31.1.06

Wahre Lügen


Kanada, Großbritannien 2005 (Where the Truth lies) Regie: Atom Egoyan mit Kevin Bacon, Colin Firth, Alison Lohman 108 Min
 
Nach seinem gemischt aufgenommenen, politisch und persönlich engagierten "Ararat" kehrt der Kanadier Atom Egoyan wieder zur freieren Filmkunst zurück. Sein prominent besetzter "Where the truth lies" untersucht nach fünfzehn Jahren den Todesfall einer schönen Frau im Milieu Hollywoods. Maureen wurde in der Hotelbadewanne des in den Fünfzigern bekannten TV-Duos Lanny Morris und Vince Collins (Kevin Bacon, Colin Firth) gefunden, doch deren Alibi ist wasserdicht. Fünfzehn Jahre später will die Journalistin Karen (Alison Lohman) die Biographie von Vince schreiben, aber vor allem herausbekommen, wer der Mörder war.
 
Karen hat eine besondere Beziehung zu den beiden Promis von gestern, einst war sie als junges Mädchen in deren Show und erlebte einen besonders emotionalen Moment. Weshalb Lanny damals Tränen in den Augen hatte, ist die eigentliche Wahrheit, die es zu entdecken gilt, doch sie bleibt letztendlich banal. Dieser Egoyan im Krimi-Mäntelchen lässt schmerzlich die Emotionen von früher vermissen. Die tragisch schwere Musik Mychael Dannas erinnert noch einmal an alte Zeiten. Das Spiel mit mehreren Wahrheiten, die Karen erst langsam durchschaut, gestaltete der Autor und Regisseur Egoyan nicht besonders raffiniert. Das cleverste am Film ist noch das Wortspiel des Titels: „Wo liegt/lügt die Wahrheit?" Es bleiben bekannte Fragen nach einer wahren Identität und dieses Leiden der Stars an den netten Fassaden, die sie aufrechterhalten müssen.
 

30.1.06

Zathura


USA 2005 (Zathura) Regie: Jon Favreau mit Tim Robbins, Josh Hutcherson, Jonah Bobo, Dax Shepard 101 Min. FSK ab 6
 
Horden von Wildtieren, die durchs Wohnzimmer, den Flur und zuletzt durch die Straßen jagen. Hinterher ein wild gestikulierender Robin Williams auf der Suche nach seinen Kindern. So war es in "Jumanji", nun geht es - wieder nach einem Buch von Chris Van Allsburg, wieder von einem magischen Spielbrett aus - hinein ins Weltall. Williams fällt zum Glück aus, dafür wurde in wahrlich eindrucksvolle Effekte investiert.
 
Zwei unterschiedliche Brüder geraten dauernd aneinander: Der kleine Danny (Jonah Bobo), der sich in allem schlechter fühlt, und der immer schlecht gelaunte 10-Jährige Walter (Josh Hutcherson). Als Danny ein altes Spiel findet und die erste Karte zieht, durchlöchert wie angekündigt ein Meteoritenhagel das Haus, das plötzlich im Weltall schwebt. Zurück geht es nur nach vorne, erst wenn das Spiel gewonnen wird, hört der Al(l)btraum auf. Das Spiel "Zathura" liefert immer wieder neue Überraschungen - und meist keine netten: Ein erst winziger, dann Terminator-gefährlicher Roboter will Walter als "fremde Lebensform" auslöschen. Schießwütige Aliens sind scharf auf Wärme und Fleisch. Ein cooler Astronaut strandet in dem mittlerweile arg ramponierten Haus und übernimmt das Kommando in Richtung Heimat. Für den eiskalten Humor sorgt Super-Zicke Lisa, die große Schwester. Es ist süß, wie die Kids Angst vor ihr haben, richtig gut gespielt und das machen die beiden den ganzen Film durch. Tim Robbins, der gerade in Isabel Coixets "The Secret Life of Words" wieder eine Meisterleistung hinlegt, tritt als getrennt lebender Vater nur ganz kurz in Erscheinung.
 
Die zerstrittenen Brüder lernen, zusammen zu spielen und sich zu helfen. Diese nicht besonders aufregende, konventionelle Ausgangsituation hebt im wahrsten Sinne des Wortes ab. Die Bildideen sind dafür grandios. Atemberaubend vom ersten Meteoritenhagel an, bis zum heißen Vorbeiflug an glühenden Planeten. So hält "Zathura" auch die Zuschauer gefangen.

Eine zauberhafte Nanny


Großbritannien 2005 (Nanny McPhee) Regie: Kirk Jones mit Emma Thompson, Colin Firth, Kelly Macdonald 99 Min. FSK o.A.
 
Nein, nicht noch eine der furchtbaren TV-Nannys, die immer alles besser wissen. Diese teilweise furchtbar kitschige Kino-Variante beeindruckt als braves Kindermärchen mit vielen Technik-Tricks und lässt selbst die garstigsten Gören staunen. Die brillante Schauspielerin Emma Thompson ("Sinn und Sinnlichkeit") (ver-) zaubert in diesem Familienfilm als Nanny McPhee und schrieb auch gleich das Drehbuch dazu.
 
Die sieben trefflich gemeinen Kinder der Familie Brown haben bereits 17 Gouvernanten verjagt, als Nanny McPhee mit ihren magischen Fähigkeiten auftaucht. Sie verspeisten ihren kleinen Bruder, guillotinierten Teddybären, schlugen und folterten die Köchin. Der rührselige Vater und Witwer weiß nicht weiter, doch McPhee hat die Magie als Waffe zur Hand (und viel Zauberstaub auf der Tonspur). Die Kinder lernen "Bitte" zu sagen und noch mehr Zeugs, dass ihnen auch Struwwelpeter und Co. einbläuen wollen. Die ruppige Köchin darf ihnen endlich Armeefraß servieren, aber gnädigerweise lassen McPhee und der Film die Kinder doch noch ein paar gemeine Scherze treiben, damit Papa an die richtige Frau kommt. So löst sich alles bei einer grandiosen Hochzeitstorten-Schlacht in Wohlgefallen auf.
 
Emma Thompson ist als Nanny kaum wieder zu erkennen hinter einer riesigen Nase, vorstehendem Zahn und zusammengewachsenen Augenbrauen. Sie schrieb haufenweise verrückte Ideen in den Film, zeitweise gehen Fantasie und Tricktechnik mit der "Nanny" durch. Ein tanzender Esel fällt genauso störend auf wie unvermeidlicher Mega-Kitsch. Bei der bitteren Krankengeschichte "Wit" paarten sich in ihrer Feder noch scharfer Verstand und tiefe Verzweiflung. Hier eine altbackene Kindergeschichte mit überzogenen Effekten.

Walk the Line


USA 2005 (Walk the Line) Regie: James Mangold mit Joaquin Phoenix, Reese Witherspoon, Ginnifer Goodwin 136 Min.
FSK ab 6
 
Johnny Cash war Legende schon bevor für ihn in den Neunziger Jahren mit den "American Recordings" eine dritte Karriere begann. Sein letztes, bewegend biographisches Album "The man comes around" mit dem zu Tränen rührenden Abschieds-Video zu "Hurt" machte den Country- und Rockmusiker sogar in MTV-Kreisen bekannt. In "Walk the Line", der bemerkenswerten Verfilmung seines Lebens, ereignet sich ein Vexiereffekt für die Ohren, denn die sensationell aufspielenden Joaquin Phoenix als Cash und Reese Witherspoon als dessen Frau June haben alle Songs selbst eingesungen. Faszinierend haarscharf am Original vorbei und trotzdem richtig gut!
 
Nun mag sich der Schauspieler Joaquin Phoenix so in die Rolle Cash eingelebt haben, dass er angeblich nachher eine Entziehungskur machen musste. Doch die Schwere eines bewegten Lebens, die beispielsweise Cashs Version von U2s "One" zur Sensation macht, hat Joaquins Stimme nicht. Dafür verkörpert er vortrefflich den von Schicksalsschlägen und Süchten gebrochenen Künstler.
 
Cash wuchs auf einer Farm in Arkansas unter dem harten und herzlosen Regime des Vaters auf. Als der bewunderte, ältere Bruder bei einem Unfall stirbt, fühlt sich Cash mitschuldig. Eine Last, an der er sein ganzes Leben schwer trägt. Der verbitterte Vater impft ihm dazu ein, der falsche Sohn sei gestorben. Während seiner Armeezeit in Deutschland schreibt Cash die ersten Lieder, doch er muss seine erste Frau Vivian Liberto und die Kinder ernähren, denkt nicht an eine musikalische Karriere. Aber die Musik lässt ihn nicht los und nach Anfangsschwierigkeiten landet er beim damals noch unbekannten Produzenten Sam Philips (Dallas Roberts). Auf ausgiebigen Touren mit Elvis Presley, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins wächst sein Ruhm, aber auch die Unzufriedenheit. Die Ehe mit Vivian scheitert, die Liebe zu der Country-Collegin June Carter (Witherspoon) bleibt unbeantwortet.
 
Diese sehr romantische Geschichte, die sich um den Song "Jackson" dreht ("we've got married in a fever ...") ist eine der starken Stränge, die James Mangold aus Cashs Biographien herausleuchtet. Schon der Junge war fasziniert von der Stimme des Kinderstars June im Radio. Mit einem Heiratsantrag auf der Bühne überzeugt er sie nach jahrelangem Werben! Der Film endet 1968 mit der Heirat. Im richtigen Leben starb June Carter 2003. Weniger als vier Monate folgte ihr Cash mit der Gewissheit, sie wieder zu sehen. "We'll meet again" ist der letzte Song seines letzten Albums, am Ende des "Hurt"-Videos klappt er den Klavierdeckel zu.
 
Ebenso eindrucksvoll der Kampf des Musikers mit seinen Dämonen. Den Drogen und der lebenslangen Geringschätzung des Vaters. Dann ist "Walk the Line" auch ein großartiger Musikfilm, mitreißende Auftritte und eine mutige erzählerische Klammer, die vor Cash berühmten Auftritt im Gefängnis Folsom beginnt und erst dem rhythmischem Stampfen der Häftlinge nachgibt, als ein bewegender Teil des Lebens nacherzählt ist. Ein anderer "Man in Black" kann sagen: "Hello, I'm Johnny Cash!"

Silent Waters


Pakistan, BRD, Frankreich 2003 (Khamosh pani) Regie: Sabiha Sumar mit Kiron Kher, Aarmir Malik, Arshad Mahmud 96 Min.
 
Im Jahr 1979 wandelt sich Pakistan unter General Zia ul-Haq zum islamischen Staat. Der 18-jährige Salim folgt religiösen Extremisten und erkennt erst spät, dass seine Mutter Aischa zu der Glaubensgemeinschaft der Sikh gehörte, die bei der Staatgründung 1947 brutal verfolgt und aus dem Dorf vertrieben wurde. Das Pogrom droht nun, sich zu wiederholen ...
 
Radikale Hetzer stacheln den Politpöbel auf und verführen den jungen Salim. Er lässt sich Bart wachsen, ist nun ''wer", die alte Geschichte. Da helfen weder aufgeklärte Mutter noch kluge Freundin. In feiger Gruppengewalt zwingen die Radikalen einfache Händler, ihren Laden zum Gebet zu schließen und mauern die Mädchenschule ein.
 
Als Menetekel erleben wir die traumatische Erinnerungen der Mutter an Pogrom und Gewalt vor mehr als 30 Jahren: Die Turban tragenden Sikh wurden einst vertrieben und umgebracht, die eigenen Frauen und Mädchen zwangen sie zum Selbstmord im Dorfbrunnen - daher der Titel "Silent Waters", stilles Wasser. Diese bewegende Geschichte um den Wahnsinn ethnischer Verfolgung im Punjab gewann im Jahre 2003 den Goldenen Leoparden von Locarno. Der Film ist eine Koproduktion mit Flying Moon (Berlin) sowie ZDF/arte.
 
Regisseurin Sabiha Sumar studierte in den USA und möchte die Zuschauer für die Lage der Frauen sensibilisieren. Zudem will sie die pakistanische Filmkultur beleben, die in den Jahren der Islamisierung unter dem Regime des Präsidenten Zia (1977-88) praktisch ausgelöscht wurde.

Waiting for the Clouds


Türkei/Griechenland/Frankreich/BRD 2004 (Bulutlari Beklerken) Regie und Buch: Yesim Ustaoglu mit Rüçhan Caliskur, Ridvan Yagci, Dimitris Kaberidis 88 Min.
 
Seltsam, wie sich Geschichten häufen, in denen Menschen bei ihren "Feinden" und den Mördern ihres Volkes unterschlüpfen: Die Sikh-Frau, die in Pakistan lebt und wieder Extremismus erleben muss in "Silent Waters". Nun die 60-jährige Ayshe in einem anatolischen, muslimischen Fischerdorf, die sich nach dem Tod ihrer Schwester aus der Gemeinschaft zurückzieht. Als Tanasis, ein Fremder und alter Bekannter von Ayshe ins Dorf kommt, tauchen Erinnerungen an die Verfolgung von orthodoxen pontischen und in der Türkei lebender Griechen auf.
Ästhetisch ist bei diesem Nachfolger der türkisch-kurdischen "Reise in die Sonne" immer wieder kurz Angelopoulos zu erahnen. Lange Einstellungen, eindringliche Bilder. Ein vergessenes Stück europäischer Geschichte wird behutsam und ruhig ans Licht gebracht.

25.1.06

Bitte Kinder mitbringen ...


...heißt es immer öfter auf Einladungen zu Pressevorführungen AM SONNTAG! Abgesehen davon, dass auch der Filmkritiker abseits von Rund-um-die-Uhr-Festivals und der üblichen Nachtarbeit ein Freund der 5-Tage-Woche ist, WAS SOLL DAS???
 
Was bringt es der Filmkritik, wenn um einen herum die Blagen plärren, man im Popcorn versinkt, Cola-Wellen die Sitzreihen runter schwappen und man sich im Sessel völlig verkrümmen muss, weil die Kleinen hinter einem sonst nichts mehr sehen? Die Hälfte des Films versteht man nicht wegen Schreiereien (Komödie) oder Gejammer (Bambis Mutter kommt in die Tiefkühltruhe).
 
Aber egal. In diesem Sinne einen Vorschlag an die Filmverleiher: Soll ich zu Spielbergs "München" meinen eigenen Geheimdienst-Killer mitbringen? Kenne zwar keinen vom Mossad - zumindest weiß ich es nicht - aber der Dieter würde gerne mitkommen. Der war ne Weile für den BND in Bagdad, dann in Australien und ist jetzt irgendwie arbeitslos. Er trinkt übrigens gerne Bier.
 
Und was machen wir beim nächsten Splatterfilm? In meiner Stammkneipe sitzt jemand, der sieht echt seltsam aus, redet manchmal mit sich selber, der macht bestimmt komische Sachen zu Hause ... Eigentlich sind die da alle seltsam. Soll ich die mal mitbringen, wenn wieder seltsame Leute reihenweise ihre Nachbarn abschlachten? Oder doch lieber ein paar stinkende, zerstückelte Leichen? Ohne deren Begleitung kann ich den Film echt nicht verstehen, wirklich!
 
Probleme habe ich echt bei den "ausländischen" Filmen, also denen die nicht aus den USA sind. Ich kenne zwar ein paar Asiaten, Afrikaner gibt auch an der Uni, aber die meisten machen selber was mit Film. Könnt ihr mir bitte vom Verleiher 1-2 mal im Jahr Alibi-Nigerianer oder -Ningboer zur Verfügung stellen?
 
Außerdem für den nächsten Tierfilm bitte Näpfe aufstellen, beim Zeichentrick nachher die mitgebrachten Fingerfarben aufwischen und auch an die Piazza für den Computer-Nerd denken, wenn mal wieder ein Videospiel verfilmt wird.

Brokeback, Bareback - hauptsache schwul


Konnte es nicht mehr erwarten bis der Film endlich auch in Deutschland ankommt, hab gestern "Brokeback Mountain" gelesen. Der Roman von Annie Proulx ist ein echter Quickie, um beim Thema zu bleiben. Kurz die Finger nass machen (zum Umblättern, was sonst?) und hinein ins Vergnügen. Ein, zwei Stunden später setzt man sich auf sein Schaukelpferd, pafft auch als Nichtraucher eine Marlboro und alles ist vorbei, war aber sehr schön! Vor allem der Slang der beiden einfachen Cowboys, die einsamen, kalten Nächten ganz eng zueinander und ineinander finden. Im Original, wohlgemerkt. Wie das übersetzt wird, will ich gar nicht wissen - hilf, heiliger Harry Rowohlt. Annie hat übrigens schon die Vorlage zu den "Schiffsmeldungen" geschrieben, verfilmt von Lasse "lass es" Halström.
 
Hier in Madrid kommt man an schwulen Cowboys nicht mehr vorbei. Keine Zeitschrift, die nicht mindestens eine Strecke zum Thema oder zum schwulen Film überhaupt liefert. (Zeit für den Klassiker: Es gibt keinen schwulen Film, Film ist immer aus Zelluloid!) Wäre ein guter Zeitpunkt die braven Katholiken hier mit anderen Tatsachen des Lebens zu konfrontieren. Schwulen Priestern zum Beispiel. Oder andere Hirten, die ihre Schäfchen vögeln. Ähm, stopp! Das war jetzt keine Wiederholung, bitte lieber Vatikan, ruf deine Inquisition und die Exorzisten zurück. Ich meinte die ganz natürliche, die ursprüngliche Sodomie zwischen Mensch und Tier. Cowboys, Schafhirten, einsame Nächte, williges Vieh, ihr versteht!?
 
Eine andere dumme Verwechslung muss ich auch noch gestehen: Hab immer gedacht, der Titel lautet "Bareback Cowboys". So mit Aids und trotzdem ohne Gummi vögeln. Liegt ja auch risikomäßig irgendwie in der Nähe von Rodeoreiten auf Bullen mit eingequetschten Hoden (so machen die das, echt). Beides endet letztendlich wohl tödlich.
 
So und jetzt ist es Zeit, sich auch den Film anzusehen: Mal sehen, was aus den auf Spielfilmlänge gestreckten paar Szenen wurde. Hoffentlich nichts Peinliches wie Penisverlängerung oder so. Wahrscheinlich lange, stumme Dialoge zwischen zwei schweigsamen Cowboys. Und im Hintergrund diskutieren die edlen, vierbeinigen Freunde der Männer über Pferdewetten (das ist jetzt nur erwähnt, damit auf der Website des Textes Google eine Anzeige zu irgendeinem Wettbüro schalten kann ...)

24.1.06

Exil

Frankreich 2004 (Exils) Tony Gatlif mit Romain Duris, Lubna Azabal, Leila Makhlouf, Habib Cheik, Zouhir Gacem  104 Min.
 
Tony Gatlif (Gadjo Dilo, Vengo) zeigt in seinen Filmen seit Jahrzehnten die Welt der Roma, der Manouche, der spanischen Gitanos und ihrer Musik. Nun folgt mit "Exil" seine filmische Heimkehr nach Jahren des „Exils". Stellvertretend für Gatlif, der 1948 in Algerien geboren wurde und in den 60ern fliehen musste, kehren Romain Duris und Lubna Azabal als Franzosen mit verschütteter algerischer Abstammung gegen alle Exilantenströme in das von politischen und tatsächlichen Erdbeben zerrüttete Land zurück. Ein Film auf ungewöhnlichen Wegen, der Geduld verlangt und mit magischen sowie atemberaubenden Momenten belohnt. "Exils" erhielt 2004 in Cannes den Preis für die Beste Regie.
 
Romain Duris ("Gadjo Dilo", "Barcelona für ein Jahr") zeigt sich direkt zu Anfang nackt und wild. Er mauert seine Geige ein und bricht mit der Freundin Naima ohne Geld auf in Richtung Süden. Immer Musik im Ohr trampen, laufen und fahren sie verrückt und erotisch durch Frankreich und Spanien, treffen arabische Emigranten, illegale Arbeiter. Der Weg ist das Ziel bei Tony Gatlif und so kann man sich den Eindrücken der erlebten Gegenden und Menschen, den guten, weiten Bilder hingeben.
 
Nach 30 Minuten erklingt in Sevilla ein erster Flamenco, arabische Musik wird folgen bis zu einer atemberaubenden dokumentarischen Trance-Sequenz, die den emotionalen Höhepunkt darstellt und unvergesslich bleibt. Gatlif ist nicht nur ein Sammler der Menschen, er lebt auch in leidenschaftlicher Musik und gibt sie mit seinen Filmen weiter. So öffnet diese Reise vor allem Augen und Ohren der beiden Protagonisten und auch der Zuschauer. Eine Reise ohne Ziel aber mit tiefer Erfüllung, mit einer Ahnung von Freiheit und dem Gefühl von Heimat unter Menschen.

Caché


Frankreich, Österreich, BRD, Italien 2005 (Caché) Regie: Michael Haneke mit Juliette Binoche, Daniel Auteuil, Annie Girardot 119 Min. FSK ab 12
 
Thriller? Politfilm? Kunstwerk? Der Österreicher Michael Haneke ("Die Klavierspielerin") macht es einem nie leicht. Sein überaus spannendes Vexierbild "Caché" entlarvt über ein Bilderrätsel die erschreckend herzlose intellektuelle Elite des Westens. "Caché" war der große Gewinner der letzten Europäischen Filmpreise.
 
Minutenlang zeigt die Kamera eine kaum belebte Straße, parkende Autos, ein paar Häuser. Dann spult das Bild zurück und ein paar Irritationen weiter wird klar, dass ein Unbekannter das Haus des prominenten Fernsehmoderators Georges Laurent (Daniel Auteuil) gefilmt und ihm das Video anonym zugesandt hat. Diese Bedrohung wiederholt sich und erschüttert auch seine Frau Anne Laurent (Juliette Binoche). In der betreffenden Rue des Iris (!) jedoch keine Spur einer verborgenen Kamera. (Caché heißt "verborgen", "versteckt".) Während das Leben der Familie mit Empfängen, Intellektuellen-Diskussionen im Fernsehen, dem Name-Dropping von Heidegger, Baudrillard und Wittgenstein weitergeht, führen weitere, teilweise blutige Hinweise George zurück in seine Kindheit. Zu einem Adoptiv-Bruder, dessen Eltern beim Polizei-Massaker an Hunderten von Algeriern in Paris starben und den George mit einer Denunziation grausam vertrieb.
 
Die Wiederbegegnung mit dem Jungen von damals entblößt George vollkommen: Dem immer höflichen Mann, der einen tiefen Groll gegen George tragen müsste, begegnet er grob. Immer neurotischer reagiert der Gebildete, immer weniger ist er in der Lage, die Realität wahrzunehmen. Die humanistische Bildung erweist sich als Schein wie die Bücherwände voller Attrappen im Fernsehstudio.
 
Am Ende bleibt das Rätsel um die Videoaufnahmen offen, Haneke kehrt zu dieser Irritation zurück. Doch die menschlich wie ästhetisch höchst aufschlussreiche Suche hat einen sehr aktuellen Mechanismus von Schuldgefühl und Projektion der wohlhabenden westlichen Welt gegenüber den Unterdrückten im Süden offen gelegt.

The Dark


Großbritannien 2005 (The Dark) Regie: John Fawcett mit Maria Bello, Sean Bean, Maurice Roeves 92 Min. FSK ab 16
 
Wer genug hat von kreischenden Teenagern oder Videobänder mit Ringen drauf, darf sich auf diese Dunkelheit freuen: Ein Horrorthriller, der auf Psychologie vertraut und am Ende angenehm schaurig überrascht.
 
Den Ex wieder sehen müssen, kann schon ein Horror sein. Dann noch die Tochter Sarah irgendwo in einem alten, verfallenen Farmhaus an der wallischen Küste abliefern - Stoff für einen echten Alptraum. "The Dark" sorgt von Anfang an für bedrohliche Stimmung, auch wenn es erst bei der verfahrenen Beziehungskiste zwischen Adelle (Maria Bello) und James (Sean Bean, "Flightplan") bleibt. Allerdings gibt es auch eine mysteriöse Dachkammer, Schlüssel ohne Schloss sowie Schafe, die sich wie Lemminge verhalten und rudelweise Klippen hinunter stürzen. (Der Film basiert auf Simon Maginns Roman "Sheep".) Dann verschwindet Sarah bei einem Strandspaziergang. Adelle, voller Schuldgefühle, findet bei ihrer Suche Meldungen vom Selbstmord einer religiösen Sekte, die Folterspuren eines wahnsinnigen Hirten, keltische Mythen und ein fremdes, seltsames Mädchen, das wie selbstverständlich Sarahs Platz einnimmt. Da hier die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten durchgängig zu sein scheint, wie das Wasser und einige Wände, geht die Mutter bis in den keltischen Hades, um ihr Kind wieder ins Leben zu bringen.
 
Sparsam im Einsatz von Schockmomenten und geschickt mit dem schlechten Gewissen einer überforderten Mutter spielend, kann sich "The Dark" angenehm schaurig vom Serien-Horror absetzen. Einige drastische Szenen mögen verschrecken, doch das gute Spiel von Maria Bello sowie die sehr gemeine Überraschung am Ende belohnen das Augenzusammenkneifen.

23.1.06

München


USA 2005 (Munich) Regie: Steven Spielberg mit Eric Bana, Daniel Craig, Geoffrey Rush 164 Min.
 
Der bislang wichtigste Film von Steven Spielberg ist heftig umstritten - aus Gründen, die den Film nur tangieren. Als Aufschrei gegen Rache und Vergeltung müsste der ebenso ergreifende wie nachdenkliche Politthriller "München" Pflichtprogramm für alle Parlamentarier, Geheimdienstler und politische Führer sein.
 
Spielberg beginnt chronologisch mit der Geiselnahme israelischer Sportler durch Palästinenser während der Olympischen Spiele in München 1972. In den ersten zehn Minuten sieht man Szenen, die das schreckliche Morden zusammenfassen und Menschen aus vielen Bevölkerungsgruppen in aller Welt vor den Fernsehern. Dann trifft die israelische Premierministerin Golda Meir, eine mütterliche, menschliche Regierungschefin, die Entscheidung zur Vergeltung, und merkt an: Eigentlich sollte jede Zivilisation mit ihren Gegnern über Kompromisse verhandeln.
 
Den Auftrag zur Rache an den Mitgliedern der Palästinenser-Organisation "Schwarzer September" erhält der junge, recht unerfahrene Geheimdienstler Avner Kauffman (Eric Bana, vom Superman wird zum gebrochenen Secret Agent). Als Anführer einer kleinen Truppe aus Agenten reist er um die Welt, zu Richten und zu Henken. Das erste Teamtreffen ist ein nettes Abendessen von Privatiers, mit dem deutschen Antiquitätenhändler Hans (Hanns Zischler) sowie einem Spielzeug-Mechaniker und Bombenspezialist aus Brüssel. Das erste Opfer in Rom erweist sich als armer Literat und sympathischer Erzähler aus 1001 Nacht. Kein an dem Attentat Beteiligter, wie sich herausstellt, nur ein theoretischer Verfechter der palästinensischen Sache. Beim zweiten Opfer stellt Ephraim (Geoffrey Rush) bereits Fragen: Was hat dieser Mensch getan?
 
Ein Mädchen im roten Pullover - das Rot, das in der ansonsten schwarz-weißen "Schindlers Liste" das Opfer markierte - macht das Richter und Henker-Spielen in Paris spannend. Noch glaubt man den Auftraggebern, noch folgt man dem alttestamentarischen Prinzip "Auge um Auge". Doch Spielberg zeigt, dass das Töten und das Rächen nicht einfach von der Hand gehen. Avners Leute stellen sich wie die engagierten Anfänger an, die sie ja auch sind. Beim zweiten Opfer war die Bombenladung zu schwach, beim dritten ist sie viel zu stark, verletzt auch Unbeteiligte. Hans stellt derweil kühl die Rechnung auf: 300.000 Dollar kostete der erste Mord, 200.000 der zweite. Derweil gibt es erste Reaktionen, Briefbomben an israelische Botschaften, ein "Dialog" beginnt, heißt es zynisch.
 
Bei einem brutalen Massaker in Beirut trägt Avner eine KZ-Mütze. Dazu ein Seitenblick: Der junge Sohn, der den Mord an seinen Eltern miterlebt. Was wird dieser Palästinenser in der Zukunft tun? In Athen, wo ein Unterschlupf in einer absurden Situation an gleich zwei Geheimdiensttruppen vermietet wurde, spricht Avner, getarnt als deutscher Geheimdienstler mit einem gegnerischen Agenten, der den Wunsch nach Heimat und Vaterland überzeugend vertritt. Da ist einer wie er selbst auf der anderen Seite, das Mitgefühl im Blick auf den bald darauf eigenhändig Ermordeten gehört zu den stärksten Momenten des Films.
 
Als Thriller erzählt "München" altmodisch, aber darum geht es nicht in dieser vor allem psychologisch spannenden, politischen Stellungnahme. "München" komprimiert unzählige historische Tragödien in einem Menschen. Avnet muss erkennen, dass Rache keine Erlösung ist. Er kann das - immer intensiver eingeblendete - Leid der Olympia-Morde nur auf sich nehmen und damit leben. Ausgerechnet in New York hat er die Erkenntnis, dass jeder Tote nur neue Gegner schafft, dass Rache keinen Frieden bringen kann. Das letzte Panorama zeigt die Twin Towers, deren Fall eine neue Welle von Gewalt, Rache und Hass über die Welt brachte. Und dann könnte man der "Wir verhandeln nicht mit Terroristen"-Idiotie den Satz Golda Meirs vom Anfang entgegenhalten: Eigentlich sollte jede Zivilisation mit ihren Gegnern über Kompromisse verhandeln.

Himmel und Huhn

Himmel und Huhn
 
USA 2005 (Chicken Little) Regie: Mark Dindal 67 Min. FSK o.A.
 
"Der Himmel fällt uns auf den Kopf!" Jetzt muss Disney schon bei Asterix klauen, um eine "neue" Filmidee zu finden. Für den digitalen Kinderzeichentrick "Himmel und Huhn" um ein sehr kleines, problembeladenes Hühnchen bemüht der Klassiker-Konzern die Standards Sport, Tiere sowie kleine Kinder und versucht das Ganze mit schrecklichen Außerirdischen sowie Filmzitaten aufzupeppen.
 
Hühnchen Junior, im Original "Chicken Little" genannt, warnt seine Kleinstadt vor einem fallenden Stück Himmel, das nach großer Aufregung dann aber nirgendwo zu sehen ist. Nach dieser Peinlichkeit, geht alles schief im Leben des wirklich sehr kleinen Hühnchens. Selbst der mächtige Hahn-Vater zweifelt am Junior. Nur dessen Freunde, ein Fisch, der immer mit Wasser-Atem-Maske herumläuft, ein dickes Schweinchen und ein hässliches, aber sehr kluges Entlein, halten zu ihm. Gerade hat Hühnchen beim unvermeidlichen Baseball-Finale einen Riesen-Hit gelandet und wurde zum großen Helden, da kommt der Himmel wieder runter - in Form einen UFOs ...
 
Nach einigen Enttäuschungen und dem Ende seiner klassischen Animation fängt Disney mit dieser eigenen digitalen Animation für die jüngsten Kinogänger ganz klein an. Die Qualität der Bilder ist bei TV-Animationen wie "Jimmy Neutron" angekommen. Der Ton ist etwas frecher, die Wahrheit über Kreise im Maisfeld wird enthüllt und die Zitate aus Filmen für die Großen reichen von "Indiana Jones" bis zum "Krieg der Welten" oder Tim Burtons "Mars Attacks". Mit zu gruseligen Aliens mag "Himmel und Huhn" allerdings nicht für jedes Alter geeignet sein.

22.1.06

Eine andere Liga

Eine andere Liga
 
BRD 2005 (Eine andere Liga) Regie: Buket Alakus mit Karoline Herfurth, Ken Duken, Thierry van Werveke, Zarah Jane McKenzie, Nursel Köse, Verena Wolfien 98 Min.
 
Die junge Hayat (Karoline Herfurth) kickte beim elitären SC Elbe, bis die Ärzte nach einer Trittverletzung Brustkrebs feststellen. Ihr türkischer Vater Baba Can (Thierry van Werveke) meldet die Genesende fürsorglich vom Verein ab, doch Hayat findet in ihrer Verzweiflung nur beim Fußballspiel Hoffnung. Zwar schafft sie wegen der Tabletten kaum einen Sprint und die Mädels vom alten Verein wollen sie nicht mehr. Doch ein paar alternative Multikulti-Kickerinnen vom Hamburger FC Schanze sind viel lebendiger und haben dazu noch einen netten, jungen Trainer.
 
So schleicht sich Hayat heimlich zum Training, spült ihre Medizin im Klo runter und wehrt mit aller Kraft die ebenso witzigen wie romantischen Anträge des Trainers Toni (Ken Duken) ab. Nicht aus Desinteresse, nicht aus türkischem Ehrgefühl, denn Hayat ist eine emanzipierte, junge Frau. Aber mit der linken Brust wurde auch ihre ganze Sicherheit, ihr Selbstwertgefühl entfernt. Deshalb kann sie Toni nicht an sich ranlassen, obwohl sie eigentlich will ...
 
"Kick it like Armstrong" könnte dieser ebenso tolle, wie witzige und einfühlsame, zweite Kinofilm der Hamburger Regisseurin Buket Alakus ("Anam") auch heißen. Der Spaß und das Durchsetzungsvermögen von Power-Fußballfrauen einerseits. Dazu die engagierte Gesundungsgeschichte, der Kampf gegen den Krebs und seine Folgen in einer bewegenden aber keineswegs rührseligen Familiengeschichte. In wenigen Bildern zeigt Alakus Glück und Krankheit. Einige starke Szenen auf dem Platz, unter freiem Himmel lassen Hayats Leidenschaft beim Fußball miterleben. Die rauchende, kiffende, saufende Spaßtruppe vom FC Schanze verwechselt zwar rechts und links, fürchtet sich vor Kopfbällen oder Bällen überhaupt, vor allem die Torfrau. Doch es sind lebendige, echte Figuren mit Herz und Pep. Immer wieder landet der gute Humor Treffer, etwa wenn die ersten Gegner kleine Rotzbuben sind, welche die Damen trotzdem richtig nass machen. Ebenso trefflich inszeniert der heftige Schmerz, die Verzweiflung an der verlorenen Brust. Die dramatische Konfrontation im Ende wird für Diskussionen sorgen.
 
Karoline Herfurth ("Crazy", "Mädchen, Mädchen") überzeugt mit exzellenter Mimik und klasse Stellungsspiel. Auch Thierry van Werveke ("Knockin' on Heaven's Door") spielt grandios, den liebe- und sorgenvollen Papa. Es ist ein tolles Verhältnis, das Baba Can zu seiner Tochter hat. Und er trägt eine besondere Tragik, denn schon seine Frau hatte Krebs und starb daran. Allerdings sieht man in dem Holländer nie einen Türken, doch das macht letztlich nichts.
 
Die Verbindung von Sport und Krankheit ist gar nicht so weit hergeholt, wie erst gerade ein deutscher Spitzen-Ruderer zeigte, dessen Dopingprobe die Krebsvorsorgeuntersuche ersetzte. Und vor allem wie Lance Armstrong als gelb leuchtender Hoffnungsträger zeigt. Es ist an der Zeit, dass Krebs nicht mehr euphemistisch als "schwere Krankheit" verdrängt, sondern der Umgang damit auch über gute Filme wie "Eierdiebe", "Eine andere Liga" oder den spanischen Jugendfilm "Planta 4" thematisiert wird. Auch das gelingt Buket Alakus in ihrem tollen Sport-, Frauen-, Gesundheits- und Liebesfilm. Eine bemerkenswerte Regisseurin, wie schon bei "Anam", der Geschichte einer traditionellen Mutter, die wie eine Löwin um ihren drogenabhängigen Sohn kämpft, zu spüren war. Jetzt noch so ein außerordentlicher Film. Bis hin zur kleinen Perle des Abspanns, wenn Männer an der Abseits-Erklär-Falle scheitern, aber damit doch die Liebe als unerklärbar erkannt wird.

Honey Baby


BRD 2004 (Honey Baby) Regie: Mika Kaurismäki mit Henry Thomas, Irina Björklund, Helmut Berger, Bela B. Felsenheimer, ca. 100 Min.
 
Auf die Gefahr hin, sich zu wiederholen: Dies ist ein Film von Mika Kaurismäki, nicht vom großen Bruder Aki. Während letzterer als Regisseurs des trockenen Humors sowie liebevoll lakonisch gezeichneter Seelen- und Soziallandschaften zu den All Time-Meistern seiner Kunst gehört, ernährt sich Mika mal schlecht, mal recht mit Road Movies vom Euro-Pudding. Mit "Honey Baby" reist er im Baltikum näher an der finnischen Heimat herum, schafft einige reizvollere Exemplare der Gattung "Schräge, kaputte Typen" und erinnert im Finale an ganz große Kunst.
 
Die verrückte Blonde und der Künstler mit dem gebrochenen Herzen. Dieses Klischee wird im Laufe der Reise mit einem antiken Mythos zusammenprallen und nur der launige Erzählstil Mika Kaurismäkis sowie das kühl-skurrile Setting rund um die Ostsee geben diesem Road Movie ins Totenreich etwas eigenes Reizvolles.
 
Sie ist sein größter Fan, aber auch weit und breit der einzige. Seine Konzerte sind mäßig besucht und werden bald sowieso durch den Promoter irgendwo in Deutschland abgesagt. Natasha (Irina Björklund) ist nicht nur Fan, sie ist auch Flüchtling, Wohlstandsflüchtling. Denn ein reicher Ehemann aus Deutschland (Helmut Berger in seltenem Auftritt) hätte ihr einen westlichen Pass verschafft, aber ohne Liebe wollte sie doch nicht. Nun sind die Häscher des beleidigten Fast-Gatten hinter ihr her. Und auf der Flucht gerät sie immer wieder an den amerikanischen Rocker Tony Brackett (Henry Thomas) - erst geraten sie aneinander, dann kommen sie zusammen. Etwas Poesie, Romantik beim Nachtlager am Ostsee-Strand und ein kultiger DS-Kombi. Dieser Trip mit viel Alk und wenig Benzin sieht gut aus, macht einen Abstecher beim Wanderzirkus, reist als Motorrad-Gespann weiter. Kaliningrad, Vilnius, Riga, Murmansk. Bis zum bitteren Ende - und jetzt kommt der Mythos mit dem Holzhammer. Tony, fast tot, schleppt sich in eine Hades-Disco, um seine Eurydike zu retten. Er singt zwar nicht, dafür erklingt coole Club-Musik zum grandiosen Setting, während das Paar die endlose Treppe in die Freiheit empor steigt. Diesmal zwar kein Blick zurück, aber in den Spiegel. Keine Mänaden zerreißen ihn, Bienen werden dem beim Imker aufgewachsenen zum Verhängnis.
 
Sinn macht dies "Honey Baby" nicht immer, Spaß manchmal. Wie gesagt, Kaurismäki ist nicht Kaurismäki, Mika nicht Aki, aber man kann sich diesen Mika ruhig ansehen.

20.1.06

Familia Rodante - Argentisch Reisen

Familia Rodante
 
Argentinien, Spanien, Frankreich, BRD, Brasilien, GB 2004  
Regie: Pablo Trapero
Buch: Pablo Trapero
Darsteller: Liliana Capurro, Graciana Chironi, Ruth Dobel, Federico Esquerro, Bernardo Forteza, Laura Glave, Leila Gomez, Nicolás López, Sol Ocampo, Marianela Pedano, Carlos Resta, Raul Vinona
Länge: 103 Min.
Verleih: Kairos
Kinostart: 23.2.2006
 
Road Movie ist, wenn sich Menschen auf einer Reise näher kommen. Doch die "Familia Rodante", diese argentinische "Familie auf der Straße", ist besonders. Näher kann man sich kaum kommen als diese, in ein hoffnungslos überfordertes Wohnmobil gequetschten vier Generationen. Aber sie werden sich intensiv erleben, sich und ihr Argentinien.
 
Eine Hochzeit bei einer entfernten Nichte steht an. Entfernt durch 1500 km und durch die lange Zeit, in der die 84-jährige Emilia (Graciana Chironi, die Großmutter des Regisseurs) ihre Schwester nicht mehr gesehen hat. Emilia muss nur einen kleinen Aufstand veranstalten, um ihre Familie davon zu überzeugen, mit ihr die Reise von Buenos Aires bis nach Misiones an der Grenze zu Brasilien anzutreten. Die Zeiten sind hart, man muss sich irgendwie durchschlagen. Also quetschen sich Emilia, ihre beiden Kinder, die Angetrauten, vier Enkel, ein Freund und eine Ur-Enkelin in das historische Wohnmobil mit einem Motor aus dem Jahre 1958.
 
Wechselnde Landschaften ziehen zu treibender Musik vorüber. Einen Blick nach draußen und frische Luft gibt es für die Passagieren im Fond nur über ein Mini-Fenster im Klo. Probleme sind da vorprogrammiert, mechanische und emotionale Pannen auch durch einen nachreisenden Liebhaber und lang unterdrückte Eheprobleme. Nach Norden hin wird es immer heißer, ein streunender Hund muss auch noch mitgenommen werden. Man könnte ein fahrendes Kammerspiel befürchten, doch immer wieder atmet das argentinische Road Movie bei (Zwangs-) Unterbrechungen, Picknicks und andere Pausen spürbar Freiheit.
 
Es liegt nicht nur daran, dass man gemäß Klischee eigentlich weiß: In Lateinamerika kochen Blut und Leidenschaften schneller hoch. Die beneidenswerte Gelassenheit und der lange Atem der Geschichte sind vor allem der entspannten Erzählweise des bemerkenswerten Regisseurs und Autors Pablo Trapero ("El Bonaerense") zuzuschreiben. Schnell fühlt man sich wohl, blickt den kleinen Aufgeregtheiten des Lebens entspannter entgegen und genießt vor allem am Ende die ausgiebig, fast dokumentarisch zelebrierte Hochzeit. Ein Erlebnis, das ohne die vorherige Reise so nicht möglich gewesen wäre.
 
Kontrollen korrupter Polizisten geben ein paar der Hinweise auf den Stand der Dinge in Argentinien. Wie beim großartigen argentinischen Fahrrad-Road Movie "El Sur" von Solanas wird das eigene Land, dieser halbe Kontinent, "erfahren", der Schwerpunkt liegt hier allerdings nicht auf dem Politischen. Die bewegten Bilder zeigen Menschen im Leben, Menschen in der Zeit. "Familia Rodante" wächst einem ans Herz durch sein ruhiges Tempo, dass umso mehr "mitnimmt". Faszinierend diese ungeheure Lässigkeit des Lebens, selbst nach heftigsten Streits. Ein mal aufgeregter, mal ruhiger Fluss ohne bemühte Wertungen oder Urteile. Eine Perle für das anspruchsvolle Kino und Menschen, die mit dem Kino Welt erfahren wollen.
 
Günter H. Jekubzik

The Piano Tuner Of Earthquakes


GB, BRD, Frankreich 2005
 
Regie: Stephen Quay, Timothy Quay
Buch: Alan Passes, Stephen Quay, Timothy Quay
Darsteller: Amira Casar, Gottfried John, César Saracho, Assumpta Serna
Länge: 99 Min.
Verleih: Piffl Medien
Kinostart: 27.4.2006
 
"The Piano Tuner of The Earthquakes" war lang erwartet, weil die Brüder Quay immer lang für ihre Werke brauchen. Sie kommen von der Malerei und dies ist nicht der einzige Berührungspunkt mit dem frühen Greenaway, dem anderen Maler, der Einschränkung und Herausforderung der Kamera überwindet. Allein der unglaublich bildgewaltige Titel machte lange neugierig: "The Piano Tuner of The Earthquakes" - Jemand, der Erdbeben stimmt! Dann die Aufregung um die Dreharbeiten in Leipzig mit Gottfried John der zwischen Cäsar und Bond-Schurke vielleicht wieder zum Kunstkino aus Fassbinders Zeiten zurück wollte. Nun werden die Fans der auf vielen Festivals ausgezeichneten Quay-Kurzfilme (gesammelt auf DVD erhältlich) direkt ins Kino rennen. Alle anderen sollten sich einige Hinweise zu Herzen nehmen, bevor sie das traumhafte Kunstuniversum der Brüder betreten.
 
Der Traum beginnt mit dem Tod oder der Entführung der Oper-Sängerin Malvina (Amira Casar) direkt von der Bühne weg kurz vor ihrer Hochzeit mit dem Dirigenten Adolfo (César Saracho). Malvina erwacht in einem Traum, einem Gemälde auf der Insel des mysteriösen Dr. Droz (Gottfried John). Dieser verhinderte Komponist plant ein großes Werk, das die Welt in ihren Grundfesten erschüttern soll. Die Welt, die seine Kompositionen vorher ablehnte. Um die sieben Musik-Automaten mit ihren Ruderbooten und Fischköpfen zu stimmen, die sich in einem geheimnisvollen Wald verteilen, wird der Piano-Stimmer Felisberto (César Saracho) engagiert. Der Kontrakt des Piano-Stimmers beinhaltet strenge Regeln, wie mit den kleinen kunstvollen Theaterbühnen und (Alp-) Traumwelten umzugehen ist. Während die Haushälterin Assumpta (Assumpta Serna) ihm eindeutige Avancen macht, fühlt sich Felisberto stark zu der stillen Malvina hingezogen, die im Zentrum des Werkes von Droz stehen soll.
 
"The Piano Tuner of The Earthquakes" basiert sehr frei auf dem Text "The Invention Of Moral" des Argentinier Adolfo Bioy Casares, Verweise auf "Die Insel des Dr. Moreau" lassen sich ebenfalls hineinlesen. Anfangs entsteht das Schwere, Geheimnisvolle, Traumhafte im "Piano Tuner" durch neblig weich gezeichnete Bilder, durch eine Fabel von Ameisen und vom Pilz im Off. Zunehmend geht der Sog dieses poetischen Science Fiction immer mehr von den Automaten und ihren düsteren, blutigen Vorausdeutungen aus. Sie spiegeln die Realhandlung und ziehen die Figuren in sich hinein. Darin liegt auch die Spezialität der Quay-Brüder, die Verschmelzung von filigraner Animation und Realfilm. Ihnen ist nicht allein Regie und die fantastische Geschichte zuzuschreiben. Auch Design und Animation dieses komplexen, verspielten, ästhetisch und gedanklich verwinkelten Gesamtkunstwerks stammen von den Menschen, denen man aufgrund ihrer Werke vielleicht nicht unbedingt begegnen will, die sich persönlich allerdings als nett und freundlich wie die Filmemacher von nebenan erweisen. Man könnte einige Vergleiche heran ziehen - Jan Svankmajer, David Lynch, Tim Burton - doch die Quay-Brüder bleiben einzigartig.
 
Noch stärker als bei ihrem Langfilm-Erstling "Institute Benjamenta, or This Dream People Call Human Life" werden die innovativen und imaginativen Künstler kritisiert, dass sie erzählerisch nicht den Sprung vom Kurzfilm zur Langhandlung geschafft haben. Aber man sollte sich vielleicht von solchen Kategorien lösen, sich ganz und gar auf die Bilderwelten einlassen. Man könnte derweil auch ausprobieren, ob sich Dr. Droz' Automaten mit dem Automat Film metaphorisch zur Deckung bringen lassen. Doch aufgepasst: Dieser Film ist nicht nur hochgradig seltsam, er wird auch nicht aufgelöst. Trotzdem setzt er den Preis-Reigen für die Quay-Brüder fort: Der verstörend kunstvolle Film-Traum erhielt 2005 eine Besondere Erwähnung in Locarno. Eine Empfehlung für Fans und Freunde des besonderen Kunstkinos abseits des Mainstreams.
 
Günter H. Jekubzik

19.1.06

The Big White


USA 2005
 
Regie:       Mark Mylod
Drehbuch: Collin Friesen
Kamera:       James Glennon
Schnitt:       Julie Monroe
Kostüme:       Darena Snowe
Produzenten:       Chris Eberts, Christopher Roberts, David Faigenblum
Darsteller: Robin Williams (Paul Barnell), Holly Hunter (Margaret Barnell), Giovanni Ribisi (Ted), Alison Lohman (Tiffany), Woody Harrelson (Raymond Barnell), Tim Blake Nelson (Gary), W. Earl Brown (Jimbo)
Länge: 100 Min.
Verleih: 3L
Kinostart: 9. März 2006
 
Es gilt die Wiederentdeckung von Robin Williams zu feiern. Trotz ambitionierter Rollen etwa als psychotischer Photo-Entwickler in "One Hour Photo" oder als hinterhältiger Killer in "Insomnia" geriet der einstige Stand Up-Comedian nach der Abkehr von grobschlächtigeren Komödien ("Mrs. Doubtfire") so aus dem Radar des Interesses, dass man begeisterte Nachfrager(innen) immer korrigieren musste: Nein, nicht mit Robbie, mit Robin Williams sei der Film. Nun zeigt Williams sich inmitten endloser Schneemassen und eines eindrucksvollen Casts als einfühlsamer Komödiant und es ist eine Freude, ihn so zu sehen.
 
"The Big White" beginnt und bleibt schräg, nicht nur im Kamerawinkel: Holly Hunter, nur mit Pyjama und Pantoffeln bekleidet, schlurft durch eine große, schneebedeckte Weite. Wie beim Zielsprint springt sie über eine imaginäre Gemeindegrenze bevor sie der Orts-Polizist wieder einfängt. Die verwirrte Margaret Barnell wird von ihrem Mann Paul (Robin Williams) liebevoll gepflegt. Obwohl dem braven Reisebürochef die Schulden und Sorgen über den Kopf wachsen. Eines Tages präsentiert ein Müllcontainer die Lösung und die tragikomische Wende im kleinen, verzweifelten Leben von Barnell. Zwei besonders dämliche Gangster lagern dort eine Leiche zwischen, die sie im Dienste der Mafia vom Leben zum Eisklotz befördert haben. Barnell findet sie, ist erst entsetzt und fängt dann an zu kombinieren. Es fehlt ihm nämlich eine Leiche zum - wenigstens finanziellen - Glück. Vor Jahren verschwand sein Bruder Raymond und die herzlose Versicherungsgesellschaft will dessen höchst wahrscheinlichen Tod nicht akzeptieren, sprich: nicht mit der riesigen Versicherungssumme rausrücken. Nun lagert der liebende Bruder den Ersatzmann für das Bruderherz in der Tiefkühltruhe ein, inszeniert ein paar rührende Begrüßungsmomente vor Fast-Zeugen und bereitet die Leiche besonders appetitlich zu, damit sie am nächsten Tag von Bären und Wölfen angenagt, aber aufgrund geschickt platzierter Details immer noch als die seines Bruders erkennbar gefunden wird.
 
So weit, so rührend naiv. Man weiß ja, spätestens seit "Fargo", wie es endet, wenn brave Bürger mal ein wenig kriminell sein wollen. Die Mafia vermisst einen Arbeitsnachweis ihrer Killer, ein besonders scharfer Versicherungsagent (Giovanni Ribisi macht in Slapstick) traut dem Frostbrand-Braten nicht und zur Krönung taucht auch noch der verlorene Bruder Raymond (Woody Harrelson) auf - leibhaftig sowie gefährlicher und durchgeknallter als je zuvor. Kein Kain und Abel war bislang so mörderisch komisch.
 
Das mag jetzt rassistisch gegenüber allen Nordlichtern sein, aber allein durch die dicken Daunenjacken mit den kleinen, verzweifelten Menschlein drin ist "The Big White" einfach komisch. Dazu tut die Kamera ein Übriges, nimmt mal die Perspektive eine wahnsinnigen Pinschers ein, mal die gewagte Innenansicht eines Müllcontainers. Und selbst eine angefressene Leiche macht noch witzige Grimassen. Eine gelungene schwarze Krimi-Komödie einerseits. Die übliche Variante von "Fargo" und Co trotzdem nicht, dazu bringen vor allem die Frauen zuviel Herz hinein. Ein Glanzlicht ist Holly Hunter: Wenn Margaret ihrem Tourette-Syndrom voll die Zügel gibt, herzerfrischend flucht, weiß man nicht, ob man lachen oder leiden soll. Nur anrührend dagegen, wie Paul damit umgeht, auch wenn er daran selbst fast zugrunde geht. Dazwischen gibt es noch eine verrückte Geiselnahme, Situationskomik mit Rentieren, viele originelle Bildideen und -perspektiven. Nicht vergessen sollte man Alison Lohmans Tiffany mit einer sehr unkonventionellen Telefonberatung, noch eine dieser herzlich erfrischenden Figuren bei dieser in vieler Hinsicht positiven Überraschung abseits von den starren Formeln des Mainstreams.
 
Günter H. Jekubzik

C.R.A.Z.Y.


Kanada 2005
Regie: Jean-Marc Vallée
Kamera: Pierre Mignot
Schnitt: Paul Jutras
Production design: Patrice Bricault-Vermette
Kostüme: Ginette Magny
Darsteller: Maxime Tremblay, Alex Gravel, Felix-Antoine Despatie, Mariloup Wolfe, Jean-Louis Roux, Francis Ducharme, Helen Gregoire, Johanne Lebrun, Natasha Thompson.
Länge: 127 Min.
Verleih: Concorde
Kinostart: 25.5.2006
 
Diese Kritik will gesungen werden: Wer den Hit "C.R.A.Z.Y." erleben durfte, wird den gleichnamige Ohrwurm von Patsy Cline nicht mehr los lassen. Der lustvoll historische und ebenso emotional wie komische "Familienfilm" ist eine Top-Notierung unter verfilmten Songs ("I want you",  ...) und ein ungemein originelles Coming Out des kanadischen Regisseurs Jean-Marc Vallée.
 
Zachary Beaulieu hatte schon früh ein Problem: Nie bekam er zu Weihnachten, was er wirklich wollte. Wünschte er sich einen Kinderwagen, gab es ein Hockey-Spiel. Nun ist man schon geschlagen, wenn man seinen Geburtstag mit einem gewissen Jesus Christus teilen muss. Das Ganze dann noch in einer besonders religiösen franco-kanadischen Familie. Da kann nur ein Wunder helfen. Es kommt auch, hilft aber gar nicht: Als eine hellseherische Bekannte der Mutter, die Tupperware-Lady, erkennt: "Er hat eine Gabe!", steht das Telefon der Familie nicht mehr still. ("Matrix" lässt grüßen!) Bei jedem Schnitt in den Finger, bei jeder Verstauchung, soll Zac nun heilen.
So viele wundersame und höchst amüsante Aufregungen, da gerät fast in den Hintergrund, dass Zacharys Vater und Held Gervais Beaulieu (Michel Côté       ) an diesen hohen Feiertagen regelmäßig Aznavour schmettert, mit Vorliebe das ziemlich unmöglich nachsingbare "Emmenez moi" mit dem "Ciel du Nord"-Refrain. Das nimmt mit, die Familie nervlich, das Kino hell begeistert. Karaoke gab es damals noch nicht, aber dank Mikro-Eingang wunderbare Duette mit der Vinyl-Platte.
 
Bei alle der Aufregung - von den vier anderen, ebenfalls sehr besonderen Brüdern Christian, Raymond, Antoine und Yvan haben wir noch gar nichts erzählt - wundert es nicht, dass Zac nicht recht mitbekommt, dass er schwul ist. Doch der einst stolze Papa Gervais muss irgendwann miterleben, wie sein Lieblingssohn in Mädchenklamotten den nachgeborenen Bruder Yvan stillen will. Von da an steht eine eisige Eigernordwand zwischen den vormalig dicksten Kumpeln, die immer heimlich zum Pommes essen fuhren. Und Zac selbst will nicht wahrhaben, was sein Vater nicht ertragen kann. Fortan kämpft der Junge mit einer Lüge und seinem Asthma.
 
Dieses grandiose kanadische "Ma vie en rosa" wäre nur als schwieriges Coming Out zu lang und zu konventionell. Doch Regisseur und Ko-Autor Jean-Marc Vallée gelang eine begeisternde Hitrevue mit schillernden Menschen und einer ernst zu nehmende Rebellion gegen die Religion. Schon die historische Ausstattung in dem Zyklus der Weihnachts- bzw. Geburtstagsfeiern mit dem Besten aus den Sechzigern, den späten Siebzigern und den frühen Achtzigern bietet Hochgenuss, der Humor ist vom Feinsten und lässt nie lange auf sich warten. Und selbstverständlich die Musik, wenn die ersten Buchstaben der Namen der Söhne zum Titel des Lieblingssongs C.R.A.Z.Y. werden, wenn der Regisseur Vallée für die Rechte an Songs wie Bowies "Space Oddity" angeblich auf Teile seines Honorars verzichtete. (Sein Sohn Emile spielt übrigens den ganz jungen Zac.)
 
Emotionaler Tiefgang kommt von alleine, da vor allem das Verhältnis von Zac zum störrischen Vater und zur nahezu übersinnlich mitfühlenden Mutter einfühlsam gezeichnet wurde. Das Religiöse bleibt durchgehend ein spannender Reibungspunkt: Mal nett verlacht, dann von Zac verleugnet, als er in der Rauheit des Ferienlagers versinkt. Mit 15 Jahren ist für den Atheisten "Sympathy for the Devil" der große Hit, wie eine der vielen grandiosen Montagesequenzen zeigt. Doch bevor es zum Coming Out kommt, muss Zac noch wie Jesus in Israel in die Wüste und ein paar Wunder überleben. Es gibt also mehr als genug Gründe, diesen in jeder Hinsicht gelungenen Film unbedingt sehen zu müssen!
 
Günter H. Jekubzik

16.1.06

Yes


Großbritannien/USA 2004 (Yes) Regie: Sally Potter mit Joan Allen, Simon Abkarian, Sam Neill, Shirley Henderson 100 Min. FSK ab 12
 
Man darf wieder "Ja" sagen zu Sally Potter. Nach dem Androgynitäts-Epos "Orlando" und den zwischengeschlechtlichen "Tango Lessons" gelang ihr nun ein schöner, intelligenter, rührender und immer wieder mit Originalität beschenkender Liebes-Lebens-Film.
 
"Sie" (Joan Allen) trifft "ihn" bei einer Gala. "Er", der im Libanon Arzt war und in London als Koch arbeitet, erkennt ihr emotionales Dürsten sofort und erfüllt es bald. Ihr Gatte Anthony (Sam Neill) spielt nur noch die Rolle eines Ärgernisses.
 
Wie immer geht es bei Sally Potter um das Verhältnis von Männer und Frauen, um die Analyse der Machtstrukturen in und zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaften. Doch in diesem nur von der Konstellation romantischen Setting bringt sie es fertig, völlig glaubhaft und lebendig eine Konfrontation von Imperialismus und südländischem Machismo in die emotionale Auseinandersetzung zu bringen. Liebe und Tod, ein Diskurs über den Fremden, den Asylanten, den Arzt, der in England immer übersehen wird. Gleichzeitig betörend schöne Bilder, eine wunderbare Ästhetik und eine funkelnde Intellektualität.
 
Die vielfältig talentierte Künstlerin Sally Potter schrieb auch die Musik, zusammen mit Philip Glass und Tom Waits. Sie beherrscht die Siebte Kunst komprimiert Einsamkeit wunderbar in Bilder, wagt es sogar, die Figuren in Versform sprechen zu lassen. Beim englischen Original fließen auch die Jamben in Gedanken und Gesprächen leicht wie Alltagssprache. (Ob die deutsche Synchro damit zurecht kommt, bleibt abzuwarten.) Bis hin zu den letzten weisen Worten der scharf und selbstbewusst kommentierenden, allwissenden Putzfrau (Shirley Henderson): Nein existiert nicht, es gibt nur ein Ja.

15.1.06

Populärmusik aus Vittula


Schweden, Finnland 2004 (Populärmusik från Vittula) Regie: Reza Baghar 105 Min. FSK ab 12
 
Mit einem herrlichen Kinospaß wartet das neue Jahr direkt auf: Wie sich Gitarren-Rock im äußersten Norden Schwedens, wo es schon fast Finnland ist, durchsetzt. Was eine Beatles-Platte während der 60er in Vittula anrichtet, in diesem Umfeld aus saufenden Sturköpfen und wortkargen Schlägern, ist nicht nur umwerfend komisch. Der sensationelle Kinoerfolg Schweden hat auch reichlich was fürs Herz zu bieten. Und löst am Ende die Frage, wie man seine auf einem einsamen Berggipfel festgefrorene Zunge wieder auftaut ...
 
Im tornedalischen Pajala, in der nördlichsten Ecke Schwedens, wächst Matti in den 60er auf. Eine raue Jugend unter Elchjägern, Holzfällern und Flößern, so skurril wie man es aus Kaurismäki-Filmen kennt. Exzessive schwedische-finnische Hochzeiten mit Trinkgelage, Sauna-Aufguss-Wettbewerb und Fingerhakeln krönen den Alltag.
 
Doch als eine Beatles-Platte im Stadtteil Vittula landet, steht die Welt von Matti und Niila auf dem Kopf: Rock’n Roll Music zieht ein als Traum von Freiheit und einer anderen Welt dort draußen. Zum Glück kommt auch ein neuer, alternativ origineller Musiklehrer und Rennradfahrer aus Südschweden in das Dorf, das seinen ersten Neger wie ein Weltwunder mit offenem Mund bestaunt. Hier tritt Nilla erstmals hervor, seine autodidaktische Begeisterung für Esperanto zahlt sich endlich aus, der Junge kann die Predigt des Afrikaners übersetzen!
 
Nachdem der Lehrer ein Radrennen gegen den Bus gewann trashen die Mini-Rocker direkt das Klassenzimmer und begeistern die Groupies. Der gemeinsamen Karriere der Freunde steht nur noch der prügelnde Vater Niilas im Wegen, der mehr Gitarren zertrümmert, als The Who in ihrer kurzen, lauten Karriere. Und vielleicht die Frauen, die immer gefährlich werden, wenn zwischen zwei Jungs mehr als Freundschaft wächst.
 
Die Dorfgeschichte wie Action inszeniert. Der Tod der religiösen Oma wie beim "Exorzist" angelegt. Die Nachstellungen des komischen Kauzes und transvestiten Händlers Ryssi wie ein Horrorfilm. Man kann noch so viele "Wie's" bemühen, diese "Populärmusik" ist ein einzigartiges Ereignis. Schlägt im Süden - wenn man oberhalb des Polarkreises wohnt, ist fast alles Süden - ein wie einst die Beatles-Platte im Norden. Kurios, komisch, selbst eklig auf ganz eigene, Vittula-skurrile Weise.
 
Regisseur Reza Bagher erblickte 1958 im Iran das Licht der Welt. Mit 17 Jahren zog es ihn nach Schweden, um Abitur und ein Ingenieursdiplom abzulegen. Im Anschluss daran studierte Reza Bagher Schauspiel und Film an der Stockholmer Filmhochschule. Vielleicht gelingt auch mit etwas Distanz ein besonders schön schräger Blick auf eigentümliche europäische Volksgruppen.

Roll Bounce


USA 2005 (Roll Bounce) Regie: Malcolm D. Lee mit Lil' Bow Wow, Chi McBride, Khleo Thomas 112 Min. FSK ab 6
 
Noch alte Rollschuhe im Keller? Es wird Zeit sie zu entrosten, meint dieser beschwingende Rollschuhtanz aus den 70er Jahren mit grandiosen Hits und einer guten Jugend-Story.
 
"Roll Bounce" liefert mit rasender Kamera auf Kniehöhe grandiose Choreografien - wieso sind die Rollerdiscos eigentlich ausgestorben? Dem ersten geschlossenen Schuppen gegenüber sitzen 1978 in Chicago Xavier (Lil' Bow Wow) und seine Freunde. Der Lebensmittelpunkt, um den die Rollerskates der Schüler kreisten, ist weg. Jetzt müssen die Jungs zum Glitzerladen im besseren Viertel. Dort ist der coole Sweetness der Superstar und will an Naomi ran, die aber immer zu Xavier rüber blinzelt. Bevor es in einer fiebrigen Samstagnacht zum klassischen Duell auf der Tanzfläche kommt, müssen Xavier und sein arbeitsloser Vater mit dem Tod der Mutter und mit sich selber fertig werden ...
 
"Can You Feel the Force", "Love to Love You Baby", "Kung Fu Fighting", "Le Freak", "He's the Greatest Dancer" - nur einige der sagenhaften Hits, die mit akrobatischen Tanzeinlagen auf Rollen schon die Eintrittskarte lohnen. Ein Generationsproblem könnte allerdings dem flotten Lauf der Dinge im Wege stehen. Denn das jugendliche Zielpublikum wird die Hits von Donna Summer oder Sister Sledge höchstens als Remix kennen. Doch der Film ist trotzdem zeitlos gut: Die schwierige Situation von Xavier stammt nicht aus dem Drehbuch-Computer, die Freunde nehmen sich ernst - im Gegensatz zu vielen anderen amerikanischen Teenie-Filmen. Und der Film nimmt seine Figuren ernst. Zur ernsthaften Selbstfindung gibt es auch guten Humor, etwa wenn Xaviers Konkurrenten, vier über-coole Typen, wie Kraftwerk auf Eis rumtanzen oder zwei Müllmänner als plebejische Variante des griechischen Chores ihren frechen Kommentar loslassen.

Couchgeflüster


USA 2005 (Prime) Regie: Ben Younger mit Meryl Streep, Uma Thurman, Bryan Greenberg 106 Min. FSK o.A.
 
Auf der Couch mit Meryl Streep. Die grandiose Schauspielerin zeigt noch einmal ihre komödiantische Seite und begeistert direkt mit zwei Gesichtern. Eines von vielen Highlights in dieser trotzdem etwas holperigen Romanze zwischen Uma Thurman und Bryan Greenberg.
 
37 Jahre jung, frisch geschieden und offen für Neues, so zeigt sich Rafi (Uma Thurman) bei ihrer Psychoanalytikerin Lisa Metzger (Meryl Streep). Aber vielleicht ist der neue Lover David (Bryan Greenberg) mit 23 Jahren doch etwas zu neu, zu frisch, zu jung. Deshalb wird mit dem Alter auch etwas geschummelt. Aber ansonsten ist Rafi hemmungslos offen, sexuelle Details kommen selbstverständlich auch auf den Tisch neben der Couch.
 
Dass bei Lisa Metzger noch etwas anderes als all die viel zu massigen Halsketten irritiert, zeigt sich, als auch sie erfährt, was den Zuschauern kurz zuvor verraten wurde: David ist ihr Sohn und diese Überraschung entblößt die zwei Gesichter der Lisa Metzger. Einerseits eine lockere, offene Psychoanalytikerin, andererseits eine sehr strenge und verklemmte jiddische Mame.
 
Die Streep als garstige Schwiegermutter, als Gegenstück zu DeNiros neurotischem Schwiegervater in "Meine Braut, ihr Vater und ich"! Klasse, doch damit gibt sich das "Couchgeflüster" längst nicht zufrieden. Die Couch quietscht zeitweilig lustvoll in den Federn, dann schaukelt sie wieder romantisch im Kerzenlicht und dabei sind Rafi und David grandios. Er arrangiert ein Essen vor ihrem Lieblingsgemälde - im Archiv des Museums. Sie ist verzaubert, mit einem derartig hinreißenden Jungmädchen-Lächeln, dass man ihr auch deswegen vor der Leinwand verfallen könnte. Aber es gibt das Störgeräusch der biologischen Uhr, ein Babywunsch steht zwischen ihnen. Sie lieben sich, doch kriegen ihre Lebenszyklen nicht zusammen. Da ist das romantische Geflüster auf einmal ganz ernsthaft, gar nicht oberflächlich. Und mit einem Ende, dessen bewundernswerte Liebes-Ehrlichkeit und Konsequenz Herzen und Hirne bewegt.
 
Zwischendurch schüttelt das Lachen über die tiefenanalytischen Hintergründe zur Q-Tip-Sucht von David das Kino durch. Das jüdische Jüngelchen liefert auch puren und wirkungsvollen Slapstick, wenn sich in seinem schlechten Gewissen die "Bobbe" (Großmutter) dauernd mit der Bratpfanne vor den Kopf haut. Dazu ist die Ausstattung ein Meisterstück: Auf die Sprache der zahllosen coolen T-Shirts (Kostüme Melissa Toth) werden sich Semiotiker in Folge von Roland Barthes scharenweise stürzen. Dazu kriegt man kurze Lehrstücke in Sachen Jazz, bildender Kunst und jüdischem Humor geschenkt. Tolle Nebenfiguren wie der tortenwerfende Beziehungs-Rüpel Morris (Jon Abrahams) bereichern. Der Music-Score von Ryan Shore mit eigenen Kompositionen, Mozart, Ellington, Rufus Wainwright und Irving Berlin vollendet das mal sperrige, mal einkuschelnde Kino-Möbelstück, das manchmal aneckt, aber meist begeistert.

Die Geisha


USA 2005 (Memoirs of a Geisha) Regie: Rob Marshall mit Zhang Ziyi, Ken Watanabe, Michelle Yeoh 145 Min. FSK ab 12
 
Es ist vor allem eine Unverschämtheit: Wieder so ein Film, bei dem alle "Ausländer" (in der Originalversion) ein furchtbar schlechtes Englisch sprechen. Wieder dieser übliche Rassismus Hollywoods: All die Figuren in "Geisha" sprechen als lebenslange Japaner wahrscheinlich sehr gut japanisch. Weshalb macht man sie auf der Tonspur zu dummen Ignoranten? Damit man weiß, die Geschichte mit den Kimonos, den Schiebtüren, den ganzen "Schlitzaugen" spielt in Japan? Dazu wäre Japanisch im Original angebracht, mit entsprechenden Untertiteln. Aber die Produzenten, die ihre Figuren für dumm verkaufen, glauben ja zudem, dass ihr Publikum nicht lesen kann!
 
Ansonsten heißt es erneut: Nach einem Roman von ... Wer sich Japan ignorant meist mit Murakami erliest, versteht nicht, weshalb aus dem "Bestseller" von Arthur Golden unbedingt ein Film werden musste. Bis man den ästhetischen Augenschmaus erlebt, in den Rob Marshall ("Chicago") seine ebenso melodramatische wie triviale Geschichte taucht.
 
In einer verregneten Nacht des Jahres 1929 wird die neunjährige Chiyo aus einem Fischerdorf in ein Bordell nach Kyoto verkauft. In diesem Geisha-Haus, wie man vielleicht differenzieren muss, überwindet die Faszination der fremden Welt und der großen Stadt bald die Angst des kleinen Mädchens. Immer wieder erlernt sie neue Fähigkeiten, wird aber durch Intrigen der hinterhältigen Dauerrivalin Hatsumomo (Gong Li) und eigene Fluchtversuche zur Dienerin degradiert. Die Hoffnung, ihre ebenfalls zur Prostitution verkaufte Schwester wieder zu finden, entschwindet bald, aber der einsame Tiefpunkt der Geschichte stellt gleichzeitig die Wende dar.
 
Der fieseste Trick dieser Geisha-Erinnerungen ist, dass Chiyo (Zhang Ziyi) nun aus eigenem Antrieb Geisha werden will, weil ihr ein netter Onkel ein Eis ausgab und sie diesen "Vorsitzenden" nun den Rest ihrer "Karriere" lang wieder finden will. Die brutale körperliche und geistige Abrichtung des Mädchens zu einer servilen Geisha verläuft als berauschende Montage, aufgepuscht von der wenig subtilen Musik John Williams ("Star Wars").
 
Der Regisseur heißt zwar Rob und nicht Garry Marshall, doch auch "Die Geisha" ist wie "Pretty Woman" ein Märchen von der Prostitution, naiv und beschönigend: Chiyo wird mit neun Jahren an ein Bordell verkauft, aber dass dabei Vergewaltigung oder Kinderprostitution eine Rolle spielen könnte, muss man sich selbst denken. Doch vielleicht steckt dahinter auch das vom Film beschworene "Mysterium der Geisha". In einer Schlüsselszene weigert sich Chiyo tatsächlich, mit einem amerikanischen Piloten zu schlafen. Was wir in dem Melodram erleben, ist eine sehr begrenzte Emanzipation im engen Rahmen der Frauenposition Geisha.
 
Bei Rob Marshall ("Chicago") ist es verständlich, dass Tanzszenen besondere Aufmerksamkeit heischen. Wobei es sich eher um modernen Ausdruckstanz als um japanische Kultur handelt. Doch den Verführungen des exquisiten Kimonos, der edlen Ausstattung, der ikonografischen Schminkmaske, der Stilisierung jeder Bewegung kann man sich schwer entziehen. Und auch nur diese ist der Reiz des oberflächlichen Exotischen, mit dem die "Geisha" sich im Westen verkauft.

Pietje Bell und das Geheimnis der schwarzen Hand


Niederlande, BRD, Belgien 2002 (Pietje Bell) Regie: Maria Peters mit Quinten Schram, Felix Strategier, Angela Groothuizen 112 Min.
 
Frech und rabiat wie Max und Moritz zusammen, trotzdem ein Volksheld: Petje Bell kennt in den Niederlanden nicht nur jedes Kind. So sahen gleich 900.000 diese Verfilmung, das entspricht in Deutschland fast 5 Millionen Zuschauern! Regisseurin und Autorin Maria Peters fasste einige Geschichten aus den acht Büchern von Chris van Abkoude zu einem großen Abenteuerfilm um einen kleinen Helden zusammen.
 
Pietje Bell (Quinten Schram), der freche Junge aus Rotterdam, nimmt kein Wort vor den Mund und alles wortwörtlich. Immer eine freche Antwort auf den Lippen, die zudem auch noch richtig gewitzt ausfällt. Genauso geschickt ist Pietje mit seiner Schleuder und im Verursachen von großem Aufruhr, egal ob er eine Prozession oder eine Straßenbahn zum entgleisen bringt.
 
Besonders sympathisch ist Pietjes Familie gezeichnet, wobei vor allem der Vater (fast) all die kleinen Katastrophen mit einem liebevollen und auch stolzen Lachen aufnimmt. Schließlich befreit Pietje die Familie ja auch von der schrecklich geizigen Tante Cato, die nicht aus Karton ist, aber tatsächlich eine alte Schachtel ...
 
So wird Pietje schnell zum auf Titelseiten gesuchten, stadtbekannten Lausbuben - eine Abwechslung zu den miesen Wirtschaftsmeldungen der 30er Jahre. Aber der Journalist, der mit Pietje die Auflage rauftreibt, nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau und hängt dem fröhlichen Kerl auch Dinge an, die er mal nicht verbrochen hat. Es wird Zeit, dass der Held und Schrecken von Rotterdam mit seiner Bande für Ordnung sorgt ...
 
Dieser Pietje ist eine großartige Nummer, man verzeiht ihm die übelsten Scherze, die in Slapstick-Manier, passend zur Zeit der 30er-Jahre und zum Genre Kinderfilm, präsentiert werden. Er allein trägt den Film über die fast zwei Stunden, gut unterstützt von den historischen Kulissen und Kostümen. Ein Hauch von Kästners Bubenstreichen und Kinderabenteuern, mit einer zeitlosen Güte im Herzen des Helden ist diesem Jungen mitgegeben. Unübersehbar und auch aktuell in Pietjes Umgang mit dem bettelarmen Freund oder in den Erfahrungen, wie man als Medienstar mit Übertreibung und Lüge leben muss.

Ein Trauzeuge zum Verlieben


GB 2005 (The Best Man) Regie: Stefan Schwartz mit Stuart Townsend, Amy Smart, Burn Gorman, Seth Green 96 Min.
 
"Shooting Fish" hieß der tolle Vorgänger und so einfach wie das Fischfangen in einer Tonne erweist sich das Finden umwerfend komischer und sympathischer Szenen in dieser netten, ein wenig frechen romantischen Komödie. Dieser Trauzeuge ist zum Glück ein wenig origineller als der Titel befürchten lässt.
 
Unser tragikomischer Held, der blockierte Schriftsteller Olly (Stuart Townsend), leidet unter einer Schreib- und Pinkelblockade seit er für sein Erstlingswerk 50.000 Pfund Vorschuss bekommen hat. Nun fristet ein Dasein im Keller des Verlages als Sekretär einer Chef-Zicke der Abteilung Selbsthilfebücher für Frauen. Als talentiertes Fettnäpfchen-Trüffelschwein zertrümmert er bei der Verlobungsfeier des Freundes James (Steve John Shepard) unter anderem den Golfsimulator und verliebt als Krönung sich in dessen Zukünftige Sarah (Amy Smart).
 
Wenn Olly bei der Party erst eine Frauhose geliehen bekommt, die dann auch unweigerlich im Schritt reißt, fällt einem Blake Edwards "Partyschreck" ein. Auch wenn in diesem Film niemand schauspielerisch Peter Sellers das Wasser reichen kann, adelt dieser Gedanke doch den "Trauzeugen". Tatsächlich sind einige Szenen und Ideen umwerfend.
 
Dazu trägt vor allem Seth Green als eifersüchtiger Mitbewohner und ältester Freund Murray mit unverschämten und rücksichtslosen Ideen bei. Der Abonnent des Magazins "Fesseln und Peitschen" hat all die schlüpfrigen Intrigen inpetto, die Sarahs Hochzeit letztendlich noch verhindern werden. Nur schade, dass der gutherzige Tollpatsch Olly als Treuzeuge loyal bleiben will und alles vermeidet, was ihn näher zu Sarah bringen könnte. Doch gerade das macht ihn besonders reizvoll ...
 
Der süße Clown Stuart Townsend vermag nicht nur seine Verlobte Charlize Theron zu überzeugen, auch auf der Leinwand funktioniert sein Charme bei vorhersehbaren Gags und Happy End: Wer schreibt, der bleibt!

9.1.06

The Fog - Nebel des Grauens


USA 2005 (The Fog) Regie: Rupert Wainwright mit Tom Welling, Maggie Grace, Selma Blair 100 Min. FSK ab 16
 
Der Horror geht weiter: Nach "Texas Chainsaw Massacre", "Dawn of the Dead" und "Amityville Horror" wurde nun auch John Carpenters "Nebel des Grauens" von 1980 gegen alle Gesetze der Natur widerbelebt. Schade, denn auch wenn das Original kein besonders gelungener Horrorfilm war, mit zunehmender Entfernung gewann die Grund-Idee des mörderischen Nebels an Reiz.
 
Nun wird das Küstenörtchen von lauter und schlechter Musik heimgesucht und irgendwann zieht auch der mysteriöse Nebel auf. Er ist voller heimtückischer Geister, die sich an den Bewohnern rächen wollen, denn vor 100 Jahren ließen diese ein Schiff mit Leprakranken vor der Küste verbrennen. Nun kommen sie wieder, um die Nachfahren zu ermorden. Zuerst wahllos, dann vor allem die wirklichen Erben der bigotten Gründerväter.
 
Mit ein paar TV-Gesichtern, mehr Kommunikationsmitteln, die ausfallen können und einigen digitalen Spielereien produziert das Remake vor allem Langeweile. Weder Gruseln noch Schrecken gelingt dem Horror-Filmchen. Da waren wohl die Köpfe der Macher und Produzenten mächtig vernebelt!

Dark Horse


Dänemark, Island 2005 (Voksne Mennesker) Regie: Dagur Kári mit Jakob Cedergren, Tilly Scott Pedersen, Nicolas Bro, Morten Suurballe 100 Min.
 
Wer "Nói Albinói" gemocht hat, braucht eigentlich nur einen Satz: Dies ist der neue Film von Dagur Kári mit einer ganzen Reihe sympathischer Sonderlinge im Stile von Kaurismäki. "Daniel gegen das System" lautet eines der Kapitel und der junge Sprayer Daniel hat ganz gute Chancen den Kampf zu gewinnen. Echt überzeugend erklärt er dem Finanzbeamten, dass er in den letzten Jahren gerade mal eine Handvoll Euro verdient hat. Doch das System schlägt zurück - mit zahllosen Tickets für falsches Parken. Dabei kann ein kleiner Fiat Bambino doch gar nicht so verkehrt stehen.
 
Der Meister der Sonderlinge ist Daniels Freund Roger, ein dicker Gehilfe im Schlaflabor, der sich zum Schiedsrichter berufen fühlt und die strengen Regeln des Spiels auch im Leben anwendet. In einer magischen Begegnung erklärt ihm die Bäckereifachverkäuferin Franc ihre Liebe - allerdings wusste Franc wegen magischer Pilze nicht so richtig, was sie tut. Daniel bringt sie nach Hause und dort bricht die Liebe richtig aus.
 
Doch hier einfach Handlung nachzuerzählen, täte Dagur Káris Stil ziemlich unrecht: "Dark Horse" amüsiert mit komischen bis absurden Szenen, die Einfälle der Figuren sind köstlich, Roger stellt mit seinem Schiedsrichter-Dress eine durchgehende Lachnummer dar. Die Komödie kippt allerdings mit Daniels Gemütszustand ins Depressive bei einer ungeplanten Lebenswende. Aus dem Fragmentarischen entsteht ein Rätsel als auch die anarchischen Handlungen eines gelangweilten Richters zwischenmontiert werden. Zeitweilig kippt die Balance aus Episodischem und halbwegs konventioneller Erzählung. Doch spürt man immer das überschäumende Talent und den Ideenreichtum des jungen Skandinaviers, von dem man auf jeden Fall mehr sehen möchte.

Gabrielle


Fr, I, BRD 2005 (Gabrielle) Regie: Patrice Chéreau mit Isabelle Huppert, Pascal Greggory, Claudia Coli 90 Min. FSK ab 12
 
Ein Kunstwerk, atemberaubend. Und mittendrin ein unerhörtes Ereignis: Gabrielle (Isabelle Huppert) verlässt ihren Mann Jean Hervey (Pascal Greggory), um wenige Stunden später wieder zurückzukehren. Jean hatte gerade Zeit genug, den Abschiedsbrief zu lesen. Analytisch reflektiert der Verletzte im Off-Kommentar das Vorher und Nachher. Am Donnerstag davor hielten die Herveys noch ihren belebten und beliebten Salon: Spitze Konventionen, Klatsch, Gerede, Lästern mit irritierender E-Musik, unruhiger Kamera, Zooms, Schwenks, rasche Schnitte. Dann am Donnerstag danach der Eklat: Vor den Gästen attackiert Jean seine Frau und deren Liebhaber.
 
Bühnen- und Film-Regisseur Patrice Chéreau ist ein Meister, ein Kenner der Musik. Noch immer muss man seinen Bayreuth-Ring aus den Siebzigern (mit Pierre Boulez) erwähnen. Im Kino verstörte und fesselte er zuletzt mit der ungewöhnlichen wie rührenden Krankengeschichte "Sein Bruder" und dem provokant sexuellen Berlinale-Sieger "Intimacy". Nun fasziniert und erfreut ein erlesener Musikeinsatz ebenso wie die atemberaubende Stille nach dem Brief. "Gabrielle" ist ein Diamant, der in vielen Facetten schillert. Einige werden auch sagen "kalt", doch die nüchterne Betrachtung des Erzählers darf nicht mit den abgründigen Gefühlswelten der Menschen verwechselt werden. Kalt geht Gabrielle mit dem nüchternen Ehe-Arrangement um, liefert regelmäßig den ungeliebten Geschlechtsverkehr. Ein kurzer Gefühlsausbruch, ein Seitensprung zerstört komplett die Sicherheit des Mannes, er fürchtet, das "Prachtexemplar seiner Sammlung" zu verlieren. Ausnahmsweise ist es der Mann, der an emotionaler Kälte zerbricht.
 
"ER KAM NIE WIEDER ZURÜCK" lautet der letzte Satz. In Großbuchstaben, denn Chéreau arbeitet bei der Verfilmung von Joseph Conrads Erzählung "Die Rückkehr" auch expressiv mit der Schrift, ähnlich wie es Alexander Kluge in seinen TV-Features macht. Der Text des Abschiedsbriefes füllt in eigenwilliger Typografie den ganzen Bildschirm. Wie im Stummfilm. Dann die nicht direkt verständlichen Wechsel von Farbe zu Schwarzweiß. Aber vor allem sorgfältigste Bildkompositionen und das Spiel von Isabelle Huppert ("Die Klavierspielerin") und Pascal Greggory, die sich in gnadenloser Offenheit zerfleischen. Das Kunststück "Gabrielle" ist ein zeitloses, emotionales Drama und trotzdem eine sehr genaue Betrachtung der Zeitumstände (Handlungsjahr: 1912), etwa des emsigen Treibens einer sehr zahlreichen Dienerschaft. Und dann immer wieder das messerscharfe Sezieren eines Seitensprungs und seiner Bedingungen bei einem Paar, das "aus Feigheit, aus emotionaler Bequemlichkeit zusammen lebt."

Get Rich Or Die Tryin'


USA 2005 (Get Rich Or Die Tryin') Regie: Jim Sheridan mit 50 Cent, Adewale Akinnuoye-Agbaje, Joy Bryant 134 Min. FSK ab 16
 
Bei amerikanischen Kritiken gibt es die originelle Idee, Filme nach dem Preis zu bewerten, den man für sie zahlen sollte: Von über zehn Dollar für eine Abendvorstellung direkt zum Filmstart bis zu ein paar Dollar in Matinees Wochen später. Dieser Film ist eindeutig 50 Cent, nicht mehr, nicht weniger. Wobei 50 Cent ein Millionen-schwerer Star unter den Gangster-Rappern ist und sich für seine Film-Bio direkt den renommierten Regisseur Jim Sheridan  ("In America", "Im Namen des Vaters") leistete. Nach "Mein linker Fuß" nun mein linker, gefährlicher Gangsterrapper?
 
Wie aus einem jungen Waisen und Drogendealer ein Star wurde, erzählt Sheridan als eigenständiges Drama mit den typischen Elementen der Gangster-Rap-Szene: Schwere Halsketten und schwere Knarren, die leicht abgefeuert werden. Drogen, Gewalt und die Rap-Songs, die von all dem erzählen. Man muss 50 Cent nicht kennen und die autobiographischen Bezüge verstehen. Man sollte sich aber für diese Szene und deren Filme begeistern. Denn so viel Sheridan steckt leider nicht in "Get rich ...", dass man die Gangster-Ballade als weiteres Meisterwerk verbuchen könnte.
 
Emotional konzentriert sich das Mutter-Söhnchen-Drama auf die Selbstfindung von Marcus. Der Junge rapte schon immer, imitierte Run DMC. Aber als seine Mutter ermordet wird, dealt Marcus Drogen. Erst für coole Sportschuhe, dann für einen dicken Daimler, ein Stern im Ghetto. Von den Bossen wird er bevorzugt, schlägt sich auch tapfer im Krieg gegen die Kolumbianer um die Vorherrschaft im Drogenhandel. Als er für eine alte Liebe jemanden ohne Auftrag vom Boss erschießt, landet Marcus (mittlerweile gespielt von 50 Cent himself) im Knast und trifft mit Bama (Terrence Howard, der Rapper aus dem thematisch und dramaturgisch sehr verwandten "Hustle & Flow") auf seinen zukünftigen Manager. Doch die Songs von Marcus erzählen zu viel von Vergangenheit und den alten Kumpels. Sein Mentor und Boss Majestic (Adewale Akinnuoye-Agbaje) fühlt sich verraten und setzt den Zögling auf die Abschussliste. Doch der überlebt trotz neun Schusswunden und wird zum Star, den wir alle kennen sollten.
 
Im Gegensatz zu dem Bio-Pic von Eminem ("8 Mile") verläuft "Get rich" recht konventionell. Die Fans bekommen die bekannte Lebenslegende, die sie erwarten. Alle anderen könnten sich den mittelmäßigen Film auch für ein paar Cent auf Video oder DVD ansehen.

War'n Sie schon mal in mich verliebt?


BRD/Österreich 2005 () Regie: Douglas Wolfsperger mit Max Hansen, Max Hansen jr., Brigitte Mira, Volker Kühn 89 Min. OV (dk., dt., engl., schwed.) mit dt. UT
 
Douglas Wolfsperger, das ist der Regisseur der wunderbaren Kino-Nostalgie "Bellaria - So lange wir leben" und der völlig übersehenen, herrlich spöttischen Brauchtums-Doku "Die Blutritter". Nun hat er einen bemerkenswerten Menschen und dessen wechselhafte Karriere filmisch ausgegraben.
 
Max Hansen mag jüngeren Generationen bislang höchstens mit seiner Rolle des Kellners Leopold im Musical „Im weißen Rössl" (1930) bekannt sein. Doch der Antisemitismus der Nazis vertrieb ihn von Berlin zuerst nach Wien und dann in seine dänische Heimat, wo er wieder eine neue Karriere begann - unter Umständen, die so atemberaubend sind, wie vieles im Leben dieses in hellen und dunklen Tönen schillernden Künstlers.
 
Hansen wurde 1897 in Mannheim geboren. Seine Mutter, ein Varieté-Star aus Dänemark, gab ihn früh in eine deutsche Pflegefamilie, bei der der Junge in München aufwuchs. Aus seinem dortigen Schlafzimmerfenster schlich sich der jugendliche Max Hansen heimlich auf die Bühne des Simplicissimus-Kabaretts und feierte erste Erfolge als „kleiner Caruso". Anfang der Zwanziger Jahre zog es den angehenden Entertainer nach Berlin, wo er bei Max Reinhardt am Großen Schauspielhaus in die Lehre ging. Am Abend „tingelte" er und verdiente sich ein Zubrot im legendären „Kabarett der Komiker". Der talentierte Tenor und Entertainer Hansen komponierte auch selbst und trat von 1930-33 in zehn Tonfilmen auf.
 
Er war laut Zeitzeugen ein Künstlertyp, den es nicht mehr gibt: Multitalent, Superstar, Entertainer - trotzdem fast vergessen. Die Begeisterung erleben wir noch im Gesicht einer sehr alten Verehrerin, die unvergessliche Szenen sogar mit ein paar Tanzschritten noch einmal nachspielt. Er hatte eine größere Zahnlücke als Madonna, einen enorm schelmischen Blick und angeblich zahllose Affären. Brigitte Mira erzählte fast etwas beleidigt, weshalb sie wohl als einzige seiner Filmpartnerinnen keine Affäre mit Max hatte. Und Max war frech: In dem selbstkomponierten "Titelsong" des Films "War'n sie schon mal in mich verliebt?" macht er den "Herr Hitler" lächerlich, was Hansen schon früh zum Lieblingsfeind der Nazis machte. Beim "kontrollierten Rückzug" nach Wien entdeckt Hansen ganz nebenbei Zarah Leander als Bühnenpartnerin. 1938 ging die Flucht weiter nach Dänemark, 1961 starb er nach einem Schlaganfall.
 
Die einfühlsame Dokumentation "War'n sie schon mal in mich verliebt?" erzählt von vielen Dingen. Von der Persönlichkeit Hansens, die hinter den ganzen Geschichtchen immer privater wird, von der wilden Zeit der Zwanziger, der Künstlerszene und der Politik. Da sind nicht nur die nüchtern noch schmerzhaften Fakten eines weiteren durch Rassenwahn zerstörten Lebens. Selbst in den Interviews mit den sogenannten Verehrern lebt das Wegschauen weiter, wenn sie auch heute noch ihren "Max Hansen" keinen Juden sein wissen wollen. Hier ist Wolfsperger - vielleicht entgegen brave Doku-Ethiken - zu loben, wenn er wie schon in "Die Blutritter" notwendigerweise Menschen bloßstellt!

Der ewige Gärtner


Großbritannien, Kenia, BRD 2005 (The Constant Gardener) Regie: Fernando Meirelles mit Ralph Fiennes, Rachel Weisz, Danny Huston, Anneke Kim Sarnau, Billy Nighy, Pete Postlethwaite 128 Min. FSK ab 12
 
Ein Ausbruch filmischer Gewalt war der eindrucksvolle und erschütternde "City of God", eine Jugendgeschichte aus den Favelas. Nun inszenierte Fernando Meirelles mit dem "englischen Patienten" Ralph Fiennes und Rachel Weisz ("About you", "I want you") einen Liebesfilm voller großem Engagement um die Frage "Wegschauen oder Handeln". Die Schönheit afrikanischer Landschaften, die Romantik einer ungleichen Liebe und die mörderische Brutalität der Pharmakonzerne ergänzen sich zu einer beeindruckenden Roman-Verfilmung nach John le Carré.
 
Erst prallen ihrer Meinungen aufeinander, dann finden sich ihre Augen und schon bald ihre Körper. Der etwas steife Diplomat Justin Quayle (Ralph Fiennes) und die junge, engagierte Entwicklungshelferin Tessa (Rachel Weisz) stehen politisch auf zwei verschiedenen Seiten, doch sie lieben sich. So leben sie zusammen und gehen bei der Arbeit verschiedene Wege, die sich allerdings oft kreuzen. Tessa greift bei einem Botschaftsempfang einen afrikanischen Politiker wortgewandt an: Die öffentlich groß angekündigten medizinischen Apparate sind nie im Krankenhaus angekommen.
 
Eines Tages wird Tessa in Afrika umgebracht. Der Schmerz im Gesicht von Fiennes, die Momente unerträglicher Gefühle, mit denen Meirelles tief rührt, gehören zu den besonderen Qualitäten dieses Films. Doch die einfühlsamen, mit stilvoll expressiver Farbdramaturgie eingefangenen Emotionen sind nur einige von ihnen. Die Polizei verdächtigt Tessas Kollegen, den kenianischen Arzt Arnold Bluhm (Hubert Koundé) des Mordes. Doch als Quayle selbst Nachforschungen anstellt, findet er heraus, dass Bluhm schwul war und so nicht für die angebliche "Tat aus Leidenschaft" in Frage kommt. Der vorher staatskonforme Mann folgt immer mehr den Wegen seiner Frau, entdeckt auch die Machenschaften der Pharmaindustrie, die in Allianz mit korrupten kenianischen und englischen Politikern Medikamente günstig an ahnungslosen Menschen in Afrika testen. Und Quayle entdeckt zu spät das Besondere an seiner Frau und ihrer Liebe ...
 
John le Carré schrieb zu den erschütternden Hintergründen dieses romantischen Polit-Thrillers, im Vergleich zu dem, was wirklich passiert, wären sie wie eine nette Gute-Nacht-Geschichte. Carré war ein Insider in Geheimdienstkreisen und auch diese kriegen ihr Fett weg, wie die Politiker, die Diplomaten, die Wirtschaftbosse ... Zentral steht die Frage, wie und wem man helfen kann. Quayle steht anfangs wie viele dem unermesslichen Leid erstarrt gegenüber und überlässt das Helfen den Organisationen. Tessa half, wo sie könnte und wo sie gebraucht wurde - erkennt der trauernde Quayle und folgt auch darin ihren Spuren.
 
Im Gegensatz zu dem letzten beeindruckenden Le Carré-Film, der sarkastischen "Schneider von Panama" mit Pierce Brosnan, überzeugte Meirelles gleich mit einer spannenden Story, mit einer ganz besonderen Liebesgeschichte und einer Ästhetik, die wie eine Liebeserklärung an seine Figuren und an Afrika wirkt.
 

4.1.06

Ultranova


Frankreich/Belgien 2004 (Ultranova) Regie + Buch: Bouli Lanners mit Vincent Lecuyer, Hélène de Reymaeker, Marie du Bled, Michaël Abiteboul, Vincent Berlogey, Viviane Robert, Ingrid Heiderscheidt, Serge Larivière 86 Min.
 
Mit einem Knall wendet sich der Film "Ultranova" um Dimitri (Vincent Lecuyer), den stillen Angestellten einer Immobilienfirma. Das Auto liegt auf dem Dach, die Welt steht Kopf und der junge Mann sucht nach Orientierung. Das Vertraute, das Alltägliche, das zur Langeweile gewordene Gewöhnliche in einem neuen Licht zu zeigen, das ist eine der Qualitäten von "Ultranova", der oft skurrilen Geschichte des Belgiers Bouli Lanners.
 
Der Knall steht zentral und am Anfang sowie am Ende. Es ist ein Airbag, der völlig ohne Grund explodiert. Eine Nebenfigur meint dazu: Ein Zeichen! Dafür, dass man auf einem falschen Weg war. Dimitris Wege sind unspektakulär. Mit zwei Kollegen verkauft er Häuser auf der grünen Wiese, die in dieser Gegend oft als brauner, matschiger Acker erscheint. Der dürre, mürrische Verbrugghe (Vincent Berlogey) mit seinem Schnauzer macht sich mit seiner misogynen Dauerfresse unbeliebt. Der rundlichere Phil (Michaël Abiteboul) fängt die Spannungen mit Augenzwinkern auf und erfreut sich an den Kleinigkeiten des Lebens, etwas der Kellnerin in der Stammkneipe, die ganz sicher schwanger sei. Dann gibt es die beiden Mädchen einer Möbelhandlung, die sich für Dimitri interessieren. Das Mäuschen Jeanne (Marie du Bled) scheint ihn zu kennen und beglückt mit naiven Weisheiten, die sie aber nicht vor der eigenen Traurigkeit bewahren. Cathy (Hélène de Reymaeker) wird später Dimitris Freundin werden.
 
Alle diese Figuren haben ihre Geschichte und verändern sich vor unseren Augen. Eine große Sorgfalt wird den so genannten Randfiguren zuteil. Eigentlich beiläufige Szenen erweisen sich als Schlüssel zu komplexen Persönlichkeiten, das anscheinend Flache zeigt sich als märchen- oder traumhaft. Kamera und Musik (Jarby McCoy) verstärken diesen Effekt.
 
Wie auch bei den Brüdern Dardenne aus Lüttich, die schon zweimal die Goldene Palme gewannen ("Rosetta" und "L'enfant"), spielt auch in "Ultranova" von Bouli Lanners die Tristesse der Wallonie und ihrer Menschen eine Hauptrolle. Doch Tristesse ist eigentlich ein zu schönes Wort für die Trostlosigkeit zwischen Halden, Maaskanälen und öden Brachen. Es wäre gemein zu sagen, die Menschen haben sich ihrer Umgebung angepasst, deshalb leihen wir uns die Worte des Regisseurs Bouli Lanners: Er sieht seine Figuren wie ferne Himmelskörper, die einsam ihrer Bahnen ziehen. Deshalb auch die Titelkreation "Ultranova" in Anlehnung an den Sternentod mit einem Knall. Es kann immer mal passieren, dass der Druck von eingeschlossenem Schmerz und Hoffnungslosigkeit zu hoch wird. Dann explodiert etwa ein griesgrämiger und besonders aggressiver Kollege. Und irgendwann explodiert ohne Grund der Airbag im Auto.
 
Nach dem Preis der CICAE bei der Berlinale 2005 erhielt "Ultranova" im Dezember gleich den Preis der Internationalen Jury und den des Kritikerverbandes FIPRESCI beim "43.Festival Internacional de Cine Gijon", nach San Sebastian zu den wichtigsten Filmevents Spaniens.
 
Der Lütticher Regisseur Bouli Lanners (geb. 20. Mai 1965) trat bislang vor allem als Schauspieler in vielen wallonischen Filmen auf (u.a. "Les convoyeurs attendent", "Toto le héros" und "Pauline et Paulette"). Zurzeit hat der enorm talentierte Lanners einen Film in Postproduktion und einen weiteren in Vorbereitung.

Der letzte Trapper


Frankreich, Kanada, BRD, Italien, Schweiz 2004 (Le dernier trappeur) Regie: Nicolas Vanier mit Norman Winther, May Loo, Alex Van Bibber 101 Min. FSK o.A.
 
Vor allem die grandiosen Bilder des verschneiten Yukon, im Norden Kanadas, der Elchherden, des Huskie-Zuges, des Lebens in der Natur machen diese Mischung aus Dokumentation und Spielfilm zu einem großen Erlebnis. Kameramann Thierry Machado ("Mikrokosmos", "Nomaden der Lüfte") hatte den Trapper Norman Winther vor der Kamera, der sein eigenes Leben nachspielt. Winthers Erwerb, das Jagen, Fischen und Fallensteller wird immer schwieriger, weil immer mehr Wälder abgeholzt werden, und das Wild weiter zieht. So muss ihm Winther mit seiner Frau Nebraska folgen.
Die Begegnung mit einem riesigen Bären, der Einbruch in einen vereisten See, der Ausbruch der Schlittenhunde sind die spannenden Momente, mit denen Nicolas Vaniers halbdokumentarischer Spielfilm dramatisiert wird. Wobei das Leben in menschenleerer Natur bei bis zu minus 50 Grad wahrlich faszinierend genug ist.

Jarhead


USA 2005 (Jarhead) Regie: Sam Mendes mit Jake Gyllenhaal, Peter Sarsgaard, Lucas Black 122 Min. FSK ab 12
 
Den bizarr poetischen und realistischen "American Beauty" sowie den faszinierenden Vater-Sohn-Krimi "Road to Perdition" inszenierte Sam Mendes bislang. In seiner dritten Regie schickt er Jungstar Jake Gyllenhaal ("Donnie Darko") in den Irak-Krieg. Mit Sinnlosigkeit als zentralem Handlungselement und apokalyptischen Bildern eher eine psychologische Studie als Kriegsfilm. Nach "American Beauty" nun "American Army".
 
Schläge und Schikane gehören schon zur Ausbildung bei den us-amerikanischen Marines, dieser angeblichen Elite - auch in Sachen hirnlosem Drill. Folter gibt es in den eigenen Reihen bereits zur Begrüßung, dann schießen sie sich gegenseitig über den Haufen. Sie nennen sich "Jarheads", frei übersetzt "Hohlköpfe", leere Gefäße, die mit allem Möglichen gefüllt werden können. Und der nächste Auftrag für diese Hohlköpfe in Uniform liegt in Kuwait, wo Ölquellen vor Saddam Hussein geschützt werden müssen.
 
Anthony Swofford (Gyllenhaal) ist als Scharfschütze mit dabei. Zu den Marines meldete er sich, weil ihm nichts Besseres einfällt. Mit seinen "Kameraden" sieht er sich begeistert den Napalm-Angriff von "Apocalypse Now" an, wiederholt immer wieder das Glaubensbekenntnis an ein Gewehr, wird schieß-süchtig. Auch in Kuwait hinter der Front bleibt "Jarhead" lange ein lustiger Ausflug für große, dumme Jungs. Im langen Warten deutet sich der Wahnsinn von "Catch 22" an. Als die Truppe doch auf das Grauen trifft, kippt alles in surreale Bilder einer anderen Hölle. Weit um die brennenden Ölquellen regnet es pechschwarz, überall verkohlte Leichen, ein Pferd irrt in apokalyptischen Szenen herum.
 
Zwar deutet die Ausbildung Kubricks "Full Metal Jacket" an, zwar denkt man beim Football-Spiel mit Gasmasken in der Wüste an den anderen Kriegswahnsinn von "Three Kings", doch Mendes Sicht nach den autobiographischen Aufzeichnungen von Anthony Swofford ist eigen. Auch wenn der Off-Kommentar eines ernüchterten Swofford die Verbindung zu steigenden Ölpreisen legt, geht es vor allem um innere Zustände, für die überaus fesselnde Bilder gefunden wurden.

Sommer vorm Balkon


BRD 2005 (Sommer vorm Balkon) Regie: Andreas Dresen, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase mit Inka Friedrich, Nadja Uhl, Andreas Schmidt, Stefanie Schönfeld 110 Min.
 
Berlin, um die Ecke: Kathrin (Inka Friedrich) und Nike (Nadja Uhl) thronen auf dem Balkon ihres Eckhauses im Berliner Osten, genießen den Sommer, kippen die kleinen und großen Sorgen runter. Kathrins pubertierender Sohn Max will seiner ersten Liebe mit Joggingschuhen für 120 Euro imponieren. Ein absurder Preis, nicht nur für die Arbeitslose. Die kesse Nike düst als sehr mobile Altenpflegerin durch die sommerliche Stadt, trifft seltsame, tolle, verstörte Senioren, aber nicht den richtigen Mann. Und auch Kathrins Apotheker lächelt immer nur. Dann kommt das Schicksal mit einem 30-Tonner auf sie zugerast, kann gerade noch bremsen und als Fernfahrer entspringt der Hallodri Ronald (Andreas Schmidt). Der landet dann auch bald im Bett von Nike und bleibt einfach da.
 
Das bringt die Freundschaft aus dem Gleichgewicht: Kathrin steht mehr und mehr allein da, mit den Schulden, dem unglücklich verliebten Sohn und dem Alkohol, dem sie nicht widerstehen kann. Es sind zwei unterschiedliche Frauen, diese nicht mehr in jeder Hinsicht jungen Freundinnen. Nike gibt sich mit Berliner Schnauze und sehr kessem String frech. Sie macht Männer reihenweise an, während die stille Kathrin nur mit dem Apotheker flirtet.
 
Sie und ihr Leben schildert Dresen mit Bildern des Viertels voller filmischer Alltagspoesie, mit Wohnsilos hinter Erika in Balkonkästen. In Wort und Bild findet sich ein ganz stiller, feiner Humor: Bei einer Bewerbung erfährt Kathrin nebenbei, dass heute "Frauen ohne Kopf gesucht sind" - Schaufensterpuppen meinte der Dekorateur, doch der Autor Kohlhaase sagt mehr damit.
 
"Sommer vorm Balkon" brachte auch zwei bemerkenswerte Filmemacher zusammen: Der 1963 in Gera geborene Andreas Dresen gehört mit "Nachtgestalten" (1999), "Halbe Treppe" (2002) und "Willenbrock" (2005) zu den interessantesten jüngeren Regisseuren Deutschlands. Er studierte an der "Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg.
Der 1931 geborene Kohlhaase drehte noch selbst mit Konrad Wolf - eine andere Generation. Er schrieb und inszenierte zusammen mit dem Sohn des Schriftstellers Friedrich und dem Bruder des Geheimdienstlers Markus Wolf 1980 "Solo Sunny", vorher schrieb er mit "Berlin um die Ecke" einen der berühmten "Verbotsfilme". Passend zum Mauerfall gab es 1989 nach seinem Buch den Einbruchsfilm "Der Bruch" und letztlich den ganz jungen "Baby" von Philipp Stölzl.
 
Die Mischung aus dem leichten "Dresen-Realismus" und Kohlhaase meisterlicher Feder zaubert einen Hauch von Melancholie herbei, aufgesetzte soziale Larmoyanz bleibt fern. Heitere Liedchen von Strandbikinis und eine kleine Filmmusik begleiten diesen lauen Sommer. Die Freundinnen singen mit Nana Mouskouris: "Was kann uns schon geschehn, du weißt, ich liebe das Leben!" Oder um es mit Nikes einfach weisen Worten zu sagen "So ist das Leben - aber wirklich!"