30.5.06

Flug 93


USA 2006 (United 93) Regie: Paul Greengrass mit Khalid Abdalla, Lewis Alsamari, Omar Berdouni 110 Min. FSK: ab 12
 
Es war klar, dass die Attentate vom 11. September  2001 in den USA eine ganze Reihe von Filmen zur Bewältigung, zur Ausbeutung und zur Geschichtsschreibung nach sich ziehen würden. Angesichts des Schocks in den USA gab es eine Schamfrist, doch jetzt folgen 9/11-Filme dicht aufeinander. Oliver Stone kümmert sich um das getroffene World Trade Center und bereits zwei TV-Filme (darunter "Flight 93") begleiteten den Flug der United Airlines 93. Nun wagte sich der Brite Paul Greengrass an dieses heikle Thema und bietet dank dramaturgischer Zurückhaltung eine Folie für die verschiedensten Gefühlslagen und Weltsichten an.
 
Der betreffende United Airlines-Flug wurde am 11.September als viertes Passagierflugzeug gekapert, als das World Trade Center (WTC) schon getroffen war. Flug 93 erreichte nie das Ziel der Entführer sondern stürzte in einem freien Feld südöstlich von Pittsburgh in Bundesstaat Pennsylvania ab. Was im Flieger geschah, bleibt Spekulation, obwohl viele Anrufe von Passagieren nach draußen drangen.
 
"Flug 93" beginnt mit den Vorbereitungen der Entführer, eine unruhige Schein-Dokumentation der Betriebsamkeiten vor und um den Start. Den ersten Einschlag ins WTC erleben wir aus der Flugkontrolle, wo mehrere Meldungen von gekidnappten Flugzeugen einlaufen und für extreme Unruhe sorgen. Erst spät wird der Flug United 93 gekapert, wechselt die Handlung mehr und mehr ins Flugzeug. Hier sorgt auch eine Handkamera für Unruhe. Die Montage ist wie bei Oliver Stones "J.F.K." zu hektisch, um irgendwelche Gedanken aufkommen zulassen, nur die sehr sparsam eingesetzte Musik dräut ein Ahnung von Tragik herauf. Eine erste Steigerung der Aufregung gibt es bis zum zweiten Einschlag in New York.
 
Greengrass, der für seinen ähnlich gefilmten Nord-Irland-Film "Bloody Sunday" den "Goldenen Bären" erhielt, gelingt das Kunststück, melodramatischen Klischees nicht zu verfallen. Die bei Katastrophenfilmen üblichen Hintergründe der Betroffenen wurden auf ein Minimum beschränkt. Wir lernen niemanden persönlich kennen, die schon zur Parodie ausgereizten Kranken und Zerstrittenen unter den Passagieren bleiben uns erspart.
 
Aber auch weiterreichende Stellungnahmen bleiben aus. Nur ganz vereinzelt kann man die patriotischen Parolen ausmachen, die seit 2001 die ganze Erde mit weiteren Kriegen und hausgemachter Terrorpanik überzogen haben. Wenn der letzte Satz den martialischen Fox-Slogan "Americas War on Terror had begun" (Amerikas Krieg gegen Terror hat begonnen) nachbetet, mögen das die einen als gerechtfertigten Aufruf zur Rache empfinden. Die nicht so politikgläubigen lesen das Menetekel einer verheerenden Reaktion auf der Basis ganz anderer Interessen wie Machterhalt und Eroberung von Ölgebieten.
 
Es gibt keine Helden, die Entführer erledigen genau so ihren (dramaturgischen) Job wie die Menschen der Flugaufsicht. Man hasst nicht die einen und fürchtet seltsam wenig um die anderen. Als Höhepunkt der Distanzierung bleibt der Ton in den letzten Sekunden vor dem Absturz weg. Kein lauter Knall, nur umso treffenderes Schwarzbild lässt die Zuschauer unbestimmt zurück.

Date Movie


USA 2006 (The Date Movie) Regie: Jason Friedberg, Aaron Seltzer mit: Alyson Hannigan, Adam Campbell, Jennifer Coolidge, Tony Cox, Fred Willard ca. 90 Min.
 
Parodien sind eigentlich so einfach: Man nehme sehr populäre Filme aus einem Genre, variiere an den Szenen, die fast jeder kennt nur ein Detail und hoffe, das der Spaß-Funke zündet. Beispielsweise wenn man einen o-beinigen, haarigen Mann in die Klamotten von Julia Roberts aus "Pretty Woman" steckt. Nach "Nackte Kanone", der TV- und Kino-Parodie der Krimi-Action  und der mehrteiligen Horror-Veralberung "Scary Movie" kriegt jetzt die Romantische Komödie ihr Fett weg. "Fett weg" ist dabei auch ein gutes Stichwort, denn es lässt sich ach so herrlich über dicke Frauen lachen.
 
"My big fat greek wedding" bildet den Leidfaden der kruden, unwichtigen Story. Julia Jones (Alyson Hannigan) lässt sich zuerst vom Date Doctor "Hitch" umwandeln, samt "Pimp my Ride" statt Schönheitssalon. Raus kommt zwischendurch Darth Vader und mit dieser Art von völlig sinnfremden Einsprengseln treibt es "Date Movie" zu weit.
 
Über "Bridget Jones", "Hitch", "Mr. & Mrs. Smith" oder "Wedding Planner" führt Julias Weg dann zu den Schwiegereltern. Jinx, die Katze von Schwiegervater (im Original Robert DeNiro) übernimmt die Hälfte der Fäkalgeräusche. Den Salat-Orgasmus von Harry & Sally spielt diesmal der Verlobte und die indische Mutter nimmt eine Sperma-Probe direkt beim ersten Besuch. J-Lo wird grobschlächtig als "Wedding Planer" mit Riesenhintern veralbert, ohne Sinn und Bezug streuten die Macher auch etwas "Kill Bill" ein. Der größte Pickel der Filmgeschichte steht bei diesem Durcheinander für die mieseste Parodie der Filmgeschichte - noch nie wurden die Scherzchen so lieblos aneinander gestückelt.

Tierisch wild


USA 2006 (The Wild) Regie: Steve "Spaz" Williams 81 Min. FSK: o.A.
 
Das Wettrennen um den Markt der einträglichen Animationsfilme nimmt bisweilen seltsame Formen an. Im Jahre 1998 antwortete Dream Works mit "Antz" auf "Das große Krabbeln" von Disney. Und erinnern Sie sich noch an die lustigen Tiere, die aus dem New Yorker Zoo ausbrechen und sich in der Wildnis von Großstadt und Dschungel bewähren mussten? "Madagaskar" hieß im letzten Jahr dieser Film von Steven Spielbergs Produktionsfirma Dream Works. "Tierisch wild" nennt sich nur die fast identische Geschichte von Disney, durch die kleine, kanadische Animationsfirma Core realisiert. Man könnte sie auch "Madagascar 2" nennen, so groß sind die Ähnlichkeiten.
 
Einst brachen Löwe, Nilpferd, Giraffe und Zebra aus dem Zoo aus. Nun bilden Löwe, Giraffe, Schlange, Koala-Bär und Eichhörnchen das Expeditionsteam. Typisch für Disney steckt im Kern eine Familiengeschichte: Löwenvater Samson beeindruckt die Besucher mit seinem gewaltigen Gebrüll. Auch sein Sohn bewundert ihn und lauscht den Geschichten aus Zeiten der Freiheit. Damals verjagte Samson gigantische Büffel mit seinem Brüllen, Sohn Ryan kriegt nur ein klägliches Miauen hin, was ihn so verdrießt, dass er in die Wildnis will. Dort lernt man angeblich das Brüllen. Heimlich schleicht sich Ryan in einen Container, der tatsächlich irgendwo in Übersee Zoo-Tiere auswildert. Samson sieht, wie sein Sohn aus dem Zoo ausbüchst und macht sich sofort auf die Suche. Gegen seinen Willen begleiten ihn das hektische Eichhörnchen Benny, die dämliche Schlange Larry, der eigenwillig Koala Nigel und die hochnäsige Giraffe Bridget. Eher ein Chaoshaufen als eine Hilfstruppe, vor allem auch weil der kleine Benny in die riesige Bridget verliebt ist. Mit einem kleinen Kahn bleiben sie auf Ryans Spuren, die direkt nach Afrika führen. Dort muss Samson erst seine Lügen bekennen, bevor er zum Held und Retter wird.
 
"Tierisch wild" sind vor allem kleine witzige Ideen des Films, die üblichen Zitate und rasante Einzelszenen in dieser tierischen aber keineswegs originellen Komödie. Das witzige Ensemble gibt viel Spielraum an die mäßige Zeichentrick-Action ab. Der Rechen-Aufwand der Tricktechniker von Core war gewaltig. (Hinter der Firma steht übrigens William "Captain Kirk" Shatner, der auch den Oberbüffel spricht.) Witzigerweise entsteht dabei nicht der Eindruck eines echten Löwen, sondern der eines sehr räumlichen Plüschtieres. Wenn ansonsten selbst bei einfacher 2D-Zeichnung erstaunlich viel Seele in die Wesen gelegt wurde, erscheint vor allem Samson wie ein Spielzeug mit Sprachprozessor im Bauch.
 
Auffällig auch, dass sich die Animatoren von Core unterschiedliche Zeichenstile erlauben, wie Disney in seinen frühen Zeiten. Vor allem die Sequenzen mit den Büffeln sind geradezu psychiadelisch-poppig. Und auch die Farbenspiele der Kamäleons, die sich als Geheimagenten ausgeben, sehen eher nach Spaß für die Animateure als nach einer kommerziell kalkulierenden Kontrolle aus.

29.5.06

Cannes: Goldene Palme an Ken Loach, Jurypreis nach "Flandern"

Die Goldene Palme für seinen irischen Widerstandskampf "The Wind That Shakes The Barley" ist ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk für den fast siebzigjährigen Briten Ken Loach. Vielleicht auch eine Wertschätzung seines politisch engagierten Lebenswerkes. Der wichtigste Filmpreis der Welt sendet nebenbei ein filmpolitisches Signal nach Nordrhein-Westfalen, das den Siegerfilm mitfinanzierte: Nach den angekündigten Kürzungen von 20 Prozent bei der Filmstiftung NRW wird es solche Erfolge nicht mehr geben.
 
Am Sonntagabend verkündete die Jury um den chinesischen Regisseur Wong Kar-Wai die Palmen-Sieger des 59. Internationalen Filmfestivals (17.-28.5.) und entschied sich für politisch aussagekräftige Beiträge. Ästhetisch mutigere Filme gingen dabei leer aus.
 
Mit „The wind that shakes the barley“ analysiert und dramatisiert Ken Loach drastisch den Kampf der Iren gegen brutale britische Kolonialisten im Jahre 1920. Aber auch den Niedergang der Utopie einer sozialistischen irischen Republik lässt der alte Linke nicht aus. Nach erschütternden ersten Szenen von Unterdrückung, Folter und Exekution macht Loach klar, dass bei solchen Befreiungskämpfen alle Blut an den Händen haben. "The wind that shakes the barley“ (der Titel entstammt einem Gedicht von Robert Dywer Jones) erzählt bewegend sowie sozial und historisch genau. So wie man es von Ken Loach aus vielen anderen Filmen wie "Land and Freedom", "My Name is Joe" oder "Carla's Song" kennt.
 
Krieg spielt auch in "Flandres" von Bruno Dumont, dem verstörenden Gewinner des Großen Preises, eine Hauptrolle: Nach "La vie de Jesus" und "L’humanite" wieder simple, erdige Menschen aus dem platten Norden Frankreichs, da wo schon fast Belgien ist. In einer seltsam anachronistischen Männer-Bewegung ziehen all die dumpfen jungen Typen des Dorfes in irgendeinen arabischen Krieg. Sie morden, quälen und vergewaltigen dort, erhalten bis auf einen ihre gerechte Strafe und überleben es nicht. Derweil ist zuhause eine gleichartige moralische Degeneration zu sehen.
 
Bewährt exzellent berührte Pedro Almodovar diesmal mit seiner Komödie "Volver", für die es den Drehbuch-Preis gab und den Darstellerinnen-Preis gleich für die ganze spanische Damenriege um Penelope Cruz und Carmen Maura.
Auch bei den Herren wurde ein ganzes Ensemble ausgezeichnet: Die Darsteller, die im recht konventionellen Kriegsfilm "Indigène" den aufopferungsvollen Einsatz französischer Soldaten aus Marokko und Algerien im Zweiten Weltkrieg verkörpern. Schon früh zeigt sich diskriminierender Undank, der zu einem jahrzehntelangen Skandal auswuchs. Der Mexikaner Alejandro González Inarritu ("Amores Perros"und "21 Grams") erhielt für "Babel", einen Film über die Globalisierung des Schmerzes, den Regie-Preis: Drei Episoden, sechs Welten, raffiniert zeitversetzt gezeigt und tragisch miteinander verbunden.
 
Cannes 2006 zeigte sich in einem überaus vielfältigen und mutigen Wettbewerb von der besten Seite: Reihenweise berühmte Regisseure und Star, sowie eine verblüffende Themenvielfalt. Private Familiendramen bei Almodovars "Volver", der irische Bürgerkrieg bei Ken Loach, der Einsatz der französischen Araber im 2. Weltkrieg ("Indigenes"), die Verrohung ("Flandres") und die Kommunikationsunfähigkeit ("Babel") der Menschen, garstige Geldeintreiber ("L'amico di famiglia") und rosarote Königinnen ("Marie Antoinette"). Überraschungen und Sensationen wie etwa "Southland Tales" von Richard Kelly ("Donnie Darko") wurden nicht gewürdigt.
 
Die recht dünne Präsenz deutscher Filme hat niemand wirklich gestört, die nationalen Produzenten halten still und warten auf Regierungs-Entscheidungen in Sachen Steuerbefreiung. Da ist es fast ein Hohn, dass die Filmstiftung NRW mit der Goldenen Palme einen ihrer größten Erfolge feiert und gleichzeitig einer groben Kürzung von 20 Prozent entgegenblickt. Cannes demnächst ohne NRW-Beteiligung? Vermissen wird das dort keiner - vielleicht bemerkt zu spät jemand, dass dann Arbeitsplätze an Rhein und Ruhr fehlen.

27.5.06

C.R.A.Z.Y.


Kanada 2005 (C.R.A.Z.Y.) Regie: Jean-Marc Vallée mit Maxime Tremblay, Alex Gravel, Felix-Antoine Despatie, Mariloup Wolfe, Jean-Louis Roux, Francis Ducharme, Helen Gregoire, Johanne Lebrun, Natasha Thompson 127 Min.
 
Wer den Hit "C.R.A.Z.Y." erleben durfte, wird den gleichnamige Ohrwurm von Patsy Cline nicht mehr los. Der lustvoll historische und ebenso emotional wie komische "Familienfilm" ist eine Top-Notierung unter verfilmten Songs und ein ungemein originelles Coming Out des kanadischen Regisseurs Jean-Marc Vallée.
 
Zachary Beaulieu hatte schon früh ein Problem: Nie bekam er zu Weihnachten, was er wirklich wollte. Wünschte er sich einen Kinderwagen, gab es ein Hockey-Spiel. Nun ist man schon geschlagen, wenn man seinen Geburtstag mit einem gewissen Jesus Christus teilen muss. Das Ganze dann noch in einer besonders religiösen franco-kanadischen Familie. Da kann nur ein Wunder helfen. Es kommt auch, hilft aber gar nicht: Als eine hellseherische Bekannte der Mutter, die Tupperware-Lady, erkennt: "Er hat eine Gabe!", steht das Telefon der Familie nicht mehr still. ("Matrix" lässt grüßen!) Bei jedem Schnitt in den Finger, bei jeder Verstauchung, soll Zac nun heilen.
So viele wundersame und höchst amüsante Aufregungen, da gerät fast in den Hintergrund, dass Zacharys Vater und Held Gervais Beaulieu (Michel Côté       ) an diesen hohen Feiertagen regelmäßig Aznavour schmettert. Das nimmt mit, die Familie nervlich, das Kino hell begeistert.
 
Bei alle der Aufregung - von den vier anderen, ebenfalls sehr besonderen Brüdern Christian, Raymond, Antoine und Yvan haben wir noch gar nichts erzählt - wundert es nicht, dass Zac nicht recht mitbekommt, dass er schwul ist. Doch der einst stolze Papa Gervais muss irgendwann miterleben, wie sein Lieblingssohn in Mädchenklamotten den nachgeborenen Bruder Yvan stillen will. Von da an steht eine eisige Eigernordwand zwischen den vormalig dicksten Kumpeln, die immer heimlich zum Pommes essen fuhren. Und Zac selbst will nicht wahrhaben, was sein Vater nicht ertragen kann.
 
Dieses grandiose kanadische "Ma vie en rosa" wäre nur als schwieriges Coming Out zu lang und zu konventionell. Doch Regisseur und Ko-Autor Jean-Marc Vallée gelang eine begeisternde Hitrevue mit schillernden Menschen und einer ernst zu nehmende Rebellion gegen die Religion. Schon die historische Ausstattung in dem Zyklus der Weihnachts- bzw. Geburtstagsfeiern mit dem Besten aus den Sechzigern, den späten Siebzigern und den frühen Achtzigern bietet Hochgenuss, der Humor ist vom Feinsten und lässt nie lange auf sich warten. Und selbstverständlich die Musik, wenn die ersten Buchstaben der Namen der Söhne zum Titel des Lieblingssongs C.R.A.Z.Y. werden, wenn der Regisseur Vallée für die Rechte an Songs wie Bowies "Space Oddity" angeblich auf Teile seines Honorars verzichtete. Emotionaler Tiefgang kommt von alleine, das Religiöse bleibt durchgehend ein spannender Reibungspunkt. Es gibt mehr als genug Gründe, diesen in jeder Hinsicht gelungenen Film unbedingt sehen zu müssen!

25.5.06

Cannes: Hochrangiger Cannes-Wettbewerb vor Abschluss

Die großen Filmfestivals üben sich in Beschränkung – nur Cannes kann mehr vertragen und hängt noch einen Tag dran. Am Sonntagabend wird die Jury des 59. Internationalen Filmfestivals (17.-28.5.) um den chinesischen Regisseur Wong Kar-Wai die Palmen-Sieger bekannt geben und die Entscheidung zwischen den zwanzig Beiträgen aus aller Welt dürfte nicht leicht fallen.

 

Cannes 2006 zeigte sich in einem überaus vielfältigen und mutigen Wettbewerb von der besten Seite: Reihenweise berühmte Regisseure und Star, sowie eine verblüffende Themenvielfalt. Private Familiendramen bei Almodovars „Volver“, der irische Bürgerkrieg bei Ken Loach, der Einsatz der französischen Araber im 2. Weltkrieg („Indigenes“), die Verrohung („Flandres“) und die Kommunikationsunfähigkeit („Babel“) der Menschen, garstige Geldeintreiber und rosarote Königinnen. Dazu der übliche chinesische Politfilm, dessen Regisseur zuhause wohl ein Berufsverbot erwartet.

 

Lost in Tradition!

In jede Richtung erlaubten sich die Programm-Macher viel: Da kommt etwa die mittlerweile als Regisseurin anerkannte Coppola-Tochter Sophia („Lost in Translation“) nach Frankreich und will den Söhnen und Töchtern der Barrikaden-Kämpferin Marianne erzählen, die verhasste und bei der Französischen Revolution geköpfte Marie Antoinette sei gar nicht ihre verprassende, abgehobene Königin gewesen. Wie in ihrem Erstling „Virgin Suicide“ kreiert die junge Filmemacherin vor allem eine Atmosphäre, ein Schweben in luxuriöser Einsamkeit; absurder Repräsentationszwang und rockige Ausbrüche daraus. Die junge österreichische Prinzessin Marie Antoinette (Kirsten Dunst) wird als fröhlicher Teenager aus politischen Gründen mit dem französischen Thronfolger verheiratet. Die Regeln des Hofes von Versailles machen ihr ebenso zu schaffen, wie ein völlig desinteressierter Gatte, der ihr eigentlich noch ein paar Thronerben zeugen sollte. Schwelgen in Luxus und unzähligen schicken Schuhen dient dem Frustabbau, das weiß Brigitte, Imelda Marcos und jedes weibliche Kind. Dass draußen die Menschen verhungerten, weiß man in diesem Film nicht unbedingt, auch die Hinrichtung Marie Antoinettes wurde ausgeblendet – wir wollen doch keine Flecken im Barbie-Puppenhaus.

 

Der Film brachte die größte von einigen hundert Partys mit sich und ein gewaltiges Feuerwerk. Ein besonderes Highlight für allabendlichen Menschenmassen und Medien, die Stars und Sternchen bewundern. Selbst Werbeveranstaltungen für laute Hollywood-Produktionen verkraftet das Festival auch locker. Nach der großen Aufregung wird der Rote Teppich vom Schmutz befreit und steht wieder der Filmkultur zur Verfügung.

 

Die recht dünne Präsenz deutscher Filme hat niemand wirklich gestört, die nationalen Produzenten halten still und warten auf Regierungs-Entscheidungen in Sachen Steuerbefreiung. Obwohl es nicht zusammen passt, dass mit Förderung der Filmstiftung NRW der renommierte Ken Loach seinen Film im Wettbewerb zeigt, während die heimische Landesregierung diese Kultur- und Wirtschaftsförderung grob um 20 Prozent kürzt. Dadurch Cannes demnächst ohne NRW-Filme?

 

 

 




Cannes: Stahlhütten und Filmpaläste

 

Welch Filmkombination im Wettbewerb: Ein rosarotes Mädchen-Märchen über „Marie Antoinette“ von Coppola-Tochter Sophia. Und der pech-schwarzen Arbeitslosen-Realismus „La Raison du plus faible“ des Lütticher Regisseurs Bruno Dumont. Cannes kann das alles locker in Palast und Wettbewerb unter ein Dach bringen – es ist und bleibt halt das größte Filmfestival der Welt!

 

Lost in Tradition!

Das kommt die mittlerweile als Regisseurin anerkannte Coppola-Tochter Sophia („Lost in Translation“) nach Frankreich und will den Söhnen und Töchtern der Barrikaden-Kämpferin Marianne erzählen, die verhasste und bei der Französischen Revolution geköpfte Marie Antoinette sei gar nicht ihre verprassende, abgehobene Königin gewesen. Wie in ihrem Erstling „Virgin Suicide“ kreiert die junge Filmemacherin vor allem eine Atmosphäre, ein Schweben in luxuriöser Einsamkeit; absurder Repräsentationszwang und rockige Ausbrüche daraus. Die junge österreichische Prinzessin Marie Antoinette (Kirsten Dunst) wird als fröhlicher Teenager aus politischen Gründen mit dem französischen Thronfolger verheiratet. Die Regeln des Hofes von Versailles machen ihr ebenso zu schaffen, wie ein völlig desinteressierter Gatte, der ihr eigentlich noch ein paar Thronerben zeugen sollte. Schwelgen in Luxus und unzähligen schicken Schuhen dient dem Frustabbau, das weiß Brigitte, Imelda Marcos und jedes weibliche Kind. Dass draußen die Menschen verhungerten, weiß man in diesem Film nicht unbedingt, auch die Hinrichtung Marie Antoinettes wurde ausgeblendet – wir wollen doch keine Flecken im Barbie-Puppenhaus. Ob das noch Arthouse ist, muss sich zeigen. Der Nachfolger von „Lost in Translation“ wird es schwer haben …

 

Friede den (Stahl-) Hütten …

Irgendwie grauer sieht es in Lüttich aus, der wallonischen Krisenstadt, die ja von den Dardenne-Brüdern immer so nüchtern in Film gesetzt wird. Die Doppel-Sieger von Cannes hatten gerade nichts fertig, da nahm man „La Raison plus faible“ (Das Recht des Schwächsten) einen Film von Lucas Belvaux, der schwächer ist und deshalb eigentlich kein Recht auf den Wettbewerb haben sollte: Drei ehemalige Stahlarbeiter, einst die „Aristokraten der Arbeiterschicht“, jetzt arbeitslos, darben in Armut, reden von „Vieux temps“ (Alten Zeiten) und trinken das gleichnamige Bier. Als ein befreundeter arbeitsloser Akademiker seiner schwer schuftenden Frau nicht mal ein gebrauchtes Moped kaufen kann, rauben sie das Geld, das mit dem Ausschlachten ihrer alten Fabrik gemacht wird.

Bei der britischen Sozial-Komödie würden wir jetzt raffinierte Ideen und letztendlich ein Happy End erleben. Im Lütticher Stadtteil Droixhe geht alles richtig den Bach (die Maas) runter. Wie in billigen tragischen Krimis der Sechziger stirbt der Held (Regisseur Belvaux selbst) durch die Polizeikugel. Er hat allerdings auch genug dafür getan! So gefallen zwar die Einführung ins Milieu und die Gang der Verlierertypen, aber die Handlung wirkt arg vorgestrig.

 

So facht man keinen Klassenkampf an. Trotzdem sollte Cannes vorsichtig sein, immerhin feiert sich das Festival ja am liebsten auch in einem Palast, wie der von „Marie Antoinette“. Der hat jedoch schon 1968 seine Revolution erleben müssen. Die jungen Wilden um Truffaut und Godard stürmten, verlangten einen neuen, anderen Film. Und bekamen die Quinzaine de Realisateurs, die - zwar an den Rand gedrängt - vortrefflich blüht.

 

Doch es bleibt eine völlig überkomme Geschichte, wie in Cannes Film goutiert wird, mit Ritualen ebenso albern wie die Morgentoilette von Antoinette vor blaublütigem Publikum. Die Herrschenden glauben hier immer noch, zum Filmekucken brauche man einen albernen Anzug und Fliege. Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen benötigt man dazu allerdings nur Augen, Ohren und etwas Verstand!

 

Doch es scheint, als würden die Menschenmassen vor dem Palast diese amerikanische "Marie Antoinette" feiern und nicht die Bastille stürmen. Denn sie bekommen ja in Cannes Brot und ausreichend (Filmfest-) Spiele.




23.5.06

Angel-A

Frankreich 2005(Angel-A) Regie: Luc Besson mit Jamel Debbouze, Rie Rasmussen, Gilbert Melki 91 Min. FSK: ab 12

 

Nach sechs Jahren und vielen schnellen („Taxi“) Produktionserfolgen inszenierte Luc Besson wieder selbst einen Film: In edlem Schwarzweiß huldigt er Paris und verwöhnt die Augen. Das Geschichtchen um ein sehr ungleiches Paar macht dagegen nur einfach Spaß.

 

Nicht die "Die Liebenden von Pont Neuf" sondern die Suizidalen treffen sich auf dieser romantischen Brücke. Der kleine, verzweifelte, übel gelaunte Marokkaner Andre (Jamel Debbouze) sieht den Tod als einzigen Ausweg aus der Schuldenfalle mit bösen Gangstern und noch schlimmeren Drohungen. Aber die große Blonde Angela (Model Rie Rasmussen aus „Femme fatale“) springt zuerst. Nachdem Andre sie gerettet hat, wird Angela zum Schutzengel, löst mit anzüglicher Reinheit alle Geldprobleme und das so beglückte Kerlchen rennt mit den kurzen Beinen nur fassungslos hinterher.

 

„Angel-A“ ist eine kleine, schöne Geschichte mit zwei nett originellen Figuren. Doch vor allem die Ästhetik, die Besson so mutig – kommerziell zu mutig? – auf die Leinwand zaubert, ist faszinierend. Es gibt wahrlich keine Mangel an Paris-Bildern im Film, doch diese fast irreale, oft menschenleere Stadtführung zeigt das Bekannte in neuem Licht.




Hochzeit zu dritt

Hochzeit zu dritt

USA/Großbritannien/BRD 2005 (Imagine me and you)Regie: Ol Parker mit Piper Perabo, Matthew Goode, Lena Headey 93 Min. FSK: o.A.

 

Aus den „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ wurde im Laufe der Jahre eine ganze Trauungs- und Beerdigungsindustrie geworden, so oft wiederholte man das Schema. Diesmal steht Rachel (Piper Perabo) kurz vor der Hochzeit mit dem lieben aber langweiligen Banker Heck (Matthew Goode) als sie sich ausgerechnet in die Blumenhändlerin Luce (Lena Headey) verkuckt. Luce lässt leise Blumen sprechen, hält sich aber ansonsten vorsichtig zurück.

 

Es dauert nur eine mal witzige, mal zähe Weile, bis Rachel sich eingestehen kann, dass sie eine Frau liebt. Die Verwicklungen werden angereichert mit Hecks Freund Cooper, der unbelehrbar glaubt, Lesben könne man bekehren. Doch auch diese Randerscheinung fügt sich ins brave und träge Gesamtbild dieses Filmchens mit TV-Substanz. Es hat zwei, drei Momente, die Dialoge sind im Original ganz witzig (hoffentlich wurden sie auch so synchronisiert), aber selbst das Finale bleibt im Verkehr stecken und die große Stimmungsszene ist nur Tanzen nach Zahlen. Dass dahinter, bei den Produzenten, eine unheilige Allianz von RTL und Filmstiftung NRW steht, gibt diesem Eindruck Gewissheit.




22.5.06

X-Men: Der letzte Widerstand

USA 2006 (X-Men: The Last Stand) Regie: Brett Ratner mit Hugh Jackman, Sir Ian McKellen, Halle Berry 107 Min.

 

Im dritten und sicherlich nicht letzten Teil dieser genetisch-ethisch beschwerten Superhelden-Saga erweisen sich die X-Men als Stehauf-Männchen: Wenn ein x-ter Teil lockt, stellt der Tod für einen skrupellosen Drehbuchautor keine endgültige Barriere mehr dar. Jean steht mit einem lauten Knall wieder von den Toten auf und so erleben wir die menschlichen Frostbeulen, Schlechtwetter-Wolken und Feuerzeuge im immer gleichen Kampf gegen sich und die Langeweile …

 

„X-Men 3“ wirkt in die Länge gezogen wie der Gummimann aus den „Fantastischen Vier“. Die Verfilmung eines Marvel-Comic dürfte nicht an genügend Material und Geschichtchen scheitern, doch Ersatz-Regisseur Brett Ratner beginnt seine vorhersehbare Dramaturgie mit einigen anfüllenden Zeitsprüngen. Dann noch ein Feuerwerk an Heldentaten als Vorspiel im Simulator, das wir schon an den Folge-Generationen von „Star Trek“ kennen. Erst spät die übersichtlichen Handlungen: Einerseits entdeckte man das Wunderkind Jimmy mit der Eigenschaft, die Mutanten „heilen“ zu können. Wobei nicht alle von ihnen als Ausgeburten einer Krankheit angesehen sein wollen. Vor allem Magneto (Sir Ian McKellen) nutzt das Entsetzen unter den genetisch Abweichenden, um neue Truppen um sich zu scharen. Beim gegnerischen Verein, den netten X-Männern und Frauen, die mit den Menschen in Frieden leben wollen, trauert vor allen der Augenblitzer mit der coolen Sonnenbrille um seine Freundin Jean. Als die wieder auftaucht, ist es wie immer, wenn was aus dem Reich der Toten wiederkehrt: Unheimlich und gefährlich. Jean hat jetzt mehr Kräfte als jeder andere Mutant, bringt ihren Meister Charles Xavier (Patrick Stewart) um und schlägt sich auf die Seite von Magneto …

 

Solche Action-Filmchen müssen nicht viel leisten. Sie sollen nur Spaß machen. Doch die „X-Men“ wollen uns mit all ihrer Tragik und dem Gejammer anders zu sein, ein X für ein U (wie Unterhaltung) vormachen. Das Futter der Action-Geschichte blieb gleich: Es geht um Außenseiter und die Verurteilung der Ausgrenzung. Die Besonderen, die Anderen müssen dem Druck der Anpassung widerstehen. Das Ganze vor der Folie aktueller DNA-Forschungen und den Fortschritten in der Gen-Medizin.

 

In dem oberflächlichen und schneller abgedreht wirkenden dritten Aufguss herrscht platte Psychologie. Der Tod der Vaterfigur Charles Xavier ist ganz schnell erledigt, seine Schule muss auf jeden Fall weiter machen. So wie auch die Erfolgsserie „X-Men“ nach weiteren Folgen verlangt. Die neuen Monster Magnetos sind dabei allerdings schäbiger Ersatz, nur die eindrucksvoll dämonische Größe und Zerstörungskraft Jeans macht richtig Eindruck. Beeindruckende Momente bleiben selten, der Höhepunkt vielleicht, als Magneto die Golden Gate zur Dreh- und Luftbrücke macht. Und immer wieder erbärmlich, dass bei der Behaupteten Weiterentwicklung der Menschheit es letztendlich wieder – diesmal unter der Führung des Leitwolfes Logan – auf ganz primitive Prügeleien hinausläuft.

 




Breakfast on Pluto

Irland/Großbritannien 2005 (Breakfast on Pluto) Regie: Neil Jordan mit Cillian Murphy, Liam Neeson, Ruth Negga 135 Min.

 

Der neue Film von Neil Jordan ("The Crying Game") packt vor allem durch seine unglaublich dichte Geschichte jeden Moment: Patrick (Cillian Murphy) ist das ausgesetzte Kind einer Gefühlswallung des Priesters Vater Bernard (Liam Neeson). Schon während der Erziehung in der irisch-katholischen Schule provoziert der freche, extravagante Junge immer wieder die Autoritäten. Als ihm klar wird, dass er von einer Adoptivmutter aufgezogen wurde, haut Patrick mit einer wilden Rock-Band ab, bekommt vom Sänger Unterschlupf in einem Wohnwagen, der als Waffenlager für die IRA dient, wird Assistentin bei einem Zauberer (Stephen Rea), dann Hauptverdächtiger bei einem Bombenattentat: Wer sich als Frau anzieht, muss zu allem fähig sein.

 

Außer der Suche nach seiner Mutter, der mysteriösen der Phantom-Lady, nimmt der schillernde Transvestit nichts Ernst. Wie im Schelmenroman erlebt der gar nicht simple Narr Patrick den Bürgerkrieg der IRA gegen die britischen Besatzer, die ganz nebenbei den Tod eines mongoloiden Freundes in Kauf nehmen. Doch Patrick antwortet der Welt mit einem entwaffnend und so gut wie nie versiegenden Lächeln.

 

"Breakfast on Pluto" ist nach "Butcher Boy" die zweite Patrick-McCabe-Adaption von Neil Jordan. Der Film wurde ein packender Retro-Rausch mit bewegender Geschichte und schillerndem Protagonisten, nicht für einen Moment loslässt.

 

Wie die Hauptfigur Patrick schillernd auch der Film: Realistisch, historisch und gleichzeitig märchenhaft verträumt. Im Freizeitpark spielt er in Plüschkostüm einen kuscheligen "Womble", in Schattenspielen der Liebe die Indianerbraut Geronimos, in einer Fantasie als Geheimagentin mit tödlichem Chanel Nr.5.

 

Lust und Kreativität lassen immer wieder die Eigenartigkeit dieses besonderen Menschen erleben, der von Cillian Murphy eindrucksvoll gespielt wird. Ein prickelnder Musikeinsatz ("Where's your Mama gone") taucht ein in den Glitter-Pop der Siebziger. Zwei Rotkehlchen kommentieren immer wieder das wilde (Liebes-) Leben des Transvestiten.




C.R.A.Z.Y.

Kanada 2005 (C.R.A.Z.Y.) Regie: Jean-Marc Vallée mit Maxime Tremblay, Alex Gravel, Felix-Antoine Despatie, Mariloup Wolfe, Jean-Louis Roux, Francis Ducharme, Helen Gregoire, Johanne Lebrun, Natasha Thompson 127 Min.

Diese Kritik will gesungen werden: Wer den Hit "C.R.A.Z.Y." erleben durfte, wird den gleichnamige Ohrwurm von Patsy Cline nicht mehr los lassen. Der lustvoll historische und ebenso emotional wie komische "Familienfilm" ist eine Top-Notierung unter verfilmten Songs und ein ungemein originelles Coming Out des kanadischen Regisseurs Jean-Marc Vallée.

Zachary Beaulieu hatte schon früh ein Problem: Nie bekam er zu Weihnachten, was er wirklich wollte. Wünschte er sich einen Kinderwagen, gab es ein Hockey-Spiel. Nun ist man schon geschlagen, wenn man seinen Geburtstag mit einem gewissen Jesus Christus teilen muss. Das Ganze dann noch in einer besonders religiösen franco-kanadischen Familie. Da kann nur ein Wunder helfen. Es kommt auch, hilft aber gar nicht: Als eine hellseherische Bekannte der Mutter, die Tupperware-Lady, erkennt: "Er hat eine Gabe!", steht das Telefon der Familie nicht mehr still. ("Matrix" lässt grüßen!) Bei jedem Schnitt in den Finger, bei jeder Verstauchung, soll Zac nun heilen.

So viele wundersame und höchst amüsante Aufregungen, da gerät fast in den Hintergrund, dass Zacharys Vater und Held Gervais Beaulieu (Michel Côté ) an diesen hohen Feiertagen regelmäßig Aznavour schmettert, mit Vorliebe das ziemlich unmöglich nachsingbare "Emmenez moi" mit dem "Ciel du Nord"-Refrain. Das nimmt mit, die Familie nervlich, das Kino hell begeistert. Karaoke gab es damals noch nicht, aber dank Mikro-Eingang wunderbare Duette mit der Vinyl-Platte.

Bei alle der Aufregung - von den vier anderen, ebenfalls sehr besonderen Brüdern Christian, Raymond, Antoine und Yvan haben wir noch gar nichts erzählt - wundert es nicht, dass Zac nicht recht mitbekommt, dass er schwul ist. Doch der einst stolze Papa Gervais muss irgendwann miterleben, wie sein Lieblingssohn in Mädchenklamotten den nachgeborenen Bruder Yvan stillen will. Von da an steht eine eisige Eigernordwand zwischen den vormalig dicksten Kumpeln, die immer heimlich zum Pommes essen fuhren. Und Zac selbst will nicht wahrhaben, was sein Vater nicht ertragen kann. Fortan kämpft der Junge mit einer Lüge und seinem Asthma.

Dieses grandiose kanadische "Ma vie en rosa" wäre nur als schwieriges Coming Out zu lang und zu konventionell. Doch Regisseur und Ko-Autor Jean-Marc Vallée gelang eine begeisternde Hitrevue mit schillernden Menschen und einer ernst zu nehmende Rebellion gegen die Religion. Schon die historische Ausstattung in dem Zyklus der Weihnachts- bzw. Geburtstagsfeiern mit dem Besten aus den Sechzigern, den späten Siebzigern und den frühen Achtzigern bietet Hochgenuss, der Humor ist vom Feinsten und lässt nie lange auf sich warten. Und selbstverständlich die Musik, wenn die ersten Buchstaben der Namen der Söhne zum Titel des Lieblingssongs C.R.A.Z.Y. werden, wenn der Regisseur Vallée für die Rechte an Songs wie Bowies "Space Oddity" angeblich auf Teile seines Honorars verzichtete. (Sein Sohn Emile spielt übrigens den ganz jungen Zac.)

Emotionaler Tiefgang kommt von alleine, da vor allem das Verhältnis von Zac zum störrischen Vater und zur nahezu übersinnlich mitfühlenden Mutter einfühlsam gezeichnet wurde. Das Religiöse bleibt durchgehend ein spannender Reibungspunkt: Mal nett verlacht, dann von Zac verleugnet, als er in der Rauheit des Ferienlagers versinkt. Mit 15 Jahren ist für den Atheisten "Sympathy for the Devil" der große Hit, wie eine der vielen grandiosen Montagesequenzen zeigt. Doch bevor es zum Coming Out kommt, muss Zac noch wie Jesus in Israel in die Wüste und ein paar Wunder überleben. Es gibt also mehr als genug Gründe, diesen in jeder Hinsicht gelungenen Film unbedingt sehen zu müssen!





Dance!

USA 2006 (Take the Lead!) Regie: Liz Friedlander mit Antonio Banderas, Rob Brown, Yaya DaCosta 117 Min. FSK ab 6

Während der spanische Meisterregisseur Carlos Saura gerade seinen filmisch genialen, ästhetisch faszinierenden und tänzerisch herausragenden Flamenco-Film "Iberia" in Deutschland zeigt, verdient sich sein ausgewanderter Landsmann Antonio Banderas ("Zorro") Geld mit Tanzstunden. In seiner Rolle als Tanzlehrer und im übertragenden Sinne: Denn der ohne Höhepunkte runtergespielte Part diente wohl hauptsächlich dem Gelderwerb. Und mit den Moneten dreht er gerade seinen eigenen Film zuhause in Malaga.

Von seinen elitären Schülern ist Pierre Dulaine (Antonio Banderas) eher gelangweilt. Und so beschließt er spontan, etwas Verrücktes zu tun, nachdem er sieht, wie drei schwarze Schüler ein Auto zertrümmern. Mit seinem Anzug, vorzüglichen Manieren und einem Fahrrad, begibt er sich Kampfzone einer öffentlichen Schule in New York. Schwarze, Latinos und ein paar Weiße werden dort eher verwahrt als ausgebildet. Nur als Scherz akzeptiert die harsche Direktorin, dass Dulaine das Nachsitzen in eine Tanzstunde verwandelt - für Standardtänze wohlgemerkt! Mit entschlossenem Idealismus schreitet der Anzugtyp gegen die Front der aggressiven HipHopper - das Kollegium amüsiert sich über diese Naivität.

Mit lautem Irving Berlin zwingt Dulaine seinen Schüler-Ausschuss zuzuhören, und er überzeugt sie schließlich mit einem heißen Tango Nuevo und einer aufreizend Tanz-Partnerin. Dulaine - er versteht sechs Sprachen und spricht fünf, alle mit spanischem Akzent - ist Verführer mit Philosophie. Denn die Disziplin des Tanzes soll auch für das harte, recht chancenarme Leben den Charakter bilden. Das rücksichtsvolle Miteinander von Boy und Girl soll den nicht besonders einfühlsamen Umgang der Geschlechter kultivieren.

Frack und Lackschuhe stehen hier Baggy Hosen mit tiefem Schritt und dem Strass des Clubdresses gegenüber. Die Konfrontation verschiedener Kulturen und Gesellschaftsschichten wird erst ideologisch entspannt mit der Geschichte vom afrikanischen Ursprung einiger Tänze. Also kein überflüssiger Zeitvertreib der Sklavenhalter, doch das soziale Element ist immer dabei, wenn die Kids kein Geld für Tanzstunden haben und wenn alles wieder auf den finalen Wettbewerb mit Geldpreis hinausläuft. Das Tango-Finale bestreiten zwei Jungs und ein umkämpftes Mädel zu dritt und tanzen so die Eifersucht des realen Lebens aus. Vor allem die flotten musikalischen Sequenzen und Montagen gelangen in diesem deutlich kalkulierten Gesellschafts-Tanz-Film. Wie Pierre Dulaine Kultur in eine raue Umgebung bringt, basiert auf einer wahren Geschichte und hat mittlerweile in den ganzen USA Schule gemacht.


21.5.06

Cannes: Es cannes nur Einen geben,

"Donnie Darko"-Regisseur Richard Kelly teilt mit seinem Pulp Science-Fiction "Southland Tales" Cannes in Gestern und Morgen

 

Von Günter H. Jekubzik

 

Cannes. Die Filmfestspiele von Cannes zeigen 2006 im Wettbewerb neben den üblichen Palm-Verdächtigen viel von der Art "Hat der nicht vorher ...". Filmemacher an der entscheidenden Schwelle vom "Es kann nur einen (Erfolg) geben" zum "Be-Cannes-ten", zum Dauergast in Cannes. Von dort ist dann ur noch eine Frage der Zeit bis man zum Mobiliar gehört wie Wim Wenders, Wong Kar-Wai oder die Brüder Dardenne.

 

Der gerade mal Dreißigjährige Richard Kelly hat vor fünf Jahren (!) den sagenhaften und legendären Kult "Donnie Darko" gemacht, der bei mindestens einer Generation als Bester Film aller Zeiten im DVD-Regal steht. Jetzt folgt ein größerer, lauterer Science Fiction aus dem Kalifornien des Jahres 2008 und die Frage, ob Kelly nach der verspäteten Sensation "Donnie Darko" freie Hand von Hollywood bekam. Bei einem wilden Gemisch aus Jubel und Buhrufen beim Abspann ist klar: Dieser Film kann nur einschlagen wie einst Pulp Fiction oder gänzlich untergehen.

 

"Southland Tales" setzt die Endzeitstimmung von "Donnie Darko" fort: This is the way the world ends - So wird die Welt enden ... Aber davor haben wir noch fast drei Stunden Zeit, die mit einer komplexen Geschichte um Neo-Marxisten (die letzten Rest der Demokraten), Zeit-Verschiebungen, verwirrten Stars, allgegenwärtigen Ex-Pornosternchen und wahnsinnige Wissenschaftlern bis zum grandiosen Finale in alle Richtungen unterhalten.

 

All das zwischen Science Fiction und Pulp, zwischen politischer Kritik mit einer treffenden Bush-Double und kultfähigen Momenten ist schwer auf die Reihe und noch schwerer in diese Zeilen zu bekommen. Nach der Atombombe und versiegten Ölkriegen installierten deutsche (!) Wissenschaftler namens "von Westfalen" jedenfalls vor der Küste eine sagenhafte, per Funk übertragbare alternative Energiequelle namens „Fluid Karma“. Ein kleiner Nebeneffekt droht allerdings die Drehung der Erde zu verlangsamen und so erleben wir seltsame Erscheinungen wie ein Spiegelbild, das um ein paar Sekunden asynchron hinterherläuft! Das alles macht anfangs und mittig nur Spaß und erst am Ende und einem grandiosen Finale auch Sinn. Dann kann man allerdings wieder das Word „Kult“ herauskramen, darf man „Blade Runner“ herbei zitieren, augenzwinkernd „Highlander“ Christopher Lambert bemerken („Es kann nur einen geben“) und auf eine Goldene Palme hoffen. Ganz verstanden hat „Southland Tales“ außer den Machern wohl noch kaum einer. Dazu ist er zu dicht, zu kryptisch - genial oder konfus werden Zeit und Exegeten.




19.5.06

Cannes: Pedro Almodovar verlacht Tod und Tränen

Volver

 

Cannes. Pedro Almodovar kehrt zurück - in die vom Winde verwehte Region seiner Kindheit. Und mit "Volver" in den Wettbewerb von Cannes, wo er noch Rechnung offen hat: Er bringt nicht nur Frauen an den Rand des Tränenausbruchs, „Volver“ macht Spaß, ganz tief im Herzen.

 

"Alles über meine Mutter" war im Wettbewerb 1999 der eindeutige Favorit, alle waren sich einig - nur die Jury nicht. Die wählte Gus van Sants "Elephant" zum Besten Film, gab dem wohl zweitbesten Film die Goldene Palme. Nun die Rückkehr Almodovars - Volver heißt im Spanischen "zurückkehren". Und wieder dreht sich "Alles um (s)eine Mutter": Vom Begräbnis ihrer Tante in der windzerzausten Ebene La Mancha bringt Sole im Kofferraum des Autos den Geist der eigenen Mutter Irene (Carmen Maura) mit. Diese hilft fortan im illegalen Friseurladen mit und wird als Russin ausgegeben. Denn anders als im La Mancha-Dorf glaubt man in Madrid nicht an Geister. Das tut auch Soles Schwester Raimunda (Penelope Cruz) nicht, obwohl Irene gerade mit ihr noch ein Hühnchen zu rupfen hat. Allerdings hat Raimunda für diese Dinge gar keine Zeit, weil Tochter Paula gerade ihren Stiefvater erstach, der sie vergewaltigen wollte und jetzt in der Tiefkühltruhe schlummert.

 

„Volver“ ist eine Komödie, in der Almodovar nach eigener Aussage erstmals ernst wurde. Denn es geht auch um den Tod, der Almodovar "in den letzten Jahren das Leben zerstört hat". Der spanische Meister schafft es, mit unfassbarer Leichtigkeit zu erzählen - von einem ganz schweren Thema. Und er zeigt eine tief berührende Menschlichkeit in seinen Figuren und seiner Sicht auf die Menschen. In diesem windgepeitschten Dorf mit der höchsten "Verrücktheits-Rate" ganz Spaniens. Mit den abergläubigen Menschen, die wie verrückt und wie Sisyphus die Grabsteine entstauben und polieren, war es als sensibler, kreativer Schwuler sicher alles andere als einfach, groß zu werden. Doch Almodovar widmet diesen katholischen Dörflerinnen nur liebevollen Humor. Männer sind hier wie auch in Madrid völlig überflüssig, „frau“ kommt besser zurecht, wenn sie erst entsorgt sind. Die Frauen schweigen zur sexuellen Gewalt, zu den Verbrechen, sie lösen es ganz pragmatisch „unter sich“.

 

Mit „Volver“ kehrt Almodovar zurück in die Region La Mancha, zu "seinem Dorf", zu seinen Menschen. Das Lied aus Operette "La rosa del azafran" zu Anfang des Films sang seine Mutter mit anderen Frauen beim Wäschewaschen am Fluss seiner Kindheit. Der Fluss kehrt wieder als Metapher für das Verfließen der Zeit.

 

Der Madrilene kehrt auch zurück zu seinen Schauspielerinnen Penelope Cruz („Live Flesh“, „Alles über meine Mutter“) und Carmen Maura ("Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs"). Wieder dreht sich alles um die Frauen, nur nicht so überdreht wie damals - der Mann wird auch nicht jünger. Aber menschlicher: Almodovar ist eindeutig nicht gläubig, aber glaubt an das Leben und die Menschen, und die glauben.

 

Ob „Volver“ mit Leichtigkeit überzeugen kann, wird die Zeit zeigen. Vielleicht muss Almodovar die gleiche Tragik erleben wie, Jury-Präsident Wong Kar-Wai, der mit seinem besten Film „In the mood of love“ zum falschen Zeitpunkt in Cannes war. Aber das würde der Drama-Queen Almodovar auch ganz gut gefallen.


18.5.06

Cannes: Ken Loachs irischer Befreiungskampf im Wettbewerb

Zerstrittene Freiheit

Cannes. Gleich zu Anfang des Wettbewerbs trumpfte mit Ken Loach einer der großen, alten Meister auf. Obwohl Loach sich gegen „groß“ wehren würde. Er ist ein kleiner, bescheidener, aber sehr energischer Mann, der nächsten Monat 70 Jahre alt wird. Und er setzt sich ein für die anderen „Kleinen“, für die Hungernden, die Unterdrückten, die Gefolterten und Entrechteten. Immer wieder, im Jetzt und in der Vergangenheit. Mit „The wind that shakes the barley“ schaut der Brite nach nebenan, analysiert und dramatisiert drastisch den Kampf der Iren gegen brutale britische Kolonialisten. Aber auch den Niedergang der Utopie einer sozialistischen irischen Republik lässt der alte Kämpfer an der filmischen Rotfront nicht aus.

Im Irland des Jahres 1920 beginnt es harmlos mit einem Hockey-Spiel der Männer auf dem Feld. Und endet mit dem grausamen Tod eines jungen Mannes, der sich die Schikane und die Erniedrigungen der englischen Soldaten nicht mehr gefallen ließ, der sich weigerte, seinen irischen Namen englisch auszusprechen. Nach nur zehn Minuten will man nie wieder einen britischen Pfund in London oder sonst wo im British Empire ausgeben. Nach einer halben Stunde ist man bereit, alle Queen Mum und Princess Diana-Tassen dieser Welt zu zerschmettern, so wirkungsvoll lässt Loach sein Publikum, die Unterdruckung, die Folter und die Exekutionen erleben!

Doch „The wind that shakes the barley“ (der Titel entstammt einem Gedicht von Robert Dywer Jones) ist kein verlogenes Hollywood-Märchen von Unterdrückung und Befreiungskampf. Mit dem jungen, engelsgesichtigen Mediziner Damien (Cillian Murphy) fühlt man auch, was es heißt, Menschen für die eine oder andere politische Direktive umzubringen, wie sehr die Seele daran verkrüppelt, wenn das große Ziel den Mitmenschen zur eliminierbaren Spielfigur macht. Nicht nur die frühe IRA und die Briten bringen sich und die Menschen dazwischen um. Später – als die Briten Irland (nicht Nord-Irland!) schon verlassen haben - geht das Morden zwischen den Fraktionen der Befreiungskämpfer weiter, klassisch angelegt im Kampf zwischen Damien und seinem älteren Bruder Teddy (Pádraic Delaney).

Historische Genauigkeit zeichnet diesen zeitweise konstruiert wirkenden Loach aus, etwa darin, nicht die jungen britischen Soldaten als Bösewichte zu zeichnen, sondern die herrschende Schicht der Ausbeuter verantwortlich zu machen. So wäre es fast putzig, wenn es nicht so grausam wäre, zu sehen, wie Amateure des Guerilla-Kampfes es mit einer Armee aufnehmen, die seit Jahrhunderten in Ausbeutung und Unterdrückung von Völkern weltweit spezialisiert ist.

Für solche bewegenden und erhellenden Momente liebt man Cannes dann wieder besonders, dass diese zeitlos gültige Analyse, dieser soziale Kampffilm auf dem pompösen Roten Teppich gefeiert wird. Zum Trotz all der Finanzierungsprobleme, die Loach mit seinen Themen hat. Ausgeholfen hat erneut die Filmstiftung NRW, zum Glück nicht mehr aus Rache des Rheinlandes für die Besetzung durch die Franzosen. Auch in Sachen Filmförderung sind wir inzwischen alle Brüdervölker.

17.5.06

Cannes: Paris, je t’aime

Kompakte Eröffnung bei „Un Certain Regard“

Der Eröffnungsfilm „Paris, je t’aime“ der Nebensektion "Un certain regard" (etwa: Der besondere Blick) bot eine anderes faszinierendes Zeitphänomen: In einer Perlenkette ganz kurzer Episoden gab es ein ganzes Festival im Schnelldurchgang: Meisterregisseure, Cannes-Sieger wie Gus van Sant oder Walter Salles und Schauspielstars wie Juliette Binoche, William Dafoe, Elijah Wood oder Nick Nolte verzaubern mit Drama, Abschieden, Horror und Liebe, vor allem Liebe. Wir sind schließlich in Paris - auch wenn hier nicht alles wie im Reiseführer ist, wie Steve Buscemi in der Coen-Episode erleben muss. Er wird von einem eifersüchtigen Franzosen in der U-Bahn zusammengeschlagen und mit seinen Paris-Andenken überschüttet. Angesichts dieser misslichen Lage erhält das Lächeln der Mona Lisa wieder eine ganz andere Bedeutung als im „Da Vinci Code“. Als weiteres Deja Vue dekorierte das Festival übrigens seinen Palast mit riesigen Variationen der Mona Lisa – mal punkig, mal kitschig. Und im luxuriösen Jacht-Hafen von Cannes verbirgt eine riesige schwarze Pyramide keine Geheimnisse sondern die Party-Gäste des Eröffnungsfilms.

Der schnellste Liebesgeschichten-Erzähler von „Paris, je t’aime“ ist übrigens Tom Tykwer in "Faubourg St. Denis". Natalie Portman erlebt im genialen Zeitraffer die Jahreszeiten einer Liebe und das Publikum eine schöne Überraschung. „Hobbit“ Elijah Wood erfährt, dass es neben dem French Kiss (Zungenkuss auf Englisch) auch einen „Vampires Kiss“ in den Straßen von Paris gibt. Diese innige Vereinigung bekam sogar Szenenapplaus.

Cannes: Eröffnung "Da Vinci Code"

Rätselhafte Zeitverschiebung in Cannes

Eröffnungsfilm "Da Vinci Code" bricht Grenzen des Festivals

Cannes. Es waren noch 24 Stunden bis sich für die 59.Filmfestspiele Cannes (17. - 28.Mai 2006) der Vorhang heben würde. Die schöne anglo-französische Starmischung von Tom Hanks und Audrey Tautou musste noch eingeflogen werden. Doch schon war das Kino überfüllt, mussten einige Zuschauer draußen bleiben. Grund für den aufgeregten Ansturm bei dieser verfrühten Pressevorführung war allerdings nicht die besondere Qualität eines Films, sondern die dreiste Marketing-Strategie seines Produzenten. Weltweit startet der "Da Vince Code" nach Dan Browns Bestseller (dt. Titel: Sakrileg) am heutigen Donnerstag. Weltweit bekam ihn die Presse erst gestern zu sehen. Die Weltpremiere für die Öffentlichkeit erfolgte - dies ein genialer Marketingzug - als Eröffnung der Filmfestspiele von Cannes. Alles was vorher in Monats-, Wochen- oder sonstigen Zeitungen stand, war Werbemitteilung oder der Eindruck eines 35-minütigen, chaotisch geschnittenen Trailers. Und so kamen sie aus den Restaurants, Bars und Hotels, die Filmkritiker aller Welt, um als erste "Da Vinci" zu sehen. In den Jahren zuvor nutzten die unaufgeregten Genießer unter ihnen den Dienstag vor Cannes zum Ankommen. Sie sahen sich höchstens gemütlich die Boule-Spieler des Küstendorfes an. Jetzt mussten sie direkt ran, kamen mit guter Stimmung und ließen sich von der uninspirierten Bestseller-Pflichtverfilmung nicht die Vorfreude auf GUTE Filme vermiesen. Denn der "Da Vinci Code" bietet ja so viele Steilvorlagen: Der einzige Lacher, als Ian McKellen meint: "Trau den Franzosen nicht!" Dachte er an die Wachleute in Cannes, die freundlich entschlossen so tun, als wollen sie mit ihren Metalldetektoren unbedingt eine iranische Atombombe in den Hand- und Aktentaschen finden? Oder das wilde Interpretieren des "Symbologen" Tom Hanks der schließlich entdeckt, dass Audrey Tautou entfernt mit Jesus verwandt ist - erinnert das nicht an die schwere Deutungsarbeit mit den Filmen der nächsten Tage? Nur dabei wird ein so eindeutiges Ergebnis ausbleiben. Und die geradezu vom Pfingstgeist erfüllte drei-sprachige Verständigung zwischen Franzosen, Amerikanern und Lateinern (Opus Dei). Im Gegensatz zum verzweifelten Versuch, mit mittelprächtigem Französisch in Cannes irgendwas zu wollen. Doch etwas bleibt von diesem Film in Erinnerung (wie hieß er noch?): Nie zuvor begann ein Festival mit 24-stündiger Verfrühung. Es kann einige richtige Festivaltage dauern, bis man das Kino wieder so gefüllt sehen wird.

15.5.06

Private


Italien 2004 (Private / Diskrétne) Regie: Saverio Costanzo mit Mohammed Bakri, Lior Miller, Tomer Russo, Arin Omary, Hend Ayoub 90 Min. Arabisch/Englisch/Hebräisch/ m. dt. UT
 
Israels bekanntester Filmemacher umspannt seit Jahrzehnten mit seiner Filmreihe um das "Haus" die Problematik von besetztem Land, wo die ehemaligen Bewohner zu unerwünschten Untermietern werden. Der italienische Regisseur komprimierte die Parabel um Haus und Heim auf einen ganz konkreten, eng umgrenzten Ort und eine kurze Zeitspanne und feierte mit "Private" weltweit Festivalerfolge.
 
Der Palästinenser Mohammed B. (Mohammed Bakri) lebt mit seiner fünfköpfigen Familie in einem alleinstehenden Haus nahe einem israelischen Militärstützpunkt. Aus heiterem Himmel beschließt die israelische Armee, das Haus als strategisch wichtigen Ort zu besetzen, platzt in das normale Familienleben. Doch Mohammed lässt sich nicht so einfach vertreiben, mit dem störrischen Hausbesitzer treffen die Hausbesetzer eine absurde Vereinbarung: Die Israelies okkupieren den oberen Stock, die Familie wird unten zusammen gepfercht. Tagsüber darf sie ihr "normales" Leben weiterführen, in der Nacht jedoch wird das Zimmer abgeschlossen: Ausgangssperre.
 
Doch auch Mohammed nimmt seine Familie als Geisel, er zwingt sie, im Haus zu bleiben und Normalität zu behaupten. Vor allem seine Frau bleibt allein zuhause mit den groben, lärmenden Israelis. Die Freundin der Tochter darf nicht mehr vorbei kommen. Die kleine Nada spricht nicht mehr nach einer traumatischen Nacht, die sie wegen der Ausgangssperre vor der Tür verbringen musste. Die rebellische größere Tochter hingegen schleicht sich trotz Todesgefahr öfters nach oben, belauscht die (in Englisch sprechenden) Israelis, versteckt sich notgedrungen im Schrank. Aber auch die Besatzer fühlen sich belagert, wild schießen sie während einer Panik im Dunkeln um sich...
 
Auf wenigen, sehr menschlichen Quadratmetern inszeniert und komprimiert Regisseur Saverio Costanzo den komplexen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Eine frappant einfache Parabel in der Metapher des gemeinsamen Hauses. Das passt und packt zu Beginn mit dichter Handkamera, leider gibt es nicht mehr viel Entwicklung in der zweiten Hälfte. Trotzdem ist es zugleich erschreckend und einleuchtend, die Mechanismen der Unterdrückung so klar zu erkennen. So gewann "Private" auch verdient den Goldenen Leoparden als Bester Film und einen Bronzenen für den Besten Darsteller (für Mohammed Bakri) beim Filmfestival von Locarno 2004.

Napoleon Dynamite


USA 2003 (Napoleon Dynamite) Regie: Jared Hess mit Jon Heder, Jonathan Gries, Aaron Ruell 95 Min. FSK: o.A.
 
Absonderlich, abstrus, kurios, befremdlich, bizarr, eigenartig, merkwürdig, eigenartig, grotesk, wunderlich, seltsam ... noch mehr Synonyme für diesen Ausnahmefilm gefällig? "Napoleon Dynamite", die helle, die Monty Python-Version von "Donnie Darko" begeistert in vielfältiger, aber immer skurriler Art und Weise.
 
Die Handlung (er)zählt hier endlich mal gar nicht. Höchstens als Veralberung abgedroschener Außenseiter- und Schulgeschichten. Teenager Napoleon Dynamite (Jared Hess) trägt seine absonderlichen Verhaltensweisen mit größter Selbstverständlichkeit herum. Die Kleinstadt kuckt ihn schräg an, er kuckt einfach vorbei. Wenn Napoleon seinen skatenden Bruder mit dem billigen Rennrad zieht, der Nachbar seine Kuh hinrichtet, die Zeitmaschine von eBay Verbrennungen an empfindlichen Teilen verursacht - dann ist dies alles fürchterlich uncool und dadurch umwerfend komisch. Selten so seltsam gelacht!
 
"Napoleon Dynamite" ist durchgehend skurril, von den äußerst seltsamen Typen, deren Aussehen, Bekleidung und Spiel, den Kamerawinkeln, den Kulissen und Farben. Wer uninformiert hineinblickt, glaubt sich in einem Sketch für irgendeine Blödelshow. Alle Figuren blicken stoisch ins Nichts und schon dabei liegt man unter dem Kinosessel! Kein Wunder, dass "Napoleon Dynamite" (was soll eigentlich dieser unpassendste aller Namen?) zwei Jahre gebraucht hat, um über den Teich zu kommen. Und wiederum überzeugend, dass kein vernünftiger Mensch den Weg dieses wunderbar unvernünftigen Films verhindern konnte!

Tristan & Isolde

Großbritannien, BRD, Tschechien USA 2006 (Tristan & Isolde) Regie: Kevin Reynolds mit Rufus Sewell, James Franco, Sophia Myles 125 Min.
 
Ganz erdig und handfest verarbeitet die europäische Historien-Romantik-Action "Tristan & Isolde" die gleichnamige, uralte europäische Geschichte. Sicher kein weiterer kultureller Meilenstein nach Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Wagner von Bayreuth und Mann vom Zauberberg. Und auch kein Action- oder Genre-Highlight. Aber immerhin solide Unterhaltung mit ein paar guten Schauspielern.
 
Lang, lang ist's her, da haben die Iren mal die Briten unterdrückt, ausgeplündert und verfolgt. Bei einem dieser Überfälle rettet Lord Marke von Cornwall (Rufus Sewell) das Kind Tristan, verliert dabei eine Hand, aber zieht es fürderhin wie einen Sohn auf. Dieser dankt es Marke mit Mut und Intelligenz, wird zum Anführer eines jugendlichen Widerstandes. Doch bei einer erfolgreichen Geiselbefreiung stirbt Tristan (James Franco) durch ein vergiftetes Schwert den Scheintod, wird mit Fürstenehren in einem Boot beigesetzt und landet am anderen Ufer ausgerechnet in Irland, wo ihn die schöne Herrschertochter Isolde (Sophia Myles) liebevoll gesund pflegt. Wie bei jungen Leuten und im Film so üblich, mögen sie sich auch besonders gern, die Hüllen fallen schnell und so manche Träne wird zerdrückt, als Tristan vor dem bösen irischen Schwiegerpapa König Donnchadh wieder nach Hause fliehen muss. Dort in Engeland führen hintertückische Intrigen zu einem Turnier, bei dem Tristan unwissentlich die Hand von Isolde gewinnt - für seinen, es sei nicht vergessen: einhändigen Ziehvater Marke. In einem schrecklichen Konflikt zwischen Loyalität und Liebe entscheiden sich die Turteltäubchen für gemeinsame Schäferstündchen unten am Fluss. So was kann ja nicht gut gehen ....
 
Erst nach einer Stunde steht die bekannte tragische Konstellation und vor allem wurde sie ohne Liebestrank und Zauberei aufgebaut. Denn in den Sagenstoffen, die bis ins 6. Jahrhundert zurück zu verfolgen sind, verlieben sich Tristan und Isold durch magische Mixturen unsterblich, quasi gegen ihren Willen. Heute ist der eigene Wille "King" und deshalb ist die recht untragische Anpassung vielleicht verständlicher als der alte Erzählstoff. Dessen zentrales Drama bleibt so nur noch die romantische Würze in einem Euro-Eintopf aus alten Kostümen, kampfbetonter Action und nationalen Ränke-Mythen.
 
Vor allem das Spiel von Rufus Sewell als Lord Marke von Cornwall hat Hand und Fuß - Verzeihung: geht durch Mark und Bein. James Francos Tristan kuckt immer so stoisch oder betroffen drein, als hätte ihm jemand grad den iPod geklaut. Isoldchen Sophia Myles spielt hübsch blond, könnte vielleicht mehr, doch das Drama der Liebenden steht nur im Titel zentral. Regie hatte Kevin Reynolds, der schon für Kevin Costner die alte Geschichte von Männern in Strumpfhosen - Robin Hood - inszenierte.

12.5.06

Iberia


Meisterlich! Mit "Iberia" zeigt sich Carlos Saura auf dem Höhepunkt seiner Kunst. Die Betonung liegt auf "seiner", denn niemand zeigt Tanz so atemberaubend bewegt in sich immer wieder verändernden Räumen. So erleben wir Meister des Flamenco kongenial in Bewegung und Szene gesetzt vom spanischen Meister des Tanzfilms.
 
Der über 70 Jahre alte Saura (geb. 4. Januar 1932 in Huesca, Aragon) war schon immer fasziniert vom Flamenco. "Bodas De Sangre" (1981), "Carmen" (1983), "El Amor Brujo" (1985), Sevillanas (1991) und vor allem der "Iberia" ähnelnde "Flamenco" (1995) leben von dieser Musik. "Iberia" nun ist eine Reise durch Klanglandschaften Spaniens. Leitfaden und titelgebend für den Film sind Kompositionen des spanischen Pianisten und Komponisten Isaac Albéniz (1860-1909), einer Leitfigur in der Hervorbringung eines nationalen Stils in der Musik Spaniens. Zu seiner Musik, die er für Klavier geschrieben hat, zählen die vier Teile der Suite „Iberia".
 
Die Vereinigung von klassischem Ballet, zeitgenössischem spanischen Tanz und vielen Flamenco-Variationen ist einerseits Dokumentation, dann wieder höchst artifizielles Kunstwerk. Gleich zu Anfang eine der komplexesten der zahlreichen Szenen: Das Klavierspiel, die Tänzer, das Aufnahmeteam, Projektionen auf Vorhänge - alles fügt sich vermittels Fahrten, Schwenken, dem Kran und bewegten Spiegeln harmonisch in ein Bild, eine Sequenz. Es sind "mise en scene"-Meisterstücke und gleichzeitig betörende Leinwand-Gemälde.
 
Saura sagte zur Inszenierung von Tanz für den Film: "Beide Elemente hängen intrinsisch zusammen. Die Idee einer ‚lebenden' Szenerie, einem Raum, der unter Verwendung von Trennwänden sein Volumen verändert, der sich dem Moment, dem Tanz und den beteiligten Musikern anpasst, hat ihren Ursprung in meiner Einstellung, dass jedes „atrezzo" oder jede Requisite die Aufmerksamkeit vom Kern der Darbietung, dem Künstler, abzieht. Das Hauptproblem bei der Adaption von Tanz für das Kino ist, dass es hier unmöglich ist, zwei Aktionen zur selben Zeit zu ‚sehen'. Ganz anders beim Theater, bei dem es leicht ist, von einer Stelle, an der gerade eine Aktion stattfindet, auf eine andere überzugehen und dennoch zwei vermeintlich ‚gleichzeitige' Momente wahrzunehmen. Das Auge ist die beste Kinokamera, die je erfunden wurde.  In der cinematografischen Realität ist es nicht möglich, so frei zwischen zwei Orten zu wechseln. Hier muss man eine Wahl treffen, und dies resultiert immer in einer der schmerzvollsten Entscheidungen: Welches szenische Fragment bleibt im Kasten und welches soll auf der Leinwand bleiben? Aber es eröffnet sich eine neue Welt durch die Videoprojektionen auf den Trennwänden."
 
Dieses "mise en scene" verwandte Saura auch in seiner fiktiven Filmbiographie "Goya in Bordeaux" (1999). Doch hier scheint er ganz in seinem Element: "Wieder einmal stehe ich der magischen Kombination von Musik und Kamera gegenüber, die mich so fasziniert und die ihren Zenith beim Musical erreicht. Obwohl diese filmische Form auch auf anderer Weise umgesetzt werden kann, so bevorzuge ich doch diese reine Form, die frei ist von künstlichen narrativen Aspekten."
 
"Iberia" zeigt erstklassige Tänzer und Choreographen wie Sara Baras, Antonio Canales, José Antonio, Aida Gómez und Patrick De Bana. Unter den Musikern befinden sich Größen wie die Gitarristen Manolo Sanlúcar, Gerardo Núñez und José Antonio Rodríguez, die Pianisten Rosa Torres Pardo und Chano Domínguez, der Flamenco-Jazz-Star Jorge Pardo sowie der großartige Sänger Enrique Morente und seine außergewöhnliche Tochter Estrella Morente. Die Abfolge von Einzelszenen bleibt spannend, auch weil Saura immer wieder kleine Prologe einflicht, in dem die Tänzer sich kurz vorbereiten, tief durchatmen, Spannung im Körper aufbauen. Immer wieder lösen die losen Szenen Gänsehaut, Rührung und Bewegungslust aus. "Iberia" geht ins Blut, in die Füße, die Hände. Das so eigentümliche Klatschen des Flamenco geht über in den Beifall des Herzens.
 
Auch wenn Ibera hochgradig stilisiert wirkt, erfordert Flamenco wie der Jazz eine besondere Aufnahmetechnik: "Flamenco-Tänzer wissen nicht genau, warum ihr Tanz sich plötzlich gut und richtig anfühlt und sie 10 Minuten später nicht mehr diesen Punkt erreichen können. Es gibt keine Regeln für ihre Kunst, sie kann nicht standardisiert werden. Deshalb ist es in diesen Fällen unsere Pflicht, immer ohne Verzögerung zu reagieren, sobald die Magie erscheint. Es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass die Kamera nicht bloß illustriert, was vor ihr geschieht, sondern mein Auge, meine Sichtweise, meine Wahrnehmung davon ist, wie Tanz gesehen werden sollte." (Saura)
 
Die Spannweite der musikalischen Stimmungen, Stile wie auch der inszenatorischen Varianten ist enorm: Mit dem Namen Cordobas, der ehemalige Stadt der drei Weltreligionen, ist eine fast graphische Episode betitelt: Schwarze arabische Schleier begegnen weißen Nonnengewändern, Schattenrisse und unendlich blauer Himmel bei drohend tiefem Bass. In "Almeria" ein jugendlicher Hahnenkampf, Gangs beeindrucken sich mit Flamenco, der in einem kleinen Drama Liebe, Eifersucht und Konkurrenz mit Michael Jackson-Einlagen und Break Dance verkörpert. Dann zu "El Albaicin" ganz moderner Tanz, das erschreckend faszinierende Solo-Duett einer Frau (Marta Carrasco) mit Plastikfolien. Ein stiller Kampf mit lautlos lauten Schreien. Selbstverständlich auch einige der Varianten des gängigen und bei uns doch weitgehend unbekannten Flamenco: Gitarre, Gesang, Tanz, Explosionen purer Leidenschaft.
 
Obwohl der Film für nicht mal drei Millionen Euro gänzlich im Studio gedreht wurde, zaubert Saura auch mal ein Lagerfeuer, mal ein veritables Gewitter in all die Künstlichkeiten der Sets. Doch ein magisch echter Moment in all der Inszenierung ist die im Film festgehaltene Frage einer perfektionistischen Tänzerin: "Otra vez, no?" (Machen wir es besser noch einmal?) Es ist zu hoffen, dass nicht nur ein speziell an Musik, Flamenco und höchster Filmkunst interessiertes Publikum aufschreit: Noch einmal!
 
(Die deutsche Verleihversion scheint eine gekürzte zu sein, die Angaben vom Filmmarkt Cannes sprechen noch von 120 Minuten statt der 91 bei MFA.)

Spanien 2005,
Regie und Buch: Carlos Saura
Choreografie: José Antonio, Darsteller: Sara Baras, Manolo Sanlucar, Antonio Canales, Aida Gomez, Enrique Morente, Estrella Morente, Rosa Torres-Pardo, Jose Antonio, Chano Dominguez, Jorge Pardo, Gerardo Nunez, Patrick De Bana, Miguel Angel Berna
Länge: 91 Min OV
Kinostart: 25.05.2006

10.5.06

TV-Spielfilm-Preis für Theo van Gogh

Bei der Cologne Conference 2006 wird der vor zwei Jahren ermordete niederländische Regisseur Theo van Gogh mit dem TV-Spielfilm-Preis ausgezeichnet. Seine letzte Arbeit, die Fernsehserie „Medea", wird damit als bester fiktionaler Beitrag des diesjährigen Kölner Film- und Fernsehfestes gewürdigt. Aus der gewaltvollen Sage vom Kindermord der Medea machte van Gogh eine Parabel über die moderne niederländische Politik.
 
Der Preis wird am 22. Mai 2006 im Rahmen der Cologne Conference im Cinedom in Köln verliehen. Er ist mit 10.000 EU dotiert. Die Cologne Conference ist eine Veranstaltung des medienforum.nrw, das vom 21. bis 24. Mai 2006 mit vielen Kino- und TV-Premieren, Diskussionen und Vorträgen stattfindet.

Cannes: Ken Loach im Wettbewerb an der Croisette

Ken Loach im Wettbewerb an der Croisette
 
Die Filmstiftung NRW, in vergangenen Jahren etwa mit Hanekes "Cache" oft unter den Siegern von Cannes, ist auch 2006 mit zwei geförderten Filmen beim weltweit wichtigsten Filmereignis vertreten.
 
Der engagierte Brite Ken Loach stellt seinen neuen Film "The Wind that shakes the Barley" im Wettbewerb von Cannes vor, das in diesem Jahr vom 17. bis 28. Mai stattfindet. Loach, der gemeinsam mit der Filmstiftung NRW bereits Filme wie "Land and Freedom", "My name is Joe" oder "Carlas Song" realisiert hat, erzählt nach dem Drehbuch von Paul Laverty die Geschichte zweier Brüder im irischen Unabhängigkeitskampf des frühen 20. Jahrhunderts. Die Hauptrollen in der internationalen Koproduktion, an der auch die Berliner EMC Produktion beteiligt ist, spielen Cillian Murphy und Padraic Delaney.
 
In der Nebenreihe "Un Certain Regard" ist "Um in den Himmel zu kommen, muss man zuerst sterben" von Djamshed Usmonov zu sehen. In dem ebenfalls von der Filmstiftung NRW geförderten Kinofilm macht sich ein frisch verheirateter Mann auf in die Stadt, um dort auf ärztlichen Rat eine Affäre zu beginnen. Gedreht wurde die internationale Koproduktion der Kölner Pandora Film in Tadschikistan.
 
Auch im repräsentativen Strandpavillon von FOCUS Germany, dem Zusammenschluss der sieben großen Filmförderungen, wird die Filmstiftung prominent vertreten sein.
 

9.5.06

The Date Movie


USA 2006 (The Date Movie) Regie: Jason Friedberg, Aaron Seltzer mit: Alyson Hannigan, Adam Campbell, Jennifer Coolidge, Tony Cox, Fred Willard ca. 90 Min.
 
Wer selbst bei Parodien von Scary Horror nicht mehr lachen kann, sollte versuchen, sich über Romantische Komödien lustig zu machen. "Bridget Jones", "Hitch", "Mr. & Mrs. Smith" oder "Wedding Planner", hier bekommt jeder sein Fett weg, meint der Filmverleiher. "Fett weg" ist dabei auch ein gutes Stichwort, denn es lässt sich so herrlich über dicke Frauen lachen. Siehe "Big Mamma". So führt der romantische Werdegang von Julia Jones (Alyson Hannigan), eine Schwester der Griechin aus der fetten Hochzeit, zum Date-Doktor Hitch, dann zu den Schwiegereltern mit der hochintelligenten Katze. Im Original von Robert DeNiro in einer Doppelrolle gespielt.
Wer es gar nicht aushalten kann all diese schlimmen Filme durch den Kakao gezogen zu sehen, sollte ein Date mit dem "Date Movie" in Belgien machen. Dort läuft er schon drei Wochen vor dem deutschen Start und die Gags sind im Original sicher besser.

Silent Hill


Kanada, Frankreich 2006 (Silent Hill) Regie: Christophe Gans mit Radha Mitchell, Sean Bean, Laurie Holden 125 Min. FSK: ab 16
 
Aus Frankreich kommen immer wieder neue Impulse für Filmgenres. Sei es Western ("Blueberry"), Martial Arts ("Crying Freeman") oder Historienfilm ("Pakt der Wölfe"). Die letzten beiden stammten von Christophe Gans, der eher der Gruppe der Weiterentwickler und nicht der Epigonen zuzurechnen ist. Sein "Silent Hill" ist Horror der härteren Sorte, liefert aber auch faszinierende (Albtraum-) Visionen.
 
Mit ihrer schwerkranken Tochter landet Rose (Radha Mitchell, die gerade auch in dem Film "Der Tintenfisch und der Wal" zu sehen ist) in dem abgelegenen Dorf Silent Hill. So abgelegen, dass sich nach einem Unfall anstelle der Straße eine tiefe Schlucht befindet, die Rose nicht mehr aus dem gespenstigen Ort lässt. Auch die Tochter ist verschwunden, so macht sich die mutige Frau auf die Suche und überschreitet dabei die Grenze zum Totenreich (siehe "The Dark"). Sie findet gesichtslose Mutanten, blutrünstige Riesenkakerlaken, christliche Eiferer und noch schlimmere Monster. Doch vor allem die Spuren von grausamen Riten, Foltern und Verbrechen bestimmen die Atmosphäre. Mit Rose schlägt sich eine resolute Polizistin durch die makabren Menschen- und Monstermassen.
 
Bei dieser Kämpferin könnte man noch an ein Videospiel denken, ansonsten gelang Gans mit "Silent Hill" ein ganz eigenständiger Film nach der Computer-Vorlage gleichen Namens. Ein kalter Industrie-Sound im Stile der Einstürzenden Neubauten füllt die Lautsprecher, während das dunkle Dorf zur Geisterstunde mit noch düsteren Horrorwellen geflutet wird. Doch hässlicher noch als die Masken sind die Massen der religiös verbrämten Menschen, die mit ihrer Bigotterie den Fluch über den Ort brachten. Unter der Führung einer verbitterten Lehrerin, die Hass predigt, wollen die Horden alles verbieten und verbrennen, was ihnen fremd ist und fallen mit Hexenverbrennung ins Mittelalter zurück. Man kann das Ganze auch einfach als Todesvision sehen. Doch gerade im Deutungs-Mehrwert und in der avancierten Ästhetik düsterer Fantasie und surrealen Horrors liegt ein Grund, sich diesen Grauen anzutun.

Asterix und die Wikinger


Frankreich, Dänemark 2006 (Astérix et les Vikings) Regie: Stefan Fjeldmark, Jesper Møller 79 Min. FSK: ab 6
 
Das größte Werk der französischen Literaturgeschichte wird im flotten Wechsel mal als Animation und dann auch als Realfilm ins Kino gebracht. "Asterix und die Wikinger" ist der achte Zeichentrickfilm nach den Comicheften von René Goscinny und Albert Uderzo. Dabei hat man das Gefühl, in dem gallischen Dorf ist seit "Asterix, der Gallier" vor fast vierzig Jahren die Zeit tricktechnisch stehen geblieben.
 
Grautvornix, ein Neffe von Majestix und verweichlichter Jugendlicher aus Paris, kommt zur Weiterbildung in das Dorf der widerspenstigen Gallier. Asterix und Obelix nehmen das Mannwerdungs-Training für den verweichlichten Teenager aus der Stadt in die rauen Hände, zu den "rocky-gen" Klängen von "Eye of the Tiger". Doch Grautvornix ist Vegetarier, verachtet Gewalt, selbst unter Einfluss des Zaubertranks ist nix mit ihm anzufangen.
 
Dann kommen auch die furchtlosen Wikinger auf Besuch. Sie wollen die Angst kennen lernen, da diese angeblich Flügel verleiht, wie sie immer wieder in den verlassen Dörfern erfahren, die sie überfallen. Dazu sind sie jedoch bei den Galliern an der falschen Adresse, denn die haben bekanntlich nur Angst davor, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Aber Grautvornix ist ein richtiger Angsthase und wird deshalb in den eisigen Norden entführt - Industriespionage im Jahre 50 unserer Zeitrechnung.
 
Die gleichnamige Verfilmung des Comic "Asterix und die Wikinger" ist deutlich ein Film von gestern. Klassisch animiert, zeichnerisch recht sparsam in den Hintergründen, bleibt der "Asterix" seiner Vorlage wenigstens im Bild treu. Es ist erstaunlich, dass fast 80 Minuten Film weniger Spaß und Gags bringen als 36 Seiten Comic!
 
Die Originalstory erfuhr ein paar Ergänzungen: So hat der Wikingerhäuptling, der wie "Hägar, der Schreckliche" unter der Fuchtel seiner Frau steht, eine rebellische Tochter Abba, die gleiche Kriegs- und Plünderungsrechte wie die Männer einfordert. Der Teenager Grautvornix tanzt einen "modernen" Tanz aus den Siebzigern (des letzten Jahrhunderts) und ihn begleitet eine Brieftaube namens SMSix. Damit hört der Spaß der unnötigen Verfilmung auch schon auf.

2.5.06

Tsotsi


Südafrika, Großbritannien 2005 (Tsotsi) Regie: Gavin Hood mit Presley Chweneyagae, Mothusi Magano, Israel Makoe, Percy Matsemela 94 Min. FSK: ab 12
 
Ein Blick, der erschaudern lässt: Kalt, so herzlos, dass er nicht von dieser Welt zu sein scheint. Mit diesem Blick marschiert der junge Gangster Tsotsi (Presley Chweneyagae) los, immer wenn ihn seine Freunde fragen "Was machen wir jetzt ...?" Geht von den Hüttendörfern am Rande von Johannisburg in die Vorstädte, um zu rauben und auch zu morden, falls es nötig ist. Wie dieser 19-Jährige keinerlei Regung zeigt, macht Angst. Anfangs probiert der Gangster-Kumpel Boston, Mitgefühl bei ihm zu finden, doch weder die Erwähnung von Eltern noch die eines Hundes bewegen das harte Gesicht Tsotsis. Stattdessen schlägt er Boston so zusammen, dass sich dieser nicht wieder erholen wird.
 
Alles ändert sich jedoch, als Tsotsi ein Auto klaut, die Fahrerin niederschießt und erst später das Baby auf dem Rücksitz entdeckt. Furchtbar unbeholfen behält er den Säugling, versteckt ihn unter dem Bett. Eine Nachbarin zwingt er mit vorgehaltener Pistole, das Baby zu stillen. Und plötzlich erinnert er sich an die eigene Mutter, an brutale Erlebnisse seiner Kindheit. Tsotsi wird sich ändern, wird verstehen, was das Wort "Decency" (Anstand) bedeutet.
 
Stark und energisch in den Bildern, dem Rap, erschütternd in der Skrupellosigkeit der Handlungen - so tritt "Tsotsi" anfangs auf. Ein beeindruckender südafrikanischer Neo-Realismus, der allerdings auch Wert auf Stil und packende Stimmungen legt. Dass alles zum Ende hin halbwegs gut wird, bleibt dabei Geschmackssache. Eher optimistisch als realistisch. Doch zum Oscar-Gewinn als "Bester nicht-englischsprachiger Film" mag dieser beruhigende Verlauf beigetragen haben.

Maria an Callas


BRD 2005 (Maria an Callas) Regie: Petra Katharina Wagner mit Götz George, Claudia Michelsen, Monica Bleibtreu 98 Min. FSK: o.A.
 
Nicht nur in Chat-Rooms wird geschummelt und gelogen: Auch bei Brieffreundschaften per Mail malt mancher gerne die eigene Identität schillernd aus. Das entdecken der 50-jährige Designer Jost (Götz George) und die Gastwirtin Anni (Claudia Michelsen) recht spät. Doch es beginnt noch viel komplizierter: Nach dem Tod seiner Frau findet Jost auf deren iBook eine intensive Email-Korrespondenz mit der Hotelmanagerin Anni. Beide verband eine intensive Leidenschaft zur Musik der Maria Callas. Sie lernten sich kennen, als Frau Jost von Anni eine seltene Callas-Schallplatte kaufte. Nun sitzt Jost staunend vor dieser unbekannten Seite seiner Frau, die - selbst krank ans Haus gefesselt - seine Reisen und Designaufträge als die eigenen nacherzählte. Der trauernde Mann schafft es nicht, Anni die Wahrheit zu sagen und führt die elektronische Brieffreundschaft fort. Dabei holt ihn Anni aus einem Tief, inspiriert ihn zu einer neuen, erfolgreichen Geschirrserie. Und nach mehr als einem Jahr kommt das Unausweichliche, Jost macht sich auf, Anni persönlich zu sehen. Ihn überrascht, was die Zuschauer schon lange erlebten: Annis Ritz Palace an der deutschen Küste ist kein Hotel-Palast, sondern eine bescheidene Bowling-Kneipe.
 
Die Regisseurin Petra Wagner erzählt die reife, ruhige Geschichte schön atmosphärisch, schneidet beider einsamer Leben stimmungsvoll gegeneinander. Das Design seiner Wohnung, ihr sehr sinnliches Wahrnehmen von Farben Gläser, Formen, Geschmäcker. Das oft komisch enttarnte Spiel mit Täuschungen und Träumen hat einen tragischen Hintergrund, denn beide sind Überlebende. So findet "Maria an Callas" betörende Bilder für Schmerz, etwa wenn Anni Schneeberge aus Tempo-Schnipsel knibbelt. Überraschend und äußerst fesselnd an diesem kleinen Film vor allem Claudia Michelsen, deren Intensität Götz George ziemlich langweilig aussehen lässt.

Der Beweis


USA 2005 (Proof) Regie: John Madden mit Sir Anthony Hopkins, Gwyneth Paltrow, Jake Gyllenhaal 100 Min. FSK: ab 6
 
Zum 27. Geburtstag gibt es billigen Champagner. Kein Freund ist da - dazu müsste Catherine (Gwyneth Paltrow) erst einen haben. Die panischen Selbstgespräche kreisen um eine Angst: Bin ich verrückt? Doch völlig logisch hält die Antithese dagegen: Verrückte sitzen nicht rum und überlegen sich, ob sie verrückt sind. Catherines Angst ist verständlich, denn ihr Vater zeigte im gleichen Alter erste Anzeichen einer Geisteskrankheit.
 
Catherine muss ihren Vater Robert (Sir Anthony Hopkins) beerdigen, einen genialen Mathematiker, der in den letzten fünf Lebensjahren zusehend dem Wahnsinn verfiel. Sie pflegte ihn auch allein, schreit sie all den huldvollen Trauergästen entgegen. In diesen einsamen Jahren wurde auch die begabte Nachwuchs-Mathematikerin seltsam, hatte keine Freunde mehr, legte statt der Studienarbeiten brillante, aber gänzlich ungefragte Beweisführungen vor. Nun will die unsensible, dominierte Schwester Claire (Hope Davis) das Haus des Vaters verkaufen. Einer seiner Studenten wühlt in den Unterlagen und findet in einem Heft mit Notizen einen Beweis, der die Wissenschaftswelt verändern würde. Keiner glaubt Catherine, dass sie die Formeln geschrieben haben will, Claire glaubt eine Einweisung Catherines in die Psychiatrie würde all ihre Probleme lösen ...
 
Nach "Shakespeare in Love" inszenierte John Madden erneut mit Oscar-Gewinnerin Gwyneth Paltrow. Diesmal ein intimeres, oft dunkles Drama eines genialen Geistes, einer unsicheren Frau in der Männerwelt Wissenschaft. Paltrow spielte die Rolle der verwirrten Catherine schon am Theater unter der Regie Maddens und sie fesselt auch auf der Leinwand. Es sind langsame Verschiebungen im Bild der Hauptperson, die diesen "Beautiful Mind" so anrührend machen. Catherine ist anfangs die einsame junge Frau, die an der Abwesenheit ihres Vaters, Freunds und Mentors bis zur Unerträglichkeit leidet. Dann scheint immer mehr ihr eigenes Genie auf und das Drama spannt sich zwischen Anerkennung und Verkennung durch die Welt.
 
Hoffnung macht der unkonventionelle, junge Student Hal (Jake Gyllenhaal in einen Nebenrolle, eindeutig neben Gwyneth verschwindend oder wie es die Amerikaner sagen, assistierend), der Catherine auch gegen heftige Widerstände liebt. Doch letztendlich glaubt auch er nicht, dass eine Frau diesen brillanten mathematischen Beweis vorlegen konnte, den er selbst kaum versteht. Abgesehen vom mathematischen Aufhänger geht es im Kern um besondere Menschen und die anderen, die in ihrer Beschränktheit diese nicht begreifen können.
 
(Man bekommt ganz nebenbei auch eine Ahnung davon, dass selbst Genies 90 Prozent Schweiß und vor allem Konzentration in ihre Entdeckungen stecken müssen: "Mathematik ist kein Jazz!")
 
Es sind vor allem die großen Schauspiel-Szenen, die aus diesem bemerkenswerten Film herausleuchten: Paltrow und Anthony Hopkins beim ganz besonderen Vater-Tochter-Verhältnis, in Rückblenden von guten und wirren Momenten. Da übertrifft sich die hervorragende Inszenierung Maddens noch einmal zu unvergesslichen Szenen.