück in die Zukunft" und bei der kompletten Trilogie "Herr der Ringe" geschah. Damit fällte man ein grausames Urteil über Teil 2 ... er funktioniert als überfrachtete Überbrückung, enttäuscht die vorhandenen Erwartungen, um noch mehr von ihnen für das Finale hervorzukitzeln. Der Fluch solcher Konstrukte legt darin, dass der Mittelteil immer der schwächste ist.
 
Die Sensation, die Revolution des Piratenfilms, ist weiterhin Jack Sparrow (Johnny Depp), der Pirat, der einen Vogel hat. Konstant zwischen Affektiert-, Alkoholisiert- und Albernheit schwankend, mal eigensinnig die Freunde verratend, dann wieder als Retter einspringend, ist dieser verrückte Kapitän das Herz der Trilogie. Diesmal wird er unter anderem zum knackigsten Schaschlik-Spießchen der Filmgeschichte und zu Fischfutter.
 
Die unübersichtliche Handlung sucht nach einer Schatzkiste und dem passenden Schlüssel. Beteiligt ist wieder das Liebespaar Elizabeth (Keira Knightley) und Will (Orlando Bloom), wobei sich die freche Piratenbraut mittlerweile nicht mehr so recht zwischen den so verschiedenen Männern entscheiden kann.
 
Beim Säbelrasseln in Tarantino-Manier stehen sich noch drei Gegner gegenüber. Doch das Zwischenfinale auf einer abgelegenen Insel wird dank Riesen-Hamsterrad zur überdrehten Shownummer. Das Laufrad rollt durch den Dschungel, oben, unten und mittendrin fechten Jack und Will den Streit um den Schlüssel aus. Das ist aufwändig inszenierte Action mit extrem hohem Comedy-Element aus dem Vollen. Jack Sparrow muss Comic-Vorfahren unter den Looney Tunes gehabt haben. Was Peter Jackson mit der Dino-Stampede in "King Kong" machte, passiert hier am laufenden Riesenrad.
 
Bei den Gegnern trumpft der Fliegende Holländer in Kombination mit einem gigantischen Octopus auf, der - typisch Bruckheimer - selbst für diesen Film eine Nummer zu groß ausgefallen ist. Kapitän Nemo hatte mit seinem Calamares-Knäueln da noch leichtes Spiel. Grandios schaurig die Gestalten des Geisterschiffs, die sich nach Jahren unter Wasser zu Meeres-Mutanten gewandelt haben. Mit Octopus-Gesicht, Hammerhai-Kopf oder Qualen-Wangen. Nur Will ist nicht wahnsinnig begeistert, seinen Vater unter den Meeres-Monstern wiederzusehen.
 
Auch beim Publikum wird sich die Wiedersehensfreude in Grenzen halten: Als kompletter filmischer Vergnügungspark mit Geister- und Achterbahn geriet der zweite "Fluch der Karibik" etwas unübersichtlich und trotz fest eingeplanter Fortsetzung zu lang. Doch dank Depp und einigen originellen Ideen darf er das Schätzchen des Sommerkinos werden.

17.7.06

Battle in Heaven


Mexiko, Belgien, Frankreich, BRD  2005 (Batalla en el cielo) Regie: Carlos Reygadas mit Marcos Hernández, Anapola Mushkadiz, Bertha Ruiz, David Bornstien, Rosalinda Ramirez, El Abuelo, Brenda Angulo, El Mago 98 Min. FSK: ab 18
 
Carlos Reygadas ist in diesen Kino-Jahren für Sensationen zuständig. Schon sein "Japon" war im besten Sinne unfassbar. Philosophisch, religiös, provokant, blasphemisch, verstörend. Nach dem damaligen Drama in einsamer Höhe, in Nähe zur Himmelfahrt, zeigt Reygadas nun Stadt-Menschen in ihrer grandiosen Hässlichkeit. Ein dickes Paar hat ein Kind entführt, um sich etwas hinzu zu verdienen. Das Kind starb und jetzt führt eine wachsende Schuld in Marcos zu unglaublichen Entwicklungen.
 
Oder sollte man mit dem Sexualakt anfangen, der den Film eröffnet? Eine himmlische Vision von Marcos mit Anna, der Tochter des Generals, die er schon seit 15 Jahren kennt und chauffiert. Jetzt fährt er Anna ganz real zum Edel-Puff, wo sie heimlich arbeitet.
 
Hier klaffen extreme gesellschaftliche Brüche auf in Mexiko-City. Dass Marcos mit Anna schlafen will, könnte man als Überbrückung verstehen. Aber eindeutig lässt sich bei Reygadas nie etwas erklären. Er erzählt es auch keineswegs so klar, wie dieser Text. (Störende) Geräusche, langsame Fahrten und ungewöhnte Perspektiven irritieren. Lange, laute Musikeinsätze verschiedener Art passen nicht so richtig. Dann treiben es Marcos und seine Frau miteinander, nackt, schwitzend - über dem Ehebett zeigt Jesus seine Wunden. Später wird Marcos auf Knien und mit einer Kapuze verhüllt an einer Prozession teilnehmen. Auf seinem Rücken zeigt sich unerklärlicherweise Blut. Die Kirchenorgel spielt etwas, was verdächtig nach Dylans "Blowing in the wind" klingt! Und der Mord zwischendurch ist wie vieles andere schwer fassbar.
 
Nicht nur darin oder in den einzigartigen Bildern, dem eindrucksvollen Spiel der (schauspielerischen, nicht religiösen) Laien liegt die Faszination von Reygadas, die ihn zum Stammgast in Cannes machte. Er kämpft in seinen Figuren, deren Handlungen eine durchaus ernsthafte und höchst spannende Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne, mit Aberglaube und Katholizismus, die typisch für Lateinamerika sein mag, aber auch andernorts verstanden wird.
 

Man muss mich nicht lieben


Frankreich 2005 (Je ne suis pas là pour être aimé) Regie: Stéphane Brize mit Patrick Chesnais, Anne Consigny, Georges Wilson, Cyril Coupon 93 Min.
 
Im Gerichtsvollzieher Jean-Claude (Patrick Chesnais) steckt so wenig Lebensenergie, dass er nur mühsam die Treppen zu seinen säumigen Klienten hochkommt. Der verbitterte Vater (Georges Wilson) im Pflegeheim bringt es auf den Punkt: Es ist immer das Gleiche. Jean-Claudes Sohn und vorgesehener Nachfolger traut sich nicht, dies miese Erbe zurückzuweisen, ja nicht mal, ein paar Pflanzen im Büro aufzustellen. Das Leben ist der freudlose Gang eines fünfzigjährigen Sisyphos mit Aktentasche und Treppenhaus statt Stein und Berg.
 
Da das Herz dies triste Elend nicht mehr richtig mitmachen will, verschreibt der Arzt Jean-Claude etwas Bewegung. Anstelle von Sport gibt es ungelenke Tango-Versuche in der Schule, die der strenge Gerichtsvollzieher vom Büro immer beobachtet hat. Schon graue Haare, der Schnauzer unterscheidet sich farblich nicht vom Trenchcoat, man muss ihn wirklich nicht lieben, diesen Jean-Claude. Aber am Ende wird man ihn gern haben...
 
Im Tangokurs erwählt Francoise, ein freundliches, belebendes Wesen, den entfernten Bekannten zum Tanzpartner und im Wiegen zur Musik finden sie Harmonie. Ganz ohne Worte. Schlechtes Timing, sagt der Franzose dazu, denn Francoise steht kurz vor ihrer Hochzeit mit einem frustrierten und nicht besonders aufmerksamen Schriftsteller. So kommen sich Jean-Claude und Francoise zwar sehr still und vorsichtig näher, doch als er von ihrer baldigen Hochzeit erfährt, zieht er sich tief verletzt zurück. Er zieht jetzt seinen Job noch kälter durch, räumt einer Frau mit Mietrückständen die ganze Wohnung leer. Als auch noch der Vater stirbt und sich herausstellt, dass hinter seiner Grimmigkeit eine Menge Liebe steckte, wandelt sich Jean-Claude... Man wird ihn dafür sehr mögen.
 
"Man muss mich nicht lieben" ist passend zur Figur eine stille Geschichte, bittersüß. Der Hauptdarsteller Patrick Chesnais wird in Kritiken als französischer Bill Murray beschrieben und hat tatsächlich auch dessen herbe Tristesse. Eine ideale Besetzung!
 
Die Köpfe hinter "Gotan Project", Christoph H. Müller und Eduardo Makaroff, die gerade mit "Lunatico" eine neue CD veröffentlicht haben, gestalteten auch den Soundtrack. Ein ganz besonderer Genuss im Einklang mit dem sanft leidenschaftlichen Verlauf der Geschichte.

Offside


Iran 2006 (Offside) Regie: Jafar Panahi mit Sima Mobarak Shahi, Safar Samandar, Shayesteh Irani, M.Kheyrabadi 88 Min.
 
Ganz spät in der Nachspielzeit kommt noch ein Fußball-Film in die von WM-Live-Übertragungen befreiten Kinos. "Offside" heißt "abseits" und meint nicht unbedingt Frauen erklären zu müssen, wie Abseits funktioniert. "Abseits" stehen bei Sport in Iran die Frauen und "Offside" erklärt wie und warum.
 
Am Eingang zum Fußball-Stadion wird eine als Junge verkleidete Frau bei einer Leibesvisitation festgenommen und zu einer Umzäunung in der Nähe des Stadions gebracht. Sie trifft auf eine ganze Gruppe fußballbegeisterter junger Frauen, die sich wie sie als Männer verkleidet haben und auf ihren Abtransport zur Sittenpolizei warten.
 
Hinter dieser fiktionalen Geschichte steckt die Tatsache, dass es im Iran Frauen tatsächlich verboten ist, Fußball zu sehen. Nicht der dringlichste Grund für Emanzipation, aber was man nicht haben kann, wirkt ja immer reizvoller ... Tatsächlich geht es Panahi in seiner Komödie um mehr, um mehr Gebiete, auf denen die Rechte der Frauen beschnitten sind. Mittlerweile ist dieses Stadionverbot auf der politischen Agenda im Iran.
 
Schon der Episoden-Film "Der Tag an dem ich zur Frau wurde" (2000) von Marzieh Meshkini zeigte in den verbindenden Episoden metaphorisch die befreiende Kraft eines Radrennens für Frauen - im Schleier wohlgemerkt! Jafar Panahis machte vor allem mit "Der Kreis" auf sich aufmerksam. Die Geschichte einer Gruppe von Frauen, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurden, gewann 2000 den Goldenen Löwen beim Filmfestival in Venedig und war der "Film des Jahres" der internationalen Kritikervereinigung FIPRESCI. Auch Panahis andere Filme seit dem Debüt mit dem anrührenden Kinderfilm "The White Balloon" (1995) sorgten für Aufsehen: 1997 gewann Panahi mit "Der Spiegel"
den Goldenen Leoparden in Locarno. "Crimson Gold" lief 2003 in Cannes. Auf der diesjährigen Berlinale wurde "Offside" mit dem Großen Preis der Jury, dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Geheime Staatsaff ä ren


Frankreich/Deutschland 2006 (L' ivresse du pouvoir) Regie: Claude Chabrol mit Isabelle Huppert, François Berléand, Patrick Bruel 110 Min. FSK: o.A.
 
Der Name ist Hohn: Jeanne Charmant! Charmant wie das kalte Lächeln eines Hais am Surfstrand. Und Jeanne? Jeanne d'Arc hatte noch ein menschliches Wesen, das von der göttlichen Pflicht überwältigt wurde. Diese Jeanne ist Robbespiere, die Lederhandschuhe rot wie El Grecos Großinquisitor. Und der Doppelname macht dann alles klar: Charmant-Killman. Ein Killer. Mit eiskaltem Lächeln serviert die Untersuchungsrichterin korrupte Industrielle ab, zwingt den Vorstandsvorsitzenden, die Hosen runter zu lassen. Ein analytischer Wirtschaft- und Politthriller, ein Stück aktueller Geschichte und eine grandiose Isabelle Huppert machen diese gar nicht so geheimen Staatsaffären ungemein packend.
 
Es geht um Vorteilsnahme von Politikern und Wirtschaftsbossen. Nicht um als selbstverständlich angesehene Gefälligkeiten und Extras wie Eintrittkarten für die Familie. Nicht um die vielen zusätzlichen Pöstchen um die mageren Hartz-Diäten aufzubessern. Es geht um die Hunderte von Millionen, die im Skandal um den Mineralölkonzern Elf Aquitaine flossen, auch nach Deutschland in Kreise der Regierung Kohl. Aber Altmeister Chabrol macht daraus einen Politthriller, der sich ganz auf schillernde Personen konzentriert, und auch ohne Wissen um die Hintergründe funktioniert.
 
Die Untersuchungsrichterin Jeanne Charmant-Killman (Isabelle Huppert) startet einen Feldzug gegen die Korruption bei Staatsunternehmen, wobei sich die Beteiligten bis in Regierungskreise reichlich bereichern. Zuerst hat sie einen Vorstandsvorsitzenden am Schlafittchen, der trotz seiner Allergie in Haft bleiben muss, es geht ihm jämmerlich, man bekommt richtig Mitleid mit ihm. Die Kumpane von der Macht ziehen sich von ihm zurück, schauen sich eher amüsiert die Bemühungen der Justiz an. Nur mit dem jungen Chef Jacques Siebaud (Patrick Bruel) versteht Jeanne Charmant sich auf äußerst reizende Weise. Mit Häme und Sarkasmus arbeiten sie zusammen.
 
"Geheime Staatsaffären" stellen den 67.Film von Claude Chabrol dar. Und es ist die siebte Zusammenarbeit mit "der Huppert". Sie dreht ausgesprochen gerne mit ihm. Und man ist während des Films überzeugt, sie wäre eigentlich lieber Untersuchungsrichterin geworden. Wie man ihr früher die jahrelangen Übungen als "Die Klavierspielerin" abnahm, oder die Mörderin im vorletzten Chabrol "Bittersüße Schokolade".
 
Diesmal schlürft "Lisbeth Huppertz" von der Macht, denn der Originaltitel "L'Ivresse du pouvoir" bedeutet Machttrunkenheit. Und man wechselt mit seinen Sympathien immer die Fronten zwischen der gnadenlosen Richterin und den ruchlosen Anzugträgern, die mit dicken Zigarren selbstgefällig die Luft versauen. Denn während die im Hinterzimmer die Fäden ziehen, sucht Charmant begierig die Kameras der Öffentlichkeit. Dabei vernachlässigt sie ihren Mann, der Selbstmord begeht, und die Gegner haben noch einige fiese Tricks auf Lager...

12.7.06

Rebell in Turnschuhen


USA 2006 (Stick It) Regie: Jessica Bendinger mit Jeff Bridges, Missy Peregrym, Vanessa Lengies 103 Min. FSK: o.A.
 
Randsportarten wie Curling, Teebeutelweitwurf, Fußball oder Kunstturnen haben es schwer im Kino. Da freut man sich, wenn ein frischer, dynamischer Film die verstaubte Parallelgesellschaft der Barren-Hüpfer, Ginger-Schwinger und Dreifach-Saltisten aufmischt, fast wie einst "Strictly Ballroom" die Standardtänzer.
 
Die 17-jährige Haley (Missy Peregrym) legt mit ihrem BMX-Rad coole Stunts hin, bis sie sich so hinlegt, dass der Schaden fünfstellige Dollar ausmacht. Die Richterin verdonnert sie zum Schlimmsten: VGA, ein Trainingslager für Turnerinnen unter der Leitung von Burt Vickerman (Jeff Bridges). Eigentlich hatte Haley den ganzen Leistungssport hinter sich, sie verließ das Finale und versaute ihrem Team die Goldmedaille.
 
Dass Kunstturnen spannend sein kann, glaubt keiner. Doch Regisseurin Jessica Bendinger legt ästhetisch eine exzellente Kür hin: In roten und weißen Streifen stellt sich die Turnschule stilisiert vor, sagenhafte Schritt- und Schnitt-Kombinationen, etwas Busby Berkeley, Serienbilder von Flip-Flops in den Bonbon-Farben der Turnbodys, Breakdance auf dem Barren. Ebenso flott ist "Stick it" (so der Originaltitel) im Wortwitz. Haley lässt wunderbaren Sarkasmus zum gehassten Sport ab, Vickerman wird als Trainer, der mehr Verletzte als Sieger hervorbrachte, eingeführt.
 
Inhaltlich klingt selten mal die wilde Atmosphäre von "Girls United" an, wenn sich die eigenwillige Haley mit den naiven Turnmädels anlegt. Doch in einer großen Solidaritätsaktion übernehmen die schikanierten und drangsalierten Hüpfdohlen selber die Regie und räumen gleichzeitig mit einem veralteten Bewertungssystem auf. Sie erobern sich den Sport zurück von den Funktionären, den puren Sport und den Spaß daran. Pädagogisch wertvoll!
 
Übrigens, liebe deutsche Titelverhunzer: Turnschuhe sorgen beim Kunstturnen für totalen Punktabzug!
 

Poseidon


USA 2006 (Poseidon) Regie: Wolfgang Petersen mit Josh Lucas, Kurt Russell, Jacinda Barrett 98 Min. FSK: ab 12
 
Es war ja eigentlich ein zynischer Scherz, dass nach dem Erfolg von "Titanic" sicher "Titanic 2" auftauchen würde. Doch jetzt geht es tatsächlich wieder auf einem Luxus-Schiff rund, beziehungsweise: unter. In "Poseidon" können die Zuschauer nachempfinden, wie es sich in einem kieloben treibenden Schiff ertrinkt: Atemlos. Denn so laufen die Versuche einer tapferen Truppe ab, der Mausefalle zu entkommen.
 
Zuerst wird in einem ewig langen, digitalen Vorbeiflug das Luxus-Schiff Poseidon vorgeführt - siehe "Titanic". Bei "Troja" begeisterte sich Regisseur Petersen ja so über die digitalen Effekte, obwohl sie damals teilweise erbärmlich aussahen. Nun lässt er sich nach "Der Sturm" zum zweiten Male von einer gigantischen Hollywood-Welle mitreißen. Damals konzentrierte sich der Kampf der Seebären um George Clooney auf die Psyche der verzweifelten Männer im Sturm. Nun weht eine Welle aus zahllosen gefährlichen Situationen jede differenziertere Charakterzeichnung fort.
 
Auf der Poseidon feiert man Silvester unter Freunden und Fremden. Die schicken, reichen Gäste machen zwar nicht die Welle, aber dafür das Meer - und zwar gewaltig! Eine 50 Meter hohe Riesenwand wirft den Kahn mit Naturgewalt um und wie drinnen die Menschen kegeln, fallen, stürzen, durch die Luft geschleudert werden, zeigt der Film mit einer befremdlichen Deutlichkeit. Hier hat die "Poseidon" einen Vorteil gegenüber der "Titanic": Musste man damals Stunden auf die Katastrophe warten, ist hier schon nach 15 Minuten der Untergang erledigt.
 
Dann gewinnt unser Hollywood-Mann von der Waterkant, Wolfgang Petersen, aus dem Schiff, das Kopf steht, reizvolle Action-Kulissen und immer wieder spannende Spiele mit den Elementen. Wassereinbrüche, klar! Aber ein enorm hoher Sturzbach aus Benzin, der sich selbstverständlich bald entflammt - das ist mehr als die übliche Katastrophe unorigineller Drehbuch-Schreiber. Am Ende zieht es sogar - lebensgefährlich kräftig...
 
Das Remake von "Die Höllenfahrt der Poseidon" aus dem Jahre 1972 bleibt bei den Figuren allerdings gähnend konventionell. Ein Mikrokosmos mit legalen und illegalen Passagieren kristallisiert sich aus den wenigen Überlebenden heraus. Eine Zwangsgemeinschaft, die sich auf eigenen Wegen durch den Schiffsrumpf nach oben und draußen kommen will. Robert Ramsey (Kurt Russell), ein ehemaliger Feuerwehrmann und überfürsorglicher Vater, erweist sich als großer Anführer. Der egoistische Spieler Dylan Johns (Josh Lucas) läutert sich zum hilfsbereiten Helden. Der alte Arzt Richard Nelson (Richard Dreyfuss) wollte sich umbringen, weil ihn sein Liebhaber verließ - angesichts der Todeswelle kämpft er wieder um sein Leben...
 
All diese Schicksale tauchen seit Jahrzehnten auf Katastrophen-Flügen, -Schiffen oder -Hochhäusern auf. Die "Poseidon" schafft es dabei, den Hindernisparcours auf dem Weg zur Frischluft so dicht zu staffeln, dass man die Figuren gut vergessen kann.

11.7.06

Lemming


Frankreich 2005 (Lemming) Regie und Buch: Dominik Moll mit Charlotte Rampling, Charlotte Gainsbourg, André Dussolier, Laurent Lucas, Michel Cassagne 129 Min.
 
Schön, wie so ein kleiner Nager allzu glatte Lebensentwürfe zur Achterbahn werden lässt. Der Franzose Dominique Moll, der schon mit "Harry" vor einigen Jahren zeigte, dass der gute Familienvater sich letztendlich mit Gewalt gegen äußere Bedrohungen wehren muss, konfrontiert nun in ein harmloses, fast langweiliges junges Paar mit skurrilen bis mysteriösen Entwicklungen.
 
Der junge Ingenieur Alain Getty (Laurent Lucas) erwartet mit seiner Frau Benedicte (Charlotte Gainsbourg) in der kleinen Modelwohnung einer Vorstadt im Süden eigentlich nur den Chef Pollock (André Dussollier) samt Gattin Alice (Charlotte Rampling) zum Abendessen. Doch Alice gebärdet sich extrem exzentrisch, kippt dem herumhurenden Ehemann Wein ins Gesicht. Der Abend ist schnell gelaufen, doch am nächsten Tag versucht Alice Alain zu verführen, taucht darauf bei Benedicte auf und schießt sich eine Kugel in den Kopf. So weit, so seltsam. Nun jedoch wird die Musik gespenstig, Benedicte spricht und gebärdet sich wie Alice. Die vorher sehr ruhige, beherrschte Frau schreit nun impulsiv herum, flucht und geht fremd.
 
Ach ja: Alles fing mit einen Lemming an, der sich im Abfluss der Gettys verirrt hatte! Der skandinavische Nager irritiert im französischen Vorort und erweist sich als Vorbote einer aus den Fugen geratenden Beziehung.
 
Die Mischung von Gesellschaftskomödie und Horror-Ansätzen im japanischen Stile von „The Ring" ist an sich ganz reizvoll. Im Gegensatz zu "Harry" gelingt es Dominique Moll jedoch nicht, seine schon im Genremix divergente Geschichte zusammenhängend und ohne Hänger zu erzählen. Es bleibt die hervorragende Besetzung, vor allem durch das "doppelte Charlottchen", die reife Rampling und die nicht mehr ganz so junge Gainsbourg: Rampling als gequälte oder quälende Gattin mit erschreckend dunklen, bitteren Augen. Und "die Gainbourg" mal harmlos niedlich, mal dämonisch mit dem Geist der Alice, der aus den Augen blitzt. Selbst wenn "Lemming", Eröffnungsfilm der Filmfestspiele von Cannes 2005, kein Höhepunkt des französischen Kinos ist, reizt er mit vielen Qualitäten und einer wahrlich ungewöhnlichen Geschichte.

The Fast and the Furious - Tokyo Drift


USA 2006 (The Fast and the Furious: Tokyo Drift) Regie: Justin Lin mit Lucas Black, Lil' Bow Wow, Nathalie Kelley 104 Min. FSK: ab 12
 
Lost in Transmission
 
"The Fast and the Furious" war einst ein kleines Filmchen, das passend zu den hauptdarstellenden Autos rasant inszeniert wurde: "Schnell und wütend", das versprach und hielt der Titel. Mittlerweile ist dieser Reiz auf Serienniveau herunter gekommen. Für den dritten Teil konnten sich die Macher Hauptdarsteller Paul Walker nicht mehr leisten. (Vin Diesel hat einen Kurzauftritt.) Dafür gibt es Nachwuchsakteur Lucas Black ("Jarhead") und Tokio als exotischen Hintergrund.
 
Shaun Boswell (Lucas Black), ein autosüchtiger amerikanischer Raser, erhält für seine letzte Zerstörungsorgie eine seltsame Strafe: Er "muss" zu seinem militärischen Vater nach Tokio ziehen. Dort folgt der 17-jährige Schüler in der ungewohnten Uniform mürrisch den neuen Regeln, wie der Durchschnitts-Ami verachtet er die leckersten japanischen Spezialitäten.
 
Doch schon nach zwanzig Minuten ist Shaun wieder unter den illegalen Rasern. Und nach zwanzig Minuten und fünf Sekunden legt er sich mit D.K., dem Neffen eines Yakuza-Bosses an. Erstaunlich ist bei "Fast and the Furious 3", wie gut sich Shaun in Japan zurecht findet. Hier gibt es nichts von der Verlorenheit Bill Murrays und Lindsay Lohans bei Sophia Coppolas "Lost in Translation". Probleme hat der Autofahrer Shaun allerdings mit der japanischen Art des Rasens. Bei seiner ersten Einlage demoliert er - ganz Adrenalin - einen halben Fuhrpark. Der Gag ist dabei, dass hier dauernd durch Kurven gedriftet wird. Wie einst in Walter Röhrls Zeiten mit dem Lancia durch die verschneiten Seealpen. Heute gibt es Vierrad-Antrieb, elektronische Differentiale machen diese ganze Quietscherei unnötig. Doch in dem gummiverschwendenden Kreiseln metaphorisiert sich vortrefflich die Zwecklosigkeit dieses Tuns.
 
Das Ganze ist ungefähr so sinnvoll wie ein Drehbuch mit Feder auf Pergament zu kratzen, die Goretex-Jacke gegen eine aus Leder zu tauschen oder Musik in Schellack-Rillen zu archivieren. Trotzdem sind wie in den Vorgängern die Höhepunkte wieder die Fahrszenen, einmal sogar ästhetisch faszinierend beim nächtlichen Gruppen-Driften in den Serpentinen, fast ein PS-Ballett.
 
Drumherum eine Liebesgeschichte mit dem traurigen Mädchen, dass leider die Freundin des Yakuza-Neffen ist. Die Loyalitäts-Story mit dem Vater. Und etwas asiatischen Futurismus. Lucas Black kann als Shaun gut trotzig kucken, den Jugendlichen nimmt man ihm aber überhaupt nicht ab.
 
Der Film sorgt letztendlich - trotz der Warnung: "Bitte nicht zuhause nachmachen" - nur dafür, dass noch mehr Leute unter die Räder kommen. Aber so lange es die Arbeitsplätze der Automobilindustrie sichert, soll es uns nicht weiter stören ...

6.7.06

She's the Man - Voll mein Typ


USA 2006 ("She's the Man") Regie: Andy Fickman mit Lynda Boyd, Alex Breckenridge, Amanda Bynes, David Cross, Robert Hoffman, Vinnie Jones, James Kirk 105 Min.
 
Von Shakespeares "Was ihr wollt" gibt es eine sehr schöne Filmversion von Trevor Nunn mit einem genialen Ben Kingsley, mit Helena Bonham Carter und noch einigen anderen guten Darstellern. Bis auf den Prolog, der die zeitliche Einordnung später unglaubwürdig macht, funktioniert dabei die Travestie, der Kleiderwechsel der Viola, die sich in einem feindlichen Land als Mann ausgibt.
 
Die auf High School-Niveau verlegte Variante "She's the Man - Voll mein Typ" hingegen hat mit Amanda Bynes eine Hauptdarstellerin, deren Gesicht vielleicht irgendwie zwischen Mädchen und Junge liegen kann, SPIELEN kann sie das nicht gut.
 
Shakespeares Viola (Bynes) ist heutzutage eine fußball-begeisterte amerikanische Schülerin - schlechtes Timing kurz nach WM-Aus -, der die Mannschaft von Stundenplan gestrichen wird. Frauenfußball ist halt vernachlässigenswert! Weil außerdem ihr Freund, der Kapitän der Jungenmannschaft sich sehr dämlich und unsolidarisch verhält, nutzt Viola die Abwesenheit ihres Bruders an einer benachbarten Schule, um sich dort als männlicher Frischling ins Team zu spielen. Im Finalspiel beider Schulen will sie zeigen, dass Frauen genauso gut kicken wie die o-beinigen Herren des Rasens.
 
Es gibt die üblichen Probleme mit männlichem Schritt, dem Verstellen der Stimme und dem Vermeiden gemeinsamen Duschens. Eine fürchterlich unoriginelle, in vieler Hinsicht nur alberne Nichtigkeit also. Fußball ist beispielsweise, so wie gejubelt, eingelaufen, gefault, gerannt wird, eine peinliche Abart des American Football, alles Kopie eines Football-Films. Da hat niemand Ahnung vom "Soccer" gehabt. (Das originalste und originellste in Sachen Fußball ist sicherlich Vinnie Jones als Trainer, der ja in "Mean Machine" einen inhaftierten Super-Stürmer spielte.)
 
Erstaunlich trotzdem, dass selbst bei dieser Verharmlosung, Banalisierung, dieser extremen Plättung der Vorlage das Eckige, das Spannende an der Personenkonstellation Shakespeares nicht platt zu kriegen ist. Im Verlauf der Verwechselungen ergeben sich ja durchaus knifflige Zuneigungen, die erstaunlich beiläufig und fröhlich homo- und hetero durcheinander bringen. Da wundert man sich auch noch 500 Jahre später. Das in vieler Hinsicht klein wirkende Filmchen, das trotzdem $20 Mio. verschlang, läuft in Deutschland im September an.
 

5.7.06

Revenge of the Warrior - Tom yum goong


Thailand 2005 (Tom yum goong) Regie: Prachya Pinkaew mit Tony Jaa, Perttary Wongkamlao, Bongkoj Khongmalai 90 Min. FSK: ab 16
 
Der Erfolg von "Ong Bak" wird jetzt ziemlich rasch ausdifferenziert: "Revenge of the Warrior - Tom yum goong" trumpft wieder mit dem thailändischen Actionstar Tony Jaa auf. Nächste Woche geht der Stunt- und Kampfchoreograph von "Ong-Bak" mit "Born to fight" an den Start.
 
Doch erstmal gibt es etwas mehr Geschichte, schöne Bilder und reichlich Exotismus für Thailand-Liebhaber. Böse Männer entführen einen Heiligen Elefanten, den König der Palastelefanten, aus dem Dorf des jungen Kham, der Mahut (Führer) dieses edlen Tieres. Der verfolgt die Spur des schönen Tieres über Bangkok bis nach Sydney. Wobei er vor allem prügelt, Knochen bricht und Hälse umdreht was das Zeug hält.
 
Markenzeichen der aktuell erfolgreichen Thai-Action ist der "unplugged" Stil der Kämpfe. Ganz so wie der Chinese Jackie Chan dafür verehrt wird, dass er alle seine akrobatischen Kämpfe selbst macht. Es wird weitgehend auf Special Effects verzichtet, was tatsächlich erst mal sympathisch wirkt. Hauptdarsteller Tony Jaa ist als berühmter Thai-Boxer beim Prügeln tatsächlich eine erstaunliche Erscheinung. Als Schauspieler ... na ja, stellen Sie sich in einem Spielfilm mal einen Klitschko, einen Henry Maske oder einen Schwarzenegger als Hauptdarsteller vor. So was kann doch eigentlich nicht funktionieren... Doch Action hat ein breites Publikum mit ganz anderen Kriterien als so ein unbedarfter Kritiker. Trotzdem: Thailändischen Film sollte man im Auge behalten. Neben vielfältiger Action wird es auch immer mehr Qualitätsfilme geben.

T ä towierung


BRD 1967 (Tätowierung) Regie: Johannes Schaaf mit Helga Anders, Christof Wackernagel, Rosemarie Fendel 86 Min.
 
Moden gibt es in jedem Bereich. Auch bei den Terroristen, die waren in den Siebzigern und Sechziger eher Pastorentöchter und gut bürgerlich deutsch. Eine inhaltlich und auch in der Besetzung verstörende Psychostudie einer Jugend zeigt "Tätowierung". Da spielt der spätere RAF-Terrorist (und nach Begnadigung wieder schauspielernde) Christof Wackernagel den widerspenstigen Rebellen, der sich nicht in die neureiche BRD integrieren lässt: Berlin, Mitte der 60er Jahre - ein Fabrikantenehepaar adoptiert einen 16jährigen. Aufgewachsen in Waisenhäusern und Erziehungsanstalten, empfindet er die neue Freundlichkeit, die ihn umgibt, als verstörend und die pädagogischen Maßnahmen seiner Adoptiveltern als erdrückend. Verzweifelt greift er zur Gewalt. Dieser Film ist nicht nur das eindrucksvolle Portrait einer zerstörten Jugend, sondern auch einer der interessantesten Berlin-Filme der sechziger Jahre.

Das Haus am See


USA 2006 (The Lake House) Regie: Alejandro Agresti mit Keanu Reeves, Sandra Bullock, Christopher Plummer 98 Min. FSK: o.A.
 
Fernbeziehungen! Menschen mit Angst vor der Nähe stehen drauf. Die mit Fühl- und Sehsucht hassen sie! Diese Fernbeziehung namens "Das Haus am See" muss man lieben! Denn Keanu Reeves und Sandra Bullock trennen keine Kilometer oder Kontinente. Zwei Jahre liegen zwischen ihren Leben und in diesem Abstand steckt unfassbare Leinwandmagie mit wunderbarer Romantik.
 
Als Alex in sein traumhaftes Stahl-und-Glashaus auf Stelzen am See zieht, findet er einen Hinweis im Briefkasten: Er möge doch der Vormieterin Kate (Sandra Bullock) etwaige Post nachsenden. Doch deren Adresse gibt es nicht, trotzdem entspannt sich über den Briefkasten eine intensive Kommunikation, eine Brieffreundschaft und schließlich Liebe. Mit einem Problem: Architekt Alex lebt im Jahr 2004 und Ärztin Kate 2006!
 
Nur ihre Briefe erreichen einander, indem beide sie in einem scheinbar magischen Briefkasten ablegen. Da stehen sie dann ganz alleine davor und das amerikanische Briefkasten-Fähnchen geht wie von Geisterhand immer wieder rauf. Eine direkte Kommunikation – über die Distanz von 24 Monaten.
 
Trotzdem kriegen sie einen gemeinsamen Spaziergang miteinander hin, obwohl er den Weg zwei Jahre vor ihr geht. Aber immerhin hinterlässt er ein Graffiti, das die ganze Zeit lang an der Wand auf sie wartet. "Das Haus am See" ist voll von dieser Romantik, die man auch außerhalb des Kinos jemanden schenken möchte. Aufgrund einer Randbemerkung pflanzt er Bäume, nach denen sie sich sehnen wird, dorthin wo sie demnächst wohnen wird. Fast schaffen sie es sogar, über zwei Jahre miteinander zu telefonieren. Etwas, was vielen Leuten, die sich gleichzeitig in der Gegenwart miteinander verbunden fühlen, nicht gelingt. Kate gelingt es, ihn in seiner Trauer über jede Entfernung zu trösten, irgendwie bei ihm zu sein, obwohl alles dagegen spricht. Und auf ein Treffen, das für sie morgen stattfindet, muss er zwei Jahre warten. Dafür kann er aber auch den Platz im schicken Restaurant richtig rechtzeitig buchen. Und pünktlich ein Buch finden, dass sie einst am Bahnhof vergaß: Es ist "Persuasion" von Jane Austen, in dem die 27-jährige Schöne erkennt, das der einst Verschmähte, doch der Richtige ist. Es geht um Zeit, um die wahre Liebe zur falschen Zeit. Und auch die Musik ergänzt kongenial die Idee: Carole Kings "It's to late" (baby, though we really tried to make it), Nick Drakes Abwarte- und Aushalt-Lied "
Time has told me", dazu Paolo Conte und andere wunderbare Songs.
 
Diese wundervolle Idee klingt komplizierter, als sie sich ansieht. Die raffinierte Konstruktion, die leicht durch die Zeiten springt, ist pure Magie, ein anhaltender Dialog im Off hält die Ebenen zusammen. Der argentinische Regisseur Alejandro Agresti ("Boda Secreta"), der mit kleineren, oft niederländisch produzierten Filmen auf sich aufmerksam machte, findet in seinem Remake des koreanischen "Siworae" ("Il Mare") faszinierende, verspielte und schöne Lösungen für diese unmögliche Kommunikation, etwa einen witzigen Splitt-Screen, fast als könnten sie sich live unterhalten.
 
"Das Haus am See" könnte eine Episode vom japanischen Autor Murakami sein. Nein, und dieser Film hat auch nichts mit Reeves/Bullocks "Speed" zu tun. Alles klärt sich fließend, ohne Hast. Dann beginnt eine neue hirnzermarternde Situation: Alex trifft in seiner Zeit Kate, die noch gar nicht weiß, dass sie ihn in zwei Jahren lieben lernen wird! Das hat ein wenig von der Zeitschleife in "Twelve Monkeys". Wenn dann Kates Hund, der Alex auf unglaubliche Weise in der Vergangenheit zugelaufen ist, auf den Namen reagiert, den sie ihm in der Zukunft geben wird, dann ist das Hirnverdreher pur!
 
Jetzt weiß man ja seit den Äußerungen von Zeitreisenforscher Prof. Dr. Dr. James T. Kirk, dass diese Geschichten nicht ohne Paradoxien und Unmöglichkeiten abgehen. Aber hier an logischen Fehlern mäkeln, wäre wie Romeo und Julia das Lesen des Beipackzettels zu empfehlen. Diese warm umgesetzte Idee einer "ver-rückten" Liebe, einer zeitversetzten Fernbeziehung ist beste Kinoromantik mit mehr Ideen und Gefühlen als Rest-Hollywood in einem Jahr rausrückt.

4.7.06

Ab durch die Hecke


USA 2006 (Over the Hedge) Regie: Tim Johnson, Karey Kirkpatrick Sprecher: Bruce Willis/Götz Otto (Richie), Garry Shandling/Bernhard Hoëcker (Verne), Steve Carell/Ralf Schmitz (Hammy) 83 Min. FSK: o.A.
 
Die Darsteller von Trickfilm-Figuren haben Konjunktur: So kann der junge, rastlose John Doe, der bereits für seine Sid in "Ice Age" den Oscar als Bester Zeichentrickfiguren-Darsteller erhielt, nicht über Beschäftigungsmangel klagen. In "Tierisch Wild" spielt er das quirlige Eichhörnchen Benny und jetzt schlüpft er in die Haut des hyperaktiven Hammy, ebenfalls Eichhörnchen, aber viermal so schnell und zehnmal beschränkter...
 
Scherz beiseite - Zeichentrick bleibt Zeichentrick, auch im Computerzeitalter schlüpft da niemand in die bunte Haut wie einst in "Falsches Spiel mit Roger Rabbit". Hier hält höchstens mal jemand zum Einscannen der Gesichtszüge seinen realen Körper hin und die Stimmen von Prominenten wie William "Captain Kirk" Shatner oder Bruce Willis leihen den Charakteren Charakter. Doch es wirkt tatsächlich so, als tauchen immer wieder die gleichen Figuren in verschiedenen Filmen auf!
 
Hektisch "Ab durch die Hecke" geht es wie in einem Albtraum von "Ice Age" Sid: Ebenso gierig wie verschlagen versucht der Waschbär RJ den gesamten Wintervorrat eines Grizzlybären zu klauen. Das geht dramatisch schief, die Sammlung aus bunten Fast Food-Leckereien gerät unter einen Laster. Weil auch Bären Mafia-Filme kennen, bekommt RJ noch eine letzte Chance: Er muss in einer Woche alles exakt wieder besorgen, samt rotem Bollerwagen und blauer Kühlbox.
 
Der Einzelkämpfer RJ zieht los und trifft einen witzigen Haufen kleiner Winterschläfer, die sich gerade die letzten sechs Monate Schlaf aus den Augen reiben. Ihr Schock danach ist ebenso groß wie die unendliche Hecke, die sich um ihr Fleckchen Rest-Natur spannt. Dahinter glänzen Neubau-Villen mit Gärten und Vorstadt-Straßen. Ein Grauen für den besonnenen Anführer Verne in seinem sicheren Schildkröten-Panzer. Ein Paradies für RJ, der hinterlistig - und mit leckeren Chips - die putzigen Gesellen verführt, genau das zu klauen, was er dem Bär abliefern muss...
 
Die Verführungen der Konsumgesellschaft lassen auch Waschbären, einsame Stinktiere und fallsüchtige Opossums nicht ruhen. Es kommt zum Konflikt zwischen konservativer Schildkröte und dem hirnlos konsumierenden RJ. Doch letzterer wird auch den Wert von Freundschaft erkennen, die unbezahlbar, aber selbst mit Visa-Card nicht käuflich ist.
 
Das Ganze läuft in zwanghafter Action ab. Schade, denn trotz schematischer Handlung überzeugt die Charakterzeichnung und viele, viele kleine Ideen machen richtig gut Spaß. Da erhebt sich die gigantische Hecke zur Strauss-Melodie aus "2001". Kritik an einer Fast Food-Nation bleibt am Rande, denn "Ab durch die Hecke" ist ja auch Kino-Fast Food. Aber zeitweise grandios und rasant schnell gemacht, vor allem wenn man dem wirbelnden Hammy auch noch einen Energy-Drink einschenkt...